Kapitel 1.2
Der Rückweg gestaltete sich umständlicher mit den Fleischbündeln unter einem Arm. Das zusätzliche Gewicht brachte mich mehrmals aus dem Gleichgewicht, doch ich sah es einfach als Übung an.
Als ich zu Hause ankam, war es bereits früher Nachmittag. Kaum war ich durch die Tür gegangen, ertönte die Stimme meiner Mutter aus der Küche und gleich darauf tauchte ihr Gesicht im Türrahmen auf.
»Du hast ziemlich lange gebraucht, ist dir etwas passiert?«, fragte sie mit schriller Stimme und klang ziemlich besorgt. Selbst nach sechs Jahren hatte sie ihre Ängste nicht ablegen können. Ich konnte mich zwar sehr gut selbst gegen die meisten Gefahren hier in Circle verteidigen, doch ich war der festen Überzeugung, dass sie meinen Selbstverteidigungskünsten nicht traute.
»Nein, Mum. Mir geht's gut.«
Sie atmete kräftig aus und schloss erleichtert die Augen. Ich trat zu ihr, küsste sie auf die Schläfe – sie ging mir nur bis zur Nasenspitze – und drückte ihr dann die Fleischbündel in die Hand.
»Danke«, murmelte sie und machte sich gleich daran, die Stücke aus den Leinentüchern zu wickeln.
Ich stellte mich währenddessen an die Spüle, um meine Hände zu waschen. Der Dreck vom Waldboden floss in das Waschbecken und meine Haut brannte leicht. Ich nahm mir ein Stück Stoff aus einem kleinen Schränkchen an der Wand sowie eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit und begann, die verletzte Haut an meinen Knien zu säubern und zu desinfizieren. Sobald ich damit fertig war, widmete ich mich meinen Handballen.
»Wie viel hat es heute gekostet?«, fragte Mum gerade, als sie das erste Stück in drei gleichgroße Teile schnitt.
»Oh, das habe ich vollkommen vergessen«, sagte ich, legte den Lumpen zur Seite und fingerte die Wertmarken aus meiner Hosentasche, ganz darauf bedacht sie nicht zu ruinieren. Ich reichte ihr die Zettel. Sie ließ verwundert das Messer sinken, nahm sie mir ab und zählte die Marken.
»Hatte ich dir nicht fünf Marken mitgegeben?« Verwirrt zog sie die Augenbrauen zusammen.
»Äh – ja.« Vollkommen auf meine Hände konzentriert beugte ich mich weiter über das Waschbecken und versuchte penibel, die kleinen Steinchen aus den Wunden zu waschen, doch meine Mutter ließ nicht locker.
»Gott, Clove! Du hast Schulden gemacht? Warum hast du denn nicht weniger mitgebracht, wenn es nur dafür gereicht hätte?«, rief sie und warf aufgebracht die Hände in die Luft.
Sofort richtete ich mich wieder auf und trat sicherheitshalber einen Schritt zurück. Mit dem Messer in der Hand traute ich meiner Mutter nicht, vor allem wenn sie aufgebracht war.
»Ich wollte es ja, aber Maddox hat nicht mit sich reden lassen. Er hat es mir praktisch aufgezwungen. Aber keine Angst«, sagte ich und hob abwehrend die Arme, »Mads würde niemals offene Beträge gegen uns und für seine Zwecke verwenden. Er hilft uns immer, wenn Not am Mann ist, das weißt du doch. Außerdem helfe ich ihm beim Jagen und arbeite so das Fleisch ab, falls es dich beruhigt.«
Meine Mutter sah mich für einen weiteren Moment warnend an, dann steckte sie das Geld in die Tasche ihrer Schürze und wandte sich wieder dem Wild zu. »Ist das denn so eine gute Idee?« Ihr skeptischer Tonfall ließ mich aufblicken.
»Was meinst du?«
»Die Prüfung ist doch bald. Hast du denn überhaupt Zeit arbeiten zu gehen? Ich meine, musst du denn nicht trainieren?« Sie schien wirklich besorgt.
Das kam überraschend. Ich zog die Augenbrauen hoch, musste aber lächeln. »Keine Angst, Mama. Das wird eine gute Übung fürs Schießen sein«, erwiderte ich, gab ihr nochmal einen Kuss und verließ dann die Küche.
»Ich habe dir eine Portion des Essens warmgehalten«, rief sie mir hinterher, woraufhin ich mit einem »Du bist die Beste!« antwortete.
