{15} - Das Abendessen
"Weißt du schon was du nimmst?", fragte mich Lee.
Er hatte uns einen Tisch in dem Restaurant Diamond reserviert und wir studierten gerade die ziemlich große Speisekarte. Es war ein kleines aber doch nobles Lokal und rege gefüllt. Wir hatten einen Tisch direkt am Fenster und hatten somit wunderbaren Ausblick auf die Innenstadt Londons.
"Ich denke als Vorspeise die Tomatensuppe und als Hauptgang die Pasta frutti di mare. Und du?", antwortete ich und schmunzelte.
"Das Gleiche", erwiderte Lee und grinste. "Na sowas", sagte ich lachend und strich Lee über die Hand. "Vielen Dank, dass wir heute Abend hier sind", meinte er. "Aber natürlich! Es ist ja schließlich dein Geburtstag!"
Ein paar Minuten später kam auch schon der Kellner an unseren Tisch und nahm unsere Bestellung auf. Wir verlangten zusätzlich noch nach einem Glas Lambrusco und ein paar Bruschetta.
"Haben dir Molly und Hanna heute gratuliert?", fragte ich Lee neugierig. "Ja und sie haben mir ein paar Pralinen geschenkt, was mich sehr gefreut hat." "Wer ihnen wohl diesen Tipp gegeben hat, huh?", sagte ich belustigt.
"Hab ich mir schon fast gedacht", erwiderte Lee und erhob sein Weinglas, um mit mir anzustoßen. "Auf einen tollen Abend", sagte ich, schmunzelte und nahm einen kräftigen Schluck aus dem Weinglas.
"Wirst du eigentlich noch mit deiner Familie feiern?", fragte ich Lee nach einer Weile. "Nein, ich denke nicht. Meine Familie hatte es noch nie so mit Geburtstagsfeiern." "Achso...", sagte ich und presste meine Lippen aufeinander. "Aber du wirst sie schon noch kennenlernen, keine Sorge", erwiderte Lee und lachte. "So hab ich das jetzt auch wieder nicht gemeint!", verteidigte ich mich. "Weiß ich doch. Und was ist mit deiner Familie? Wann fliegen wir mal zusammen nach Deutschland?", sagte Lee und grinste schief. Doch mir verging jegliches Lachen. Ich schluckte einmal schwer und senkte meinen Blick. Natürlich wusste ich, dass er mich das irgendwann fragen wird. Nur hätte ich nicht gedacht, dass es noch so weh tun würde, über meine Familie zu sprechen.
Lee blickte mich überrascht an und griff über den Tisch nach meiner Hand. "Hab ich irgendwas Falsches gesagt? Ich wollte nicht-"
"Nein, nein, alles gut. Nur ist meine Familie halt der Grund, weshalb ich Deutschland verlassen habe", erklärte ich und versuchte zu lächeln. "Oh, dass wusste ich ja nicht! Entschuldige! In der Bewerbung stand das anders, deswegen dachte ich-" "Lee, du musst dich nicht entschuldigen. Ich bin hier diejenige, die einiges zu erklären hat. Du weißt ja eigentlich gar nichts über mich..."
"Clary, dann erzähl es mir doch. Erzähl mir alles, was du erzählen möchtest. Bei mir ist alles gut aufgehoben", sagte Lee und streichelte meine Hand. Ich atmete einmal tief durch und fing dann an, alles zu erzählen. Von dem Tod meiner Mama, von meinen Depressionen und von der "gefälschten" Bewerbung.
Als ich fertig war, blickte mich Lee mit einem gemischten Gesichtsausdruck an.
"Wow - das ist - wow. Ich weiß erst einmal gar nicht, was ich sagen soll. Ich wusste das ja alles gar nicht - das ist viel zu verdauen. Aber ich bin sehr froh, dass sie es mir jetzt gesagt hast", stammelte er nervös. "Ich weiß, und es tut mir auch so leid! Ich hätte es dir alles schon viel früher sagen sollen. Aber ich wusste halt nicht, wie - der richtige Moment hat sich nie angeboten."
"Natürlich, dass verstehe ich. Darf ich dich denn ein paar Sachen fragen?", meinte er ganz vorsichtig. Verblüfft sah ich ihn an. Das war das erste Mal, dass sich jemand so für mein Leben interessierte. Bis jetzt stieß ich immer auf Desinteresse oder komplette Überforderung. "Natürlich, ich habe keine Geheimnisse vor dir."
"Okay. An was ist deine Mutter denn gestorben?" "An Bauchspeicheldrüsenkrebs. Sie hatte anfangs Bauchschmerzen und kam dann ins Krankenhaus. Und innerhalb von 14 Tagen hat sich ihr Zustand so verschlechtert, dass sie am Ende gestorben ist. Sie konnte nicht mehr laufen, sprechen oder essen. Es war schwer, dass alles miterleben und sehen zu müssen. Du sitzt neben ihr am Bett und bist machtlos gegen diese Krankheit", erklärte ich neutral und war selbst über die Festigkeit in meiner Stimme überrascht. "Gott Clary, dass tut mir alles so unendlich leid. Wie alt warst du nochmal damals?" "14." "Wow. Ich kann mir nicht im Geringsten vorstellen, wie das für dich gewesen sein muss. Ich will nur, dass du weißt, dass ich immer für dich da bin. Du bist jetzt nicht mehr alleine. Du hast mich, Molly und Hanna! Ich liebe dich, so unendlich sehr", sagte Lee. "Danke, für alles. Ich dich auch", erwiderte ich und gab ihm einen Kuss.
