Winterball
„Am Mittwoch gehen wir auf den Weihnachtsmarkt", beginnt Jake, während er mit sanftem Druck auf Caitlins Rücken die Richtung angibt, in die sie sich drehen müssen.
„Ich weiß, das gehört nicht zu deinen typischen Weihnachtstraditionen", er grinst sie herausfordernd an, was ihr ein angenehmes Kribbeln durch den Körper schickt. Sie würde gern mehr mit Jake unternehmen, mehr mit ihm allein sein, ihn wirklich kennenlernen.
Den ganzen Vormittag haben sie damit verbracht, das Graffiti von der Hauswand zu entfernen, allerdings mit wenig Erfolg. Jetzt prangt eine verschwommene dunkle Masse an der Wand. Aber wenigstens sind die Schlangen und die Drohung nicht mehr zu entziffern.
Währenddessen wurden im Gemeinschaftsraum die letzten Vorbereitungen für heute Abend getroffen. Es funkelt und glitzert in jeder Ecke. Die Dekorationen wurden von den Kindern alle selbst gebastelt. Entweder aus dieser Weihnachtszeit oder aus den vergangenen Jahren. Es sind leuchtende Schneekristalle, die von der Decke hängen, sich sanft drehen und die Illusion von echtem Schneefall ergeben. Große Styroporquader befinden sich am Rand und wurden in verschiedene Figuren geschnitzt. Sie sehen aus wie Eisskulpturen aus Schnee. Ein silber geschmückter Weihnachtsbaum prangt in der Mitte der Tanzfläche und bietet so ein wenig Sichtschutz vor den Kindern, die mit dem funkelnden Konfetti spielen als sei es Pulverschnee. Caitlin kommt gar nicht aus dem Staunen raus. Der Raum hat sich in ein wahr gewordenes Wintermärchen verwandelt.
„Die Kinder freuen sich da jedes Jahr total drauf", erzählt Jake weiter, während sie mit gekonnten langen Schritten über die Tanzfläche gleiten. Er ist ein guter Tanzpartner, führt jede Bewegung sicher und elegant aus. Caitlin hat keine Mühe, seinen sanften Anweisungen, die er durch seine Hände an sie weitergibt, zu folgen.
„Ach, gehört das auch zum Adventskalender?"
„Genau, wir machen das jedes Jahr. Der Weihnachtsmarkt am Rathaus ist verdammt schön. Vertrau mir, du wirst es lieben."
Caitlin überlegt, obwohl sie längst weiß, dass sie zusagen möchte.
Schwerelos gleiten sie über die Fliesen und ihr dunkelgrünes Kleid schwebt bei jeder Drehung mit. Es ist Elena gewesen, die Jake das Tanzen beigebracht hat. Einen Sohn, der weder singen, noch tanzen kann, wäre für die Spanierin undenkbar gewesen. Nachdem klar war, dass aus Jake kein Gesangskünstler wird, er aber mit Begeisterung ‚Holiday on Ice' verfolgt, meldete seine Mutter ihm beim Eiskunstlauf an. Alles, was er auf dem gefrorenen Wasser lernte, konnte er mithilfe von Elena ohne Probleme auf festem Boden übertragen. Jake denkt oft an die Abende zurück, an denen er mit seiner Mutter im Wohnzimmer getanzt hat, unter den bewundernden Augen seiner Geschwister.
Doch hier mit Caitlin ist es etwas anderes.
Es fühlt sich intimer an und die Spannung, von der seine Mutter immer erzählt hat, wenn sie mit seinem Vater tanzt, kann er jetzt zum ersten Mal fühlen. Diese Anziehungskraft, die dafür sorgt, dass sie sich nicht loslassen möchten, selbst wenn es die Choreographie verlangt. Das Sprühen der funkelnden Augen, wenn sich ihre Gesichter so nahekommen, dass sie sich küssen könnten, sobald einer von ihnen den falschen Tanzschritt macht.
Nach der nächsten Drehung zieht Jake sie zu sich heran. Den Kopf auf der Schulter des jeweils anderen wiegen sie sich langsam im Achterschritt.
Caitlins Blick schweift über Jakes Schulter hinweg durch den Raum, bis sie für einen Moment innehält, Jakes nächsten Schritt nicht mitbekommt und ihm über die Füße stolpert. Augenblicklich hält er an.
„Alles in Ordnung?"
„Ja, nein, ich brauche kurz einen Moment. Ich bin gleich wieder da." Irritiert sieht Jake Caitlin hinterher, die, ihrem Schritt nach zu urteilen, ein Ziel im Visier hat.
Es dauert nicht lange, bis sie das Mädchen in dem eisblauen Federkleid erreicht. Die blondierten Haare mit den blauen Strähnchen würde sie überall erkennen. Zielbewusst legt Caitlin ihr eine Hand auf die Schulter und dreht Riley zu sich um, die erschrocken ihren Becher fallen lässt.
