Kapitel 16.1
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»Der Kontakt mit Rebellen der
fünften Zone ist strengstens
verboten. Jegliche Hilfe oder
Sympathie wird mit der Todesstrafe
geahndet. Alle Rebellen sind zum
Tode verurteilt, infolgedessen gilt
dieses Urteil ebenso für alle Anhänger,
die die Mauer überqueren und sich
den Rebellen anschließen.«
– aus dem Gesetz von Circle
zur Garantie des Friedens
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Am nächsten Tag weilte ich immer noch unter den Lebenden und es hielt mir auch keiner den Lauf einer Waffe an den Kopf, als ich aufwachte. Auch sonst verlief der Morgen recht ruhig, woraus ich schloss, dass Hale seinen Mund gehalten hatte. Das Problem war nur, dass ich nicht wusste, wie lange sein Schweigen anhalten würde. Er wusste von meinem und nun auch Niks Geheimnis. Das konnte also nicht mehr nur mich, sondern auch ihn in Schwierigkeiten bringen. Es war genau das passiert, was ich unbedingt hatte vermeiden wollen.
Diese Tatsache hatte in der Nacht meine Gedanken wie ein Magnet angezogen und mir kaum die Zeit zum Schlafen genehmigt. Immer wenn ich die Augen geschlossen hatte, war Niks enttäuschte Miene aufgetaucht oder ich hatte mir Szenarien ausgemalt, die hoffentlich nur schlechte Träume bleiben würden. Ich hatte mich unruhig hin- und hergewälzt und war bei jedem Geräusch von draußen aufgeschreckt, weil ich befürchtete, dass jemand kam, um mich zu verhaften.
Dementsprechend müde und niedergeschlagen schleppte ich mich aus dem Bett und zum Frühstück. Die ganze Zeit über hielt ich nach Nik Ausschau, entdeckte ihn aber nirgendwo – weder auf dem Flur des Schlafblockes noch in der Mensa.
Enttäuscht gab ich meine Suche vorerst auf und ließ mich mit meinem Tablett gegenüber von Benn nieder, der heute zu meiner Überraschung allein am Tisch saß, obwohl er meistens mit den anderen Rekruten aus Zone Drei und Trisha zusammen aß. Das Mädchen konnte ich auch nicht entdecken, sie war also vermutlich noch im medizinischen Zentrum.
»Guten Morgen«, begrüßte Benn mich. Seine dunkelblonden Wellen hingen ihm wirr in das für seine siebzehn Jahre noch recht jungenhaft wirkende Gesicht, welches zu einer munteren Miene verzogen war.
Ich entgegnete erst gar nichts, bekam aber sofort ein schlechtes Gewissen und grummelte dann ein »Morgen« vor mich hin.
Mir war Benns skeptischer Blick durchaus bewusst. Er lag auf mir, während ich lustlos mein Essen auf dem Teller massakrierte. Eigentlich waren die Mahlzeiten hier wirklich lecker, doch heute ließen mich der pure Anblick des dampfenden Rühreis und der bittere Geruch des Kaffees schaudern. Ich schüttelte mich angewidert und schob das Tablett von mir.
»Ist alles okay?«, fragte Benn mit gerunzelter Stirn, als er meine griesgrämige Miene eine Zeitlang betrachtete hatte. Einen Teil meiner Antwort konnte er sich wohl denken, und dennoch versuchte ich, die Wahrheit zu umschiffen.
»Ich ... ich habe nur keinen großen Hunger«, erklärte ich und sah mich erneut in dem gefüllten Raum um.
Benn öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich dann aber anscheinend anders und schloss ihn wieder. Kurz herrschte Stille, dann schien er sich dafür zu entscheiden, es vorerst dabei zu belassen, dass ich mit dem wahren Grund nicht rausrücken wollte.