Ich stieg die Treppe hoch, übersprang die dritte Stufe und trat durch die einzige Tür, die es hier im Obergeschoss gab. Der Dachboden war nicht sonderlich groß, aber geräumig genug, um zwei Matratzen und einen kleinen Schrank zu beherbergen. Das Bett von Cori war jedoch die meiste Zeit über leer, denn er liebte es, bei mir zu schlafen und ich konnte und wollte ihm diesen Wunsch einfach nicht abschlagen.
Um mich endlich aus dem verschwitzten Shirt schälen zu können, zog ich die oberste Schublade des Schrankes auf und kramte schnell eines der wenigen Oberteile heraus, die ich besaß. Ich zog es mir über, dann ging ich zurück nach unten, wo bereits ein Teller mit einer kleinen Portion des dampfenden Essens auf mich wartete.
Sofort lief mir das Wasser im Mund zusammen und erst jetzt bemerkte ich, wie hungrig mich das Laufen gemacht hatte. Meine Mum stieß zu mir und setzte sich auf den Stuhl gegenüber.
Mit einem verbitterten Blick auf den Teller meinte sie: »Die Portionen werden auch immer kleiner.« Und mit entschuldigender Miene dann: »Tut mir leid, Schatz. Das ist alles, was wir haben.«
Ich fegte die Bemerkung mit einer wegwerfenden Handbewegung beiseite. »Schon gut«, erwiderte ich und lächelte sie an, bevor ich mir einen Bissen der Kartoffeln und des saftigen Wilds in den Mund schob.
»Heute kam eine Nachricht von der Rechten Hand«, wechselte Mum urplötzlich das Thema und ohne es zu wollen, flog mein Blick zu dem Briefrohr.
»Was wollten sie?« Meine Stimme triefte unmittelbar vor Abneigung. Wenn sich die Rechte Hand meldete, wollten sie irgendwas. Und meistens war das nichts Gutes.
»Sie erhöhen die Abgaben nächsten Monat um zwei Marken und die Preise für Lebensmittel steigen auch immer weiter«, erklärte meine Mutter und kräuselte verbittert die Lippen.
»Als hätten wir nicht schon genug Probleme. Die Reichen werden immer reicher, während die Armen hungern und sterben wie die Fliegen.«
»Wird Zeit, dass wir von hier verschwinden«, sagte ich und schob mir die nächste gehäufte Gabel in den Mund.
Mums Blick verfinsterte sich noch weiter und sie schüttelte den Kopf. Ich wusste, was nun folgen würde.
»Und was ist mit den anderen Leuten hier?«
»Aber Mum, darüber haben wir doch schon geredet.« Ich legte das Besteck auf den Tisch. »Wir können rein gar nichts an dieser Sache ändern.«
Sie schnaubte nur empört. »Nur weil man nicht den leichten Weg gehen kann, um Veränderung zu schaffen, heißt das nicht, dass man sich einfach damit abfinden sollte!«
Ihre Nasenflügel bebten, so wie sie es immer taten, wenn sie sich über die Rechte Hand oder die Regierung oder etwaige andere Entscheidungsträger aufregte. »Die Menschen hier müssen zusammenhalten. Es ist nicht richtig, immer nur an sich selbst und sein eigenes Wohl zu denken. Irgendwann erwischt es uns selbst und dann wünschen wir uns noch, dass jemand uns hilft, dem wir mal geholfen haben.«
Damit erhob sie sich und verschwand in der Küche, wo ich sie gleich darauf herumwerkeln hörte.
Mir war der Hunger vergangen, weshalb ich den Teller von mir schob und mich mit verschränkten Armen zurücklehnte. In Zone Vier kämpfte man vor allem um eines: sein eigenes Überleben. Der Zonenschutz ging hier und in der Drei viel härter vor als in den beiden inneren Ringen. Leistete man sich einen Fehltritt, wurde man bestraft. Und meistens wirkte sich diese Strafe auch auf die Familie aus. Man konnte sich hier einfach keine Ausrutscher leisten. Wenn man fiel, zog man die Familie mit in den Abgrund.
Cori kam durch die Haustür herein und war mit wenigen, wenn auch ziemlich kleinen Schritten am Esstisch.
»Hier«, sagte ich und schob ihm den Teller zu. »Dein Anteil vom Fleisch.«
Mein kleiner Bruder zog eilig den Stuhl zurück, auf dessen Sitzfläche er sich kniete und machte sich gierig daran, das Fleisch und die übriggebliebenen Kartoffeln in sich reinzuschaufeln.
