Kapitel 14.1
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»Jeder Rekrut hat am Ende seiner
Ausbildungszeit den Eid der
Wächterabzulegen, der ihn dazu
verpflichtet, der Regierung und seinen
Vorgesetzten Gehorsam zu leisten.
Die Vereidigung findet in Zone Eins
statt und wird von den vier
Regierungsmitgliedern bezeugt.«
– aus dem Gesetz von Circle
zur Garantie des Friedens
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Wie lange ich seitlich auf meinem Bett lag, wusste ich nicht. Es war mir auch egal, denn es hätte keinen Unterschied gemacht, ob es Minuten oder Stunden gewesen wären. Ich tat sowieso nichts anderes, als die Vorhänge zu hypnotisieren, die schon lange zu einer blau-grünen Masse verschwommen waren.
Weder die Schmerzen noch meine Umwelt nahm ich richtig wahr. Dafür spürte ich den Druck auf meiner Brust und den wirbelnden Sturm meiner eigenen Schuldgefühle umso mehr. Ständig kreisten meine Gedanken um das Mädchen und wie ich einfach nur dagestanden und nichts getan hatte.
Ihr Gesicht hatte sich in meine Netzhaut gebrannt.
Die panischen Gesichtszüge, der flehende Ausdruck in ihren Augen, der stumme Hilfeschrei, der immer wieder ihren Mund verlassen, aber mich nie wirklich erreicht hatte. Alles war da, als läge sie mir direkt gegenüber.
Ich spürte, wie vereinzelt kommende Tränen aus meinen Augen traten und mir über Nase und Schläfe liefen.
Das Mädchen war vermutlich nur noch ein Schatten ihrer selbst, entweder bereits tot oder kurz davor. Ich versuchte mir einzureden, dass das Ende für sie Erlösung bedeuten würde, doch meinen eigenen Worten konnte ich nicht annähernd Glauben schenken. Dafür war der Weg zum Tod zu lang und zu qualvoll, als dass ich daran irgendeinen positiven Gedanken finden konnte. Und möge er mir noch so viel Trost spenden.
Sporadisch versuchte sich meine Vernunft an die Oberfläche zu kämpfen und mir zuzurufen, dass ich nichts dagegen hätte ausrichten können. Doch die Schuld lastete mit einem zu großen Gewicht auf meiner Brust und drückte das befreiende Gefühl zurück in die Untiefen meines Kopfes.
Meine Augen brannten, die Erschöpfung zerrte an meinem Willen wach zu bleiben. Und obwohl ich wusste, was mich auf der schwarzen Leinwand meiner geschlossenen Lider erwarten könnte, schaffte ich es nicht mehr, sie offenzuhalten und glitt schließlich in die Bewusstlosigkeit hinab.
Es fühlte sich an, als hätte man mir nur eine Minute Ruhe gegönnt, als die Klauen der Realität an dem warmen, angenehmen Mantel zerrten, der sich dunkel und schützend für den kurzen Moment über mich gelegt hatte. Sie stellten sich als die großen Hände von Nik heraus, der unnachgiebig an mir rüttelte.
»Whitefield? Whitefiled!«, drang die sonst so beruhigend wirkende Stimme des Jungen durch den dunklen Schleier, doch jetzt klang sie schrill und unangenehm.
Am liebsten hätte ich ihn ignoriert und mich wieder hinter der sicheren Mauer des Verdrängens verschanzt, doch er ließ nicht von mir ab. Auch nicht, als ich halbherzig nach ihm schlug.
Ein genervtes Brummen drang aus meiner Kehle und ließ meine sensiblen Schädelknochen so sehr vibrieren, dass sich ein leichter Kopfschmerz breitmachte.
Ob das der Grund dafür war, dass Nik aufhörte mich zu traktieren, oder ob er es als genügende Reaktion meinerseits erachtete, wusste ich nicht. Doch das Schütteln und ständige Quasseln fand ein Ende und darüber war ich froh. Ächzend rollte ich mich auf den Rücken und blinzelte Nik entgegen. Sofort flutete das Tageslicht vereint mit der Grelle der Neonlampen meine Sinne, weshalb ich schnell beide Hände über mein Gesicht legte, um meine Augen davor zu schützen.
Dem hohen Lichteinfall zufolge musste die Sonne schon vor mehreren Stunden aufgegangen sein, was bedeutete, dass ich wohl doch etwas Erholung abbekommen hatte. Jedoch schien es nicht annähernd ausgereicht zu haben, um die Anstrengung der letzten Nacht zu vertreiben.