»Du solltest etwas essen. Für deinen Einsatz brauchst du alle Kraft, die du kriegen kannst«, ging Benn auf meinen Vorwand ein. Als wollte er seinen Zuspruch verdeutlichen, schob er den Teller bis an die Kante des Tabletts heran, sodass mir der Geruch nun noch stärker in die Nase trat.
Ich überging sein Wohlwollen gekonnt. »Weißt du, wo Nik ist?«, fragte ich und es gelang mir, meine Stimme nicht allzu ungeduldig klingen zu lassen.
Benn wirkte ein wenig enttäuscht, zog dann aber eine ahnungslose Schnute und zuckte unschlüssig mit den Schultern. »Als ich aufgewacht bin, war sein Bett schon leer.«
»Hast du eine Idee, wo er vielleicht sein könnte?«, hakte ich nach.
»Wieso? Ist etwas zwischen euch vorgefallen?«, antwortete er mit einer Gegenfrage, die mich ungehalten ausatmen ließ.
»Wir hatten nur eine kleine Meinungsverschiedenheit«, erklärte ich knapp, untertrieb dabei aber maßlos. »Weißt du nun, wo er ist oder nicht?«
Der Junge überlegte kurz. »Er ist ein paar Mal Schießen gegangen, wenn er Zeit für sich brauchte, weil das wohl seine Gedanken klären würde ...«, stellte er die Vermutung auf, woraufhin ich mich schlagartig erhob.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass mir noch etwa eine halbe Stunde Zeit blieb, bevor meine Familie mit dem Supra in die vierte Zone zurückkehren würde. Ich musste mich richtig von ihnen verabschieden, denn seit gestern Abend hatte sich meine Situation hier in der zweiten Zone eindeutig zum Schlechteren gewandt und ich brachte es nicht übers Herz, dass die Trennung von ihnen im Streit passierte.
»Viel Glück bei deinem Einsatz, Clove!«, rief Benn mir hinterher, als ich mit dem Tablett bereits in Richtung Abgabe verschwand. Ich drehte mich um und lächelte ihn dankbar an, bevor ich die Mensa verließ.
Kaum hatte ich einige Schritte getan, protestierte mein Magen, dass ich das große Loch in ihm nicht gestopft hatte. Ich bereute, mir nicht wenigstens eine Gabel voll Ei hineingezwängt zu haben, doch nun war es zu spät, um noch einmal umzudrehen. Außerdem würde die Frau an der Ausgabe sowieso keine zweite Portion herausrücken. Mir blieb nichts anderes übrig, als das nagende Gefühl des Hungers beiseitezudrängen.
Der Supra verließ um acht Uhr die Station, kurz danach mussten Nik und ich uns im Hauptgebäude einfinden, um mit Commander Dax die Mission des heutigen Einsatzes zu besprechen. Mir graute es bei dem Gedanken, Dax unter die Augen zu treten, denn bei meinem unzureichenden Talent, die Wahrheit zu verbergen, konnte ich nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass man mir meine Nervosität nicht sofort ansehen würde.
Doch darüber würde ich mir auch noch später Gedanken machen können. Nun war es erst einmal wichtiger, Nik zu finden, weshalb ich in einen raschen Laufschritt verfiel und geradewegs auf den Schießplatz zusteuerte.
Schon aus der Ferne suchte ich mit zusammengekniffenen Augen die einzeln abgetrennten Plätze ab, entdeckte jedoch niemanden. Der Platz schien wie ausgestorben und ich wollte schon enttäuscht kehrtmachen, als eine Bewegung an den Zielen meine Aufmerksamkeit erregte. Als ich genauer hinsah, erblickte ich mit Erleichterung den dunklen Schopf und die breiten Schultern. Nik stand direkt vor einer der Scheiben und untersuchte genauestens die Markierungen, die die Laserpatronen hinterlassen hatten.
Ganz vertieft in seine Analyse, bemerkte er mein Kommen nicht. Und mein Herz schlug bei seinem recht friedlich wirkenden Anblick ein wenig schneller.