Sobald er auch das letzte Krümel in seinen Mund geschoben hatte, forderte ich ihn auf den Teller wegzubringen. Mit begeistertem Leuchten in den Augen rannte er in die Küche, wobei ihm das Besteck mehrmals klappernd vom Teller rutschte, und folgte mir anschließend die Treppe nach oben.
Ich kam einige Sekunden vor ihm auf dem Dachboden an, rannte zu dem kleinen, runden Fenster und schob die dünne Holzplanke davor, die uns als improvisierter Fensterladen diente und den Raum nun in Dämmerlicht tauchte. Schnell zog ich einen kleinen Hocker heran und stellte mich darauf.
Einen Augenblick später trat mein Bruder vorsichtig ins Zimmer und spähte erst einmal hinter die Tür, die ein wenig schief in den Angeln hing. Ich hatte es mir mehrere Male nicht nehmen lassen, ihn zu erschrecken, doch mittlerweile kannte er meine Tricks und es wurde zunehmend schwerer.
»Willkommen«, röchelte ich in meiner tiefstmöglichen Altstimme und sah gebieterisch auf Cori herab, der sofort Luftsprünge machte und damit den Staub vom Boden aufwirbelte. »Seid Ihr bereit, Euch der ehrenvollen Kampfkunst der Vergangenen zu verschreiben?«
»Ja, das bin ich«, erwiderte mein Bruder mit Stolz in seiner kindlichen Stimme und ich fiel für einen Moment durch einen Kicheranfall aus meiner Rolle. »Hör auf, dich über mich lustig zu machen!«, quengelte er und ich wurde schlagartig wieder ernst.
»Tretet vor, junger Krieger. Und höret unseren Kodex!«
Während ich die fünf Regeln aufsagte, die wir uns gemeinsam ausgedacht hatten, als wir dieses Spiel das erste Mal spielten, sprach Cori überschwänglich mit.
»Erstens: Die Vereinigung der vergangenen Krieger ist geheim. Niemand darf von ihr erfahren! Zweitens: Ihr verschreibt Euch dieser Kampfkunst hingebungsvoll und werdet nach dem Kodex und weiteren Regeln handeln und leben – in jeder Situation! Drittens: Ihr tretet anderen Kriegern und vor allem dem Meister mit Wertschätzung, Achtung und Höflichkeit gegenüber! Viertens: Bei Kämpfen jeglicher Art wird darauf verzichtet, andere Krieger absichtlich zu verletzten. Die Kämpfe dienen nur zu Übungszwecken! Und fünftens ...« Ich machte eine theatralische Pause und sprang vom Hocker. Cori musste nun stark zu mir aufblicken, doch er verschränkte die Arme vor der Brust zu einem X und ballte seine Hände zu Fäusten. Ich tat es ihm nach. »... unser Motto lautet?«
Cori sah mir fest in die Augen und straffte seine Schultern, bevor er antwortete. »Die Stärke deines Herzens kann dir keiner nehmen. Sie überlebt sogar den Tod!«, rief er mit fester Stimme und ich nickte stolz.
»Und nun zeigt mir, edler Krieger, wie es um Eure Kampfkunst steht!«
Ich hob die Fäuste, mein Bruder tat es mir nach. Wir tänzelten eine Weile umeinander herum, bis er mich schließlich mit einer kleinen Folge von boxenden Bewegungen, die ich ihm beigebracht hatte, angriff. Ich ließ meine Deckung oben und wich seinen Schlägen aus.
»Ist das alles, was Ihr draufhabt?«, fragte ich spöttisch und meine Worte erzielten genau die Wirkung, die ich erhofft hatte.
»Ich will mich nur ein wenig aufwärmen«, erwiderte Cori und warf sich mit einem »Ha!« auf mich, doch ich konnte seinen Fäusten erneut entkommen.
Bei dem Schlag ins Leere geriet er ein wenig ins Taumeln.
»Achtet auf Eure Deckung«, wies ich ihn an, woraufhin er sofort die Fäuste hochnahm und meinen abgeschwächten Schlag blockte.
Wir kämpften eine Weile, bis er schließlich unter meinem Arm durchtauchte, sich an meinen Rücken klammerte und sich dann über den Boden rollte – zugegebenermaßen mit ein wenig Hilfe meinerseits, doch das hatte er nicht bemerkt.
Ich landete jedoch durchaus schmerzhaft auf dem Rücken, Cori kniete über mir und hatte die Faust erhoben.