Meine Beine waren so schwer wie zwei dicke Baumstämme, meine Oberschenkel brannten vom Rennen, die Arme zu heben breitete mir Schwierigkeiten und mein Nacken war steif. Zudem überzog eine dünne Schweißschicht meinen ganzen Körper und ließ mich ohne die schützende Wärme der Decke stark frieren.
»Wie geht es dir?«, fragte Nik sanft und nun, da ich wach war, klangen seine Worte auch nicht mehr so störend und unangenehm in meinen Ohren.
Ich konnte deutlich die Besorgnis heraushören, auch wenn er sich bemühte, es nicht durchklingen zu lassen.
Mit einem langen Seufzen nahm ich die Hände vom Gesicht und sah zum Bettende, wo Nik sich niedergelassen hatte. Eine Antwort von meiner Seite war nicht notwendig, denn in seiner Miene spiegelte sich deutlich wider, dass er sie bereits kannte.
»Hast du Schmerzen?«, fragte er, woraufhin ich laut schnaubte.
Mein Körper, der sich wie gerädert anfühlte, war mein geringstes Problem. Viel mehr Sorge bereiteten mir die Panik und die Schuld, die vereint in den Schatten meiner Erinnerungen lauerten und nur darauf warteten, bei dem leisesten Gedanken an das Erlebte, hervorzuspringen und die mühsam errichtete Schutzwand vor meinem eigenen Ich entzweizuschlagen. Die Schmerzen waren mir beinahe schon gleichgültig, während sich die Dunkelheit in mir wie ein Dämon von der Angst nährte und stetig zu einem unbezwingbaren Monster heranwuchs.
»Du siehst wirklich nicht gut aus, Clove«, sagte Nik. Bei der Erwähnung meines Namens, blickte ich auf.
Wieder entfuhr mir ein Schnauben. »Danke«, erwiderte ich ironisch.
»Du weißt, was ich meine.«
Ja, ich wusste, was er meinte. Dennoch versetzte es mir einen Stich.
»Vielleicht solltest du die Auswahl doch ausfallen lassen und noch eine Nacht hierbleiben«, schlug er vor.
Alarmiert setzte ich mich auf. Niemals würde ich eine weitere Nacht auf dieser Station verbringen, mit dem Wissen, dass zwei Stockwerke tiefer Menschen ums Leben kamen, weil an ihnen grausame Tests durchgeführt wurden.
»Nein!«, stieß ich heftig hervor.
Nik hob überrascht die Augenbrauen und setzte schon zu einer Frage an, doch ich redete schnell weiter.
»Es ist nur ...« Ich fand nur schwer einen Vorwand. »Ich bin einfach nur ein bisschen müde. Letzte Nacht habe ich nicht viel geschlafen.«
»Hattest du wieder einen Alptraum?«, hakte er weiter nach.
»Ja, sowas in der Art«, stoppte ich ihn nuschelnd. Ich konnte es wirklich nicht gebrauchen, dass er mir Löcher in den Bauch fragte, auch wenn er es nur gut meinte.
Nik schüttelte den Kopf. »Das ist alles, was du mir lieferst?«
Verwundert sah ich ihm in die Augen, als ich in seiner Stimme etwas ausmachte, was ich noch nie bei ihm gehört hatte: Er klang verletzt.
Mein Magen zog sich zusammen, denn ich wusste, dass Nik es nicht verdiente, so von mir abgewiesen zu werden. Ich verdankte ihm mehr, als ich ihm zurückgeben konnte. Ich seufzte ergeben, denn anders schien ich den Druck auf meiner Brust, der immer größer wurde, nicht loszuwerden.
Die vergangenen Stunden hatte ich bereits darüber nachgedacht, Nik in dieses Geheimnis einzuweihen. Er war der Einzige hier in der zweiten Zone, dem ich vertraute.
Doch was würde er dazu sagen? Könnte er mir glauben, dass Menschen in gläsernen Särgen lagen und absichtlich den schlimmsten Qualen ausgesetzt wurden, nur um an möglichst viele Testergebnisse zu gelangen? Vermutlich nicht. Auch ich fände nicht ausreichend Fantasie, um dem Ganzen Glauben zu schenken, hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen.
Beweise hatte ich keine und das trug nicht sonderlich zur Glaubwürdigkeit dieser Geschichte bei.
Vielleicht würde es mir einen Teil dieser höllischen Last von meinen Schultern nehmen, wenn ich mich ihm anvertraute. Doch, obwohl mein schwächelndes Verlangen nach einem Eingeweihten bereits die Arme ausbreitete, fasste ich einen Entschluss. Ich würde Nik in etwas hineinziehen, von dessen Ausmaßen ich keine Ahnung hatte. Ich wusste nicht, wie gefährlich dieses Wissen war noch was für Konsequenzen sich ergaben, sollte man erfahren, dass ich Zeuge davon war. Ich würde den Mund halten. Vorerst.