"Aber jetzt nochmal zurück zu der Bewerbung...", meinte er und lachte. Ich stimmte in sein Lachen mit ein und wurde leicht rot. "Dann hat du also gar keine abgeschlossene Berufsausbildung?"
"Ne, leider nicht.... Ich habe eine angefangen, aber konnte sie wegen meinem, naja, "Zustand" nicht beenden..."
"Aha, so ist das also... und trotzdem kommst du so gut in meiner Firma klar?", fragte Lee verblüfft. "Jaaa..", ich grinste schief und biss mir auf die Lippe. "Respekt", erwiderte Lee.
"Hättest du mir das nicht gesagt, wäre ich niemals darauf gekommen.. du machst deinen Job so gut, das wollte ich dir eh noch sagen", fügte er noch hinzu. "Dankeschön", antworte ich und schmunzelnde.
Kurze Zeit später brachte der Kellner auch schon unser Essen und wir genossen jeden Löffel der leckeren Pasta. Es tat so gut, mal alles ausgesprochen zu haben. Und Lees Reaktion hätte wirklich nicht besser sein können - er war einfach mein Traummann.
Er machte mein Leben wieder lebenswert.
"Schmeckt es dir?", fragte er. "Und wie! Ich hab noch nie so leckere Pasta gegessen! Dir auch?" "Wunderbar. Aber mit dir an meiner Seite würde mir auch Rosenkohl super schmecken", erwiderte Lee lachend.
"Rosenkohl? Wieso denn Rosenkohl?", fragte ich verwirrt. "Ich hasse Rosenkohl."
"Och nein, jetzt wollte ich morgen extra einen Rosenkohleintopf machen...", antworte ich bedrückt. "Wirklich jetzt?", fragte Lee erschrocken. "Scherz", sagte ich lachend und schob mir einen weiteren Löffel Pasta in den Mund. "Aber gut zu wissen. Ich esse keinen Brokkoli. Der schmeckt immer so seltsam."
Allein schon der Gedanke an dieses Gemüse ließ meinen Mund zusammenziehen.
"Brokkoli ist doch total gesund! Ich meine die ganzen-" Wir wurden plötzlich von Lees Handy unterbrochen, welches auf dem Tisch lag und laut vor sich hinsummte und vibrierte. Ich konnte leider nicht genau sehen wer da anrief, aber Lee nahm in Sekundenschnelle ab und ging raus vor die Tür. Verwundert saß ich da und blickte ihn durch die große Glasfront an.
Er hatte ein breites Grinsen auf dem Gesicht und schien sich gut zu unterhalten.
Er telefoniert bestimmt länger als 20 Minuten und beendete dann das Telefonat, indem er ein "Küsschen" ins Handy gab. Er lächelte, doch als er zurück in das Restaurant ging, setzte er eine ernste Miene auf und gesellte sich zurück zu mir an den Tisch. Schweigend bediente er sich weiter an seiner Pasta und blickte aus dem Fenster.
"Wer war das denn?", fragte ich neugierig und war auf seine Reaktion gespannt. "Ach das, äh - mein Vater", erwiderte er nervös. "Dein Vater?", fragte ich verdutzt. "Na wenn nur ich mich mal so fröhlich mit meinem Vater unterhalten könnte....", gab ich leise zurück. "Naja, wir verstehen uns sehr gut, weißt du", verteidigte sich Lee. Ich nickte nur und nippte an meinem Weinglas. Ich wusste genau, dass er log, da ich ja seinen Vater in New York kennengelernt habe. Und da wirkte das Verhältnis zwischen den beiden alles Andere als gut und vertraut.
Der restliche Abend verlief irgendwie seltsam. Seit diesem Telefonat verhielt sich Lee sehr merkwürdig und distanziert und ich grübelte die ganze Zeit nur, wer das gewesen sein könnte. Meine Gedanken kreisten ständig um Clara - aber sie konnte es doch nicht gewesen sein. Schließlich hat er doch mit ihr Schluss gemacht, oder?
So gegen 0 Uhr machten wir uns dann gemeinsam auf den Heimweg, da ich mit Lee ausgemacht hatte, die Nacht bei ihm zu schlafen.
Ich verschwand sofort im Bad und streifte mein langes Kleid ab. Als ich zurück ins Schlafzimmer kam, lag Lee schon im Bett und schaute nachdenklich an die Decke. Ich legte mich zu ihm und schmiegte mich an seine Brust.
"Ist alles okay? Du bist schon die ganze Zeit so komisch", fragte ich. Er brummte nur und legte seinen Arm um mich. "Jaja, alles gut. Ich habe nur die Pasta nicht so gut vertragen", murmelte er. "Sicher dass es nicht an diesem Telefonat lag?", platzte es aus mir heraus. Ich wollte das eigentlich gar nicht fragen, aber mir gingen diese ganzen Lügen langsam mächtig auf den Geist. "Nein, wie kommst du drauf?", antworte er schnell und mit viel Festigkeit in seiner Stimme. "Ach, nur so. Aber es liegt auch nicht an meiner Vergangenheit, die ich dir erzählt habe, oder?" "Nein. Auf keinen Fall. Du bist perfekt", sagte er und gab mir einen Kuss.
Wir krochen beide unter die Decke und trotz vieler Gedanken und Sorgen schlief ich dann irgendwann ein.
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