»Oh nein, lasst Gnade walten, edler Krieger. Lasst mir mein Leben«, flehte ich, Cori schien aber keine Anstalten zu machen, mich laufen zu lassen. »Doch wenn nicht«, ich funkelte ihn angriffslustig an, »muss ich Euch wohl zu Tode kitzeln.« Sobald meine Finger seine Seiten berührten, schrie er auf und rollte sich von mir herunter. Sein Lachen erfüllte den kleinen Raum und ich konnte nicht anders, als ihn weiter zu kitzeln.
Ich hörte auf, als er sich gequält den Bauch hielt und mich anflehte, ihn zu verschonen. Er rutschte von mir runter und seufzte noch einmal laut und geschafft.
»Denkst du, du wirst die Prüfung in zwei Wochen bestehen?«, fragte er aus heiterem Himmel.
»Ich hoffe es«, sagte ich ehrlich. »Mein halbes Leben habe ich dafür trainiert und ich wünsche mir, dass es nicht umsonst war.«
Verwundert runzelte ich die Stirn, als Coris Kinn plötzlich zu zittern begann, dann traten ohne Vorwarnung dicke Tränen in seine großen braunen Augen. Sie purzelten über seine rundlichen Wangen und landeten auf dem staubigen Boden, wo sie dunkle Flecken hinterließen.
»Ich will nicht, dass du weggehst. Dann bin ich ganz allein.«
»Oh nein, das bist du nicht, kleiner Fuchs!«, sagte ich gleich und nahm ihn fest in den Arm. Als ich ihn wieder losließ, hockte ich mich aufs Bett und klopfte auffordernd neben mich, woraufhin mein kleiner Bruder sich an dieser Stelle niederließ. Er schniefte laut.
»Du wirst ganz bestimmt nicht allein sein, denn sobald ich eine Wächterin bin, hole ich Mum und dich zu mir in die Zwei. Da haben wir bestimmt eine tolle Wohnung, die viel größer ist als unser Haus. Und wir werden so viel Essen haben, dass du gar nicht alles auf einmal ausprobieren kannst, ohne zu platzen.« Ich kniff ihn mehrmals liebevoll in den Bauch. »Vielleicht hast du sogar dein eigenes Zimmer! Na, wie wäre das?«
»Ich will aber lieber bei dir schlafen!«, quengelte er.
Ich drückte ihn kurz an mich und gab ihm einen Kuss auf den Scheitel. »Dann schläfst du eben bei mir und dein Zimmer wird zum Kampfraum, was meinst du?« Begeistert zwinkerte ich ihm zu.
Mein kleiner Bruder schniefte und wischte sich dann mit seinem Ärmel den Rotz von der Nase.
»Glaubst du echt?«, fragte er voll Unglaube, ich nickte.
»Wie ist es denn so in der zweiten Zone?«
»Hm«, machte ich. »Die Straßen sind richtig asphaltiert und so sauber, dass man von ihnen essen könnte«, erzählte ich, woraufhin Cori ein »Ihh« hören ließ und das Gesicht verzog. Ich musste lachen. »Jede der vier Berufsgruppen, deren Heimat die zweite Zone ist, hat ihr eigenes Quartal.«
Ich malte einen großen und einen kleinen Kreis in den staubigen Boden, sodass sie einen breiten Ring ergaben. »Das ist die zweite Zone«, sagte ich und unterteilte den Ring nun mit einer vertikalen und horizontalen Linie in vier gleichgroße Teile. Mit dem Finger deutete ich auf das Stück rechts oben. »Die Ärzte leben im ersten Quartal. Sie kümmern sich um dich, wenn du krank bist oder einen Kratzer hast.«
»Aber ein Kratzer ist doch nicht schlimm!«, kicherte Cori.
»Stimmt«, pflichtete ich ihm bei. »Aber ich meine auch eher schlimme Kratzer. Die, die richtig doll wehtun.«
»Ahh«, machte mein kleiner Bruder und ich fuhr mit meiner Darstellung fort.
»Direkt neben ihnen«, sagte ich und zog meinen Finger durch den Staub auf das Quartal darunter, »arbeiten und leben die Wissenschaftler.«
Coris Blick war unabdinglich auf meinen Finger gerichtet, den ich nun in das linke untere Viertel zog. »Hier sind die Gebäude der Rechten Hand mit Wohnungen direkt darüber. Und das vierte Quartal«, mein Finger wanderte durch den Staub nach oben, »gehört dem Militär. Da werden wir wohnen!«
Mein kleiner Bruder sah mich begeistert an, während ich mir die Hände sauber klopfte.
»Und du glaubst echt, wir werden dahinziehen?«, fragte er mit großen Augen.
Ich nickte. »Ich bin mir sogar sicher, kleiner Fuchs.«
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