Als ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Nik richtete, spürte ich, dass sich die Luft zwischen uns durch mein Schweigen mit einer gewissen Spannung gefüllt hatte. Der Junge stierte mit durchdringendem Blick zu mir herüber, versuchte in meiner Mimik zu erkennen, was genau in mir vorging.
»Ich ...«, hob ich an, um ihm eine Ausrede aufzutischen, da kam mir eine Krankenschwester zuvor.
»Würden Sie bitte draußen warten, junger Mann? Ich muss Miss Whitefield noch einmal untersuchen, bevor ich sie guten Gewissens aus unserer Aufsicht entlassen kann.«
Unter anderen Umständen hätte es mich verärgert, dass diese Frau so unverschämt und selbstverständlich in das Gespräch platzte, doch jetzt stieß ich erleichtert die angehaltene Luft aus.
Nik wusste, dass ich ihm etwas verheimlichte. Er hätte mir kein Wort abgenommen, selbst wenn meine Lüge wohlüberlegt war und keine Schwachpunkte aufweisen würde. Dafür kannte er mich mittlerweile zu gut. Nik allerdings schien der Gedanke, die Krankenschwester mit einem Tritt rückwärts zurück auf den Gang zu befördern, immer mehr zu gefallen. Kiefermahlend erhob er sich vom Bett, bedachte die Frau mit einem finsteren Blick und verließ dann mit einem undefinierbaren Ausdruck auf dem Gesicht zögerlich das Separee.
Ich vermied es, ihm in die Augen zu sehen.
Teilnahmslos ließ ich die folgende Untersuchungsprozedur über mich ergehen. Die Schwester scannte mich mit dem mir bereits bekannten Gerät. Sie nickte, wiegte dann skeptisch den Kopf hin und her – immer wieder.
»Sie hatten wirklich Glück. Das andere Mädchen hat es deutlich schlimmer erwischt«, durchbrach die Schwester unvermittelt die Stille und legte das Gerät beiseite.
Mein Blick schoss augenblicklich in die Höhe. »Was haben Sie gerade gesagt?«, fragte ich scharf und musterte sie alarmiert. Hatte man mich vielleicht doch dort unten oder auf meiner Flucht zurück auf die Station entdeckt? War diese Frage ein Test?
»Welches Mädchen?«, hakte ich eine Spur zu ungeduldig nach.
Die Schwester schien verwirrt und vergaß für einen Moment, was sie tun wollte.
»Das andere Mädchen ... Miss Townsend ...«, stotterte sie.
Der Stein, der mir vom Herzen fiel, musste bis in die vierte Zone zu hören sein. Innerlich verpasste ich mir eine Ohrfeige. Natürlich meinte sie Trisha!
Hätte man mich beim Verlassen des Untergeschosses gesehen, würde ich nun nicht entspannt in meinem Bett liegen – ich hätte es vermutlich nicht einmal bis hierhin geschafft. Oder?
»Ach ja ...«, sagte ich geistesabwesend und mit reichlicher Verzögerung, was mir ein erneutes irritiertes Stirnrunzeln und einen skeptischen Blick einbrachte. Ich versuchte, so dreinzublicken, als wäre nichts an meinem Verhalten befremdlich gewesen.
Nach einer Unendlichkeit kam sie mit ihren Untersuchungen endlich zum Ende.
»Die Genesung der angegriffenen Organe schreitet Dank des Serums gut voran, jedoch hat ihr Körper seltsamerweise noch nicht ganz zu seiner alten Fitness zurückgefunden, weshalb ich sie gerne noch eine Nacht hierbehalten möchte.«
Ich verschluckte mich beinahe an meiner eigenen Spucke, als ich das hörte. Jedoch versuchte ich, Ruhe zu bewahren. Nik hatte mir bereits klargemacht, dass ich überhitzt reagierte, wenn mir etwas nicht passte und es hatte bisher zu keinen guten Ergebnissen geführt.
Ich setzte mein charmantestes Lächeln auf, setzte mich aufrecht hin und versuchte dabei nicht ganz so kraftlos zu wirken, wie ich mich eigentlich fühlte.
»Mir geht es gut. Mein Körper erholt sich auch ohne Ihre Beobachtung«, versicherte ich der Schwester.
»Das Protokoll besagt –«, hob sie an, doch mit Ungeduld unterbrach ich sie.