Zögerlich trat ich an den Platz, der zu dem Ziel gehörte und wartete geduldig darauf, dass Nik mit seiner Einschätzung fertig wurde.
Nach einigen Minuten, die mir die Hoffnung gaben, Nik wäre nicht mehr allzu sauer auch mich, löschte er per Knopfdruck die Markierung und wandte sich um. Als er mich sah, blieb er so abrupt und überrascht stehen, dass man meinen könnte, er stünde nicht mir, sondern einer Gruppe bewaffnetet Wächter gegenüber. Sofort rutschte mir das Herz in die Hose und meine Entschlossenheit, mit ihm zu sprechen, schwand dahin.
Sein Blick durchbohrte mich, während er mit finsterer Miene und energischen Schritten auf mich zulief. Den Ärger, den er ausstrahlte, konnte ich selbst auf die fünfzig Meter Entfernung spüren und mit jedem Schritt schien er nur noch stärker zu werden. Seine Distanziertheit versetzte mir erneut einen Stich, doch ich strengte mich an, meine Enttäuschung nicht allzu sehr zu zeigen.
»Was willst du?«, kam Nik sofort zur Sache, als er mich noch nicht einmal ganz erreicht hatte.
Er tauchte unter der hölzernen Begrenzung des Schießstandes hindurch.
Eben hatten mich die blauen Augen wie ein eisiger Spieß durchbohrt, doch jetzt würdigte er mich keines Blickes und nahm stattdessen mit übertriebener Gleichgültigkeit seine Waffe auf. Ich schluckte die schnippische Entgegnung herunter, die mir auf der Zunge lag und konzentrierte mich stattdessen auf den Grund, warum ich eigentlich hier war.
»Nik, wir haben ein Problem«, sagte ich und als er nicht darauf einging, fügte ich mit Nachdruck hinzu: »Ein gewaltiges Problem!«
»Falsch. Ich habe kein Problem, sondern du und ich will nichts davon wissen«, entgegnete er so beiläufig, als würden wir uns über das Wetter unterhalten. Dennoch machte ich deutlich den gereizten Unterton in seiner Stimme aus.
Es wäre sicherlich ratsam gewesen, ihn in Ruhe zu lassen, doch dafür hatten wir keine Zeit mehr. Der Countdown unseres Verrats lief ab und ich konnte nicht mit Gewissheit sagen, wann er sein Ende erreichen würde.
Weil ich wusste, dass vernünftiges Zureden Nik nicht dazu brachte, mir seine volle Aufmerksamkeit zu schenken, entschloss ich mich dazu, einfach mit der Tür ins Haus zu fallen.
»Man hat uns gehört«, platzte ich heraus, als er gerade den Abzug seiner Waffe tätigte. Er zuckte dabei zwar nur leicht zusammen, dennoch verzog er den Lauf und verfehlte sein Ziel um einige Zentimeter – das wusste ich, auch ohne genau hinsehen zu müssen.
Erstarrt hielt er die Waffe weiterhin im Anschlag. »Wer?«, fragte er knapp. Seine Stimme klang rauer, als könnte er die Antwort schon erahnen.
Ich atmete tief durch. »Arden.«
Nik schloss resigniert die Augen und ließ die Waffe sinken. »Wie viel hat er mit angehört?«
»Alles.«
Er hielt gerade so lange inne, dass ich glaubte, er sei zu Stein erstarrt, knallte dann die Waffe aber so heftig vor sich auf die Ablage, dass ich vor Schreck heftig zusammenzuckte und einen Schritt zurückwich. Er drehte sich schwungvoll zu mir um und funkelte mich intensiv an.
»Das war genau das, was ich befürchtet hatte, Clove!«, fauchte er. »Jetzt werden wir wegen Hochverrats verhaftet und hingerichtet! Bist du jetzt zufrieden?«
»Ich habe das nicht mit Absicht getan! Es ist sowieso schon alles geregelt. Ich habe Hale klargemacht, dass er da genauso drinsteckt wie wir. Er weiß schließlich auch von den Tests, zu Dax kann er also nicht rennen«, erwiderte ich, darum bemüht ruhig zu bleiben.