„Was machst du hier?", zischt Caitlin und zieht sie gleichzeitig in Richtung Ausgang.
„Lass mich los."
„Oh nein, auf gar keinen Fall." Caitlin lacht höhnisch auf, während sie Rileys Handgelenk fest umschließt und sie durch den Flur vor die Tür zerrt. Es fällt kein Schnee, aber jedes ihrer Worte hinterlässt weiße Wölkchen vor ihrem Mund. Doch das spielt für Caitlin keine Rolle. Wütend funkelt sie ihre ehemals beste Freundin an, die bereits Gänsehaut hat.
„Wegen dir und dem Rest der Truppe ist die ganze Wand vollgeschmiert! Hast du dir das mal angesehen? Und dann habt ihr versucht, mir den Scheiß in die Schuhe zu schieben. Und jetzt tauchst du hier auf und tust so als sei nichts gewesen?" Caitlin kann kaum Luft holen, so sehr redet sie sich in Rage. Dann atmet sie tief durch und in ihren Augen spiegelt sich pure Verachtung, als sie fortfährt: „Du bist nicht eingeladen, verschwinde."
Riley verschränkt die Arme vor der Brust, weicht Caitlins Blick aber aus.
„Hey", beide Mädchen erschrecken gleichzeitig bei dem Klang von Jakes Stimme hinter ihnen. „Wusste ich doch, dass ich euch hier rauslaufen sehen habe."
„Ihr kennt euch?", fragt Caitlin an Jake gewandt.
„Klar, das ist Hannah, von der ich dir erzählt habe", erklärt Jake achselzuckend und in Caitlins Kopf beginnt es zu pochen.
„Hannah... deine beste Freundin, Hannah?", sie mustert Riley mit zusammengekniffenen Augen, während sie ihren Griff widerwillig lockert. Sofort zieht Riley ihren Arm aus Caitlins Hand und reibt sich ihr pulsierendes Handgelenk.
„Ja."
„Hast du sie auch eingeladen?", fragt Caitlin skeptisch, lässt Riley dabei aber nicht aus den Augen.
Jake lacht kurz auf.
„Das musste ich nicht, sie wohnt ja schließlich hier", er deutet hinter sich, um zu veranschaulichen, dass er nicht hier hier meint, sondern das Gelände von Lost & Found.
„Was?", Caitlin sieht nun wieder Riley an, die betreten ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagert. „Du wusstest, wer in dem Haus wohnt und hast trotzdem nichts zur Gruppe gesagt?"
„Wovon redet ihr?"
„Ich wollte ja", lenkt Riley ein.
„Ach, du wolltest ja. Und dann? Was ist passiert? Hat Mason dir den Mund zugeklebt?"
„Nein."
„Genau. Nein. Hat er nicht. Wie konntest du das zulassen? Diesen Kindern hier sowas antun?"
„Caitlin? Woran beschuldigst du sie?", versucht, Jake zu schlichten, aber Caitlin sieht ihn nicht einmal an.
„Daran", sie zeigt auf die beschmutzte Wand am Waisenheim, an der immer noch die Reste des grausamen Graffitis zu sehen sind.
„Und dann die Galerie? Du wusstest, wieviel sie mir bedeutet, Riley!", faucht Caitlin Hannah an.
„Riley?", irritiert sieht Jake von Caitlin zu Hannah, die nur entschuldigend mit den Achseln zuckt.
„Deine beste Freundin Riley?", fragt er, wie um sicherzugehen, dass er ihren Namen richtig verstanden hat. Caitlin nickt, während ihre Zornesfalten sich tiefer in ihr Gesicht ziehen.
„Du gehörst zur Graffiti Gruppe", fassungslos weicht Jake von Hannah zurück. Das ist nicht die Hannah, die er kennt, nicht die Hannah, mit der er die letzten Jahre aufgewachsen ist.
„Seit wann hängst du mit solchen Menschen ab?" Er wirft einen Blick auf das Graffiti, das sie versucht, aber nicht geschafft haben zu entfernen. Ihm läuft ein Schauer über den Rücken. Hannah ist seine beste Freundin. Ihr bedeuten die Kinder von Lost & Found genauso viel wie ihm. Sie wissen alles voneinander. Jedenfalls dachte er das immer. Jake wendet den Blick ab, er kann Hannah nicht ansehen, nicht jetzt. Der Gedanke daran, dass sie an so etwas beteiligt war, etwas, das die Kinder und auch ihn so verletzen würden, schmerzt tiefer, als irgendein Spruch es je könnte. Mit einem Mal fühlt er sich verraten.
„Ist ja nicht so, als hätte ich einfach aussteigen können", sie nickt in Richtung Caitlin, „Nachdem, was du abgezogen hast. Du weißt, wie das läuft."
„Was?"
„Sag mir nicht, dir kam es nicht merkwürdig vor, dass der Direktor dich genau zum richtigen Zeitpunkt erwischt hat." Jake wirft Hannah einen warnenden Blick zu, den sie bewusst ignoriert.