»Es ist mir egal, was das Protokoll besagt!«, brach es aus mir heraus, weshalb die Schwester erschrocken zusammenzuckte.
Himmel, das war wirklich umständlicher, als ich erwartet hatte ...
»Hören Sie ...«, fuhr ich ruhiger fort. »Ich muss zu dieser Auswahl. Ansonsten verliere ich vielleicht die Chance auf einen wirklich sehr guten Job.«
Ich hoffte, dass sie ein wenig Mitleid aufbringen konnte und mich gehen ließ.
»Ich kann Sie eigentlich nicht entlassen, solange Sie nicht vollständig genesen sind«, bestand sie auf ihren dämlichen Vorschriften und ließ den letzten Rest meines freundlichen Umganges in der Luft verpuffen.
»Ich kann Ihnen gern beweisen, wie gut es mir geht«, sagte ich mit drohendem Unterton, schob mich an den Rand meines Bettes und hob dann zur Untermalung meine rechte Faust. Das Ganze dauerte mir zu lange und ehrlich gesagt, war ich nie groß auf der höflichen Schiene gefahren.
»Schon gut ...«, erwiderte die Schwester mit erhobenen Händen.
Als hätte Nik nur darauf gewartet, schob er den Vorhang zur Seite und stellte sich schützend zwischen meine Faust und die Schwester, die sogleich erschrocken einen hektischen Abgang machte.
»Das lassen wir mal schön sein«, sagte er mit tadelndem Blick, jedoch zuckten seine Mundwinkel belustigt.
»Spielverderber ...«, murmelte ich.
»Es ist schön, dass du deinen Humor zurückhast.«
Während sich meine vorgetäuschte Energie schlagartig aus dem Staub machte, hievte ich meine immer noch etwas trägen Beine über die Bettkante.
»Mal ehrlich, was hast du getan, dass die arme Frau so verstört vor dir flüchtet?«, schnaubte er und deutete mit dem Daumen hinter sich.
Ich zuckte nur mit den Schultern und beließ es bei einem milden Lächeln. Ich hatte Angst, dass sich mit jedem gesprochenen Wort, Niks neu gewonnene Unbedarftheit sofort in Luft auflöste.
Er hatte sich anscheinend erst einmal mit meinem mangelnden Erklärungswillen zufriedengegeben. Das wollte ich auf keinen Fall mit einer unbedachten Aussage ändern.
Nik beobachtete meine schwerfälligen Bewegungen mit skeptischem Blick. »Bist du sicher, dass du dich selbst entlassen willst?« Offenbar hatte er alles mit angehört.
Ich nickte nur.
»Gut«, sagte er und schien meinen Entschluss zu akzeptieren. »Dann müssen wir langsam los, wenn wir die Auswahl nicht verpassen wollen.«
Ein Ruck ging durch seinen Körper und er kam zu mir, um mir aus dem Bett zu helfen.
Mehrmals versicherte er sich, ob ich beim Ankleiden ohne Hilfe zurechtkam. Und ich, stolz wie ich war, bestand darauf, um mir wenigstens noch ein wenig Würde zu bewahren.
So trat ich nach mehreren umständlichen, aber beharrlichen Versuchen und einigem Schwanken in saubere Sachen gekleidet auf den schmalen Gang, wo Nik mit verschränkten Armen geduldig wartete.
Sein typisches Grinsen bildete sich auf seinen Lippen, als er mich sah. Sofort trat er zu mir und machte Anstalten, mich zu stützen, doch ich wies ihn von mir. Ich konnte allein gehen, auch wenn meine Beine kaum mein Körpergewicht tragen wollten.
Meine Muskeln zeigten mir bei meiner Selbstüberschätzung allerdings einen Vogel. Denn kaum war ich zwei Schritte gegangen, quittierten sie ihren Dienst und ich sackte nach unten. Ein leises Quieken entfuhr mir, doch die erwartete Ankunft auf dem Boden der Tatsachen blieb aus.
Nik umklammerte mich und verfrachtete meinen wackeligen Körper zurück in den Stand. Sobald er sicher war, dass mich meine Beine nicht noch einmal im Stich ließen, rückte er ein Stück von mir ab, jedoch immer bereit, mich erneut vorm Fallen zu bewahren.
»Arbeitest du immer noch besser allein?«, fragte er, das Grinsen in seinem Gesicht wurde breiter.
»Ach, halt doch den Mund!«, gab ich schnippisch zurück. Dennoch stahl sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen.
Mir war – genau wie ihm – bewusst, dass ich ihn brauchte. Und zwar nicht nur, um aufrecht stehen zu bleiben.
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