Ich hoffte, diese Nachricht würde Nik ein wenig milder stimmen, doch das Gegenteil passierte. Seine Lippen nahmen einen spöttischen Zug an und er schüttelte ungläubig den Kopf.
»Du verstehst es nicht, Clove. Hale hat etwas, was wir beide nicht haben.« Ohne auf meine Nachfrage zu warten, sprach er weiter. »Er hat Verbindungen zum Militär, die ihm seine Sicherheit gewährleisten oder glaubst du, seine Eltern würden einfach mit ansehen, wie man ihn abführt? Hale ist vielleicht nicht die hellste Leuchte unter den Wächtern, aber selbst er kommt irgendwann darauf, dass sie ihm nichts anhaben können. Er steht am Ende vielleicht noch als Held da, der zwei Verräter enttarnt hat. Die aus der zweiten Zone schlucken deren Ansichten doch schon mit der Muttermilch – sie würden sein Wort über unseres stellen!«
Der Sinn hinter Niks Worten entfaltete sich äußerst langsam. Sie sickerten wie dickflüssiges Harz zäh in meinen Verstand und lösten Bestürzen in mir aus.
»Du meinst, er verrät uns trotzdem«, stellte ich kleinlaut fest und sprach damit das Offensichtliche aus. Sofort kam ich mir dumm vor.
Als Antwort streckte Nik mir nur seine Hände vorwurfsvoll entgegen. Dann rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen, als hätte ihn plötzlich Müdigkeit übermannt.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich schuldbewusst.
Nik ließ kraftlos die Hand sinken. »Woher soll ich das wissen? Abhauen wäre wohl die beste Lösung ...«, war sein einziger Vorschlag und ich war mir nicht sicher, ob er ernstgemeint war oder nicht.
Mein Herzschlag hatte sich in den letzten Minuten so sehr beschleunigt, dass ich das Gefühl hatte, es würde mir nun gleich aus der Brust springen.
»Aber vielleicht haben wir Glück und –«
»Und was? Hale hält die Klappe? Das kannst du doch nicht wirklich annehmen, so naiv bist du nicht! Dieser Idiot würde alles tun, um uns von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Die Tatsache, dass wir beide aus niederen Zonen stammen und es dazu auch noch in Dax' Einheit geschafft haben, regt ihn auf. Wenn wir weg sind, bekommt er eine zweite Chance, sich einen der Plätze zu erkaufen. Vielleicht legen seine Eltern noch ein paar Marken drauf, damit Dax dieses Mal zustimmt. Oder vielleicht wenden sie sich auch direkt an den General ...«
An der Art und Weise, wie Nik mit mir sprach, erkannte ich, dass er sich große Sorgen machte.
»Wir sollten darauf hoffen, dass Hale es bisher noch nicht geschnallt hat. Das ist die einzige Erklärung, warum wir noch hier stehen und uns unterhalten können. Wenn wir Glück haben, bleibt das so, bis wir den Einsatz hinter uns gebracht haben«, erklärte Nik ruhiger und mit einem Blick auf die Uhr. »Danach kümmere ich mich um ihn.«
Ich schluckte bei dem emotionslosen Tonfall, den er anschlug. Das klang überhaupt nicht nach dem Nik, der mich so oft zum Lachen gebracht hatte und allen Menschen gegenüber aufgeschlossen war, sondern nach einer dunkleren Seite, die in ihm schlummerte und sich nun nach außen kehrte.
»Was hast du vor?«, fragte ich, während sich ein ungutes Gefühl in meinem Magen zu einem schmerzhaften Knoten zusammenzog. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Antwort überhaupt hören wollte.
»Deine Probleme ausbaden«, erklärte er knapp und mit grimmiger Miene. Dann schnappte er sich seine Waffe und ließ mich einfach stehen, ohne einen weiteren Blick auf mich zu vergeuden.
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