„Er hat gesagt, er würde noch arbeiten", erinnert Caitlin sich zurück an den ersten Dezember.
„Klar, um 21 Uhr. Welcher Lehrer bleibt bitte so lange in der Schule? Checkst du's nicht, Caitlin? Mason hat dich verpfiffen. Hat beim Direktor angerufen, als er Wind davon gekriegt hat, dass du dein eigenes Ding durchziehst. Du hast von dem Tag an schon nicht mehr zu uns gehört."
„Was...das heißt, alles danach war,...war nur Schikane?", Caitlin hält sich den Kopf, kann nicht klar denken, nicht fassen, welche Informationen sie gerade erhält. Hätte Mason das wirklich getan? Sie waren mal ein Paar gewesen, aber das zählt schon seit langem nichts mehr.
„Nein", haucht Caitlin, taumelt ein wenig, als hätte das Wort sie physisch getroffen, obwohl das unmöglich ist.
„Das glaube ich dir nicht."
„Frag doch deinen ach so lieben Jake hier", Hannah deutet auf Jake, der bis jetzt still daneben gestanden ist. Wütend starrt er Hannah ihr Lächeln aus dem Gesicht. Sie war es doch, die ihn ermutigt hat, Caitlins Taggs zu folgen, um herauszufinden, wo sie als Nächstes sprayen würde.
Er wollte nicht, dass Caitlin jetzt schon die Wahrheit erfährt. Er wollte so unbedingt mit ihr in dieser kleinen zauberhaften Weihnachtsblase stehen bleiben, tanzen, lachen.
„Jake?", Caitlin dreht sich fragend zu ihm um.
„Ich habe dich sprayen gesehen", gesteht er, den Blick Richtung Boden gerichtet.
„Wann?" Der Schmerz in Caitlins Stimme ist unüberhörbar und Jake muss die Augen schließen, um sie nicht anzusehen. Allein ihr trauriger Ton hinterlässt einen Knacks in seinem Herzen. Mehr kann er nicht ertragen.
„An der Schulwand am ersten Dezember", erwidert er leise, weil es ihm peinlich ist, dass er es ihr hier auf diese Weise gestehen muss. Dass er sich nicht getraut hat, es ihr vorher schon zu sagen.
„Und du hast es Mason erzählt?"
„Nein", beschwichtigend hebt er die Hände, will sie zu sich in die Arme ziehen, ihren Duft einatmen, wieder ihren Körper dich an seinem spüren. Doch Caitlin entzieht sich seiner Berührung. „Natürlich nicht. Ich kannte Mason ja gar nicht. Aber ich wusste, dass du da sein würdest."
„Woher?"
„Du hast Hinweise in deinen Taggs hinterlassen, ich bin ihnen nur gefolgt", versucht er verzweifelt zu erklären.
„Hast du mich etwa gestalked?!", angewidert weicht sie von ihm zurück.
„Nein! Ich habe deine Kunst nur bewundert. Hannah ist meine beste Freundin und ich hab ihr von dir erzählt. Sie hat mir nicht gesagt, dass sie zu eurer Gruppe gehört", er wirft ihr einen wütenden Blick zu, „sondern mir Mut gemacht, dass ich dich ansprechen soll. Ich habe dich gesehen an der Schule, aber mich nicht getraut und Hannah angerufen, damit sie mir in den Hintern tritt und ich dich wirklich anspreche."
Irritiert sieht Caitlin zu Hannah, die gleichgültig mit den Schultern zuckt.
„Ich war zu dem Zeitpunkt bei Mason und du kennst ihn. Private Gespräche gibt es nicht, es muss immer der Lautsprecher an sein." Caitlin nickt abwesend, versucht, alles zu verarbeiten, doch es gelingt ihr nicht ganz.
„Also hat Mason Mr. Rivera angerufen?", fragt sie misstrauisch, weil sie nicht glauben kann, dass Mason überhaupt die Nummer hat.
„Nein, ich", erwidert Hannah und zuckt wieder mit den Schultern, „Ich habe dir den Arsch gerettet."
„Was?"
„Mason wollte dich bei der Polizei verpfeifen. Ich habe gesagt, dass ich den Schuldirektor kenne." Sie sieht entschuldigend zu Jake.
„Ich kenne Joel ja auch. Durch dich", dann richtet sie ihren Blick wieder auf Caitlin, „wegen mir hast du Sozialstunden statt ein Metallbett in einer Zelle. Gern geschehen."
„Also hat nicht Mason mich verpfiffen, sondern eigentlich ihr beide."
„Aber doch nicht absichtlich!", ruft Jake.
„Ich schon", erwidert Hannah, „aber das war halt die bessere Option für dich als von der Polizei geschnappt zu werden."
„Ich...ich kann euch gerade nicht sehen...ich...ich will gehen."
„Caitlin, bitte warte." Jake versucht, nach ihrem Arm zu greifen, aber Caitlin ist schneller trotz ihrer hohen Schuhe.
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