Weihnachtsdeko
Es ist nicht einmal acht Uhr morgens, als Caitlin von ihrem Klingelton geweckt wird. Stöhnend greift sie danach und würde beim Erkennen von Jakes Namen am liebsten einfach auf den roten Hörer drücken.
Aber sie weiß, was auf dem Spiel steht. Mr. Rivera wird sicherlich nicht zögern, sie bei der Polizei anzuzeigen, wenn sie nicht ihre Stunden abarbeitet. Dabei fällt ihr auf, dass ihr weder gesagt wurde, wie viele Sozialstunden sie insgesamt abzuleisten hat, noch wann ihre üblichen Arbeitszeiten sein würden. Lediglich, dass sie nach der Schule direkt dorthin gehen soll, wurde ihr von Mr. Rivera mitgeteilt. Wie viele Stunden können einem für Sachbeschädigung aufgebrummt werden?
Das Klingeln ihres Handys wird lauter und Caitlin drückt verzweifelt auf den grünen Hörer.
„Ja?", ihre müde Stimme gleicht dem Krächzen eines Raben, aber das stört sie nicht. Jake wird sicherlich keine wache Gesprächspartnerin erwarten an einem Samstagmorgen vor acht Uhr.
„Sehr gut, du bist wach."
„Was du nicht sagst", erwidert Caitlin etwas gereizt und dreht sich auf den Rücken. „Was gibt's?"
„Heute bräuchte ich deine Hilfe. Hast du zufällig ein Auto?" Caitlin blinzelt einige Male bei dem Gedanken an den Wagen, der in der Einfahrt steht. Es ist klein, unscheinbar und vollgestopft mit Spraydosen. Aber ja, sie kann es fahren. Sie müsste es vorher nur ein wenig aufräumen und ihm ihre kriminellen Machenschaften mit der Malost-Gang nicht unter die Nase reiben.
„Ja, warum?"
„Super! Wir müssen zu Walmart. Kannst du mich in so einer halben Stunde abholen?"
„Nein", erwidert Caitlin so energisch, dass Jake auf der anderen Seite der Leitung zurückschreckt. Überrascht sieht er auf den Namen auf dem Display und legt den Hörer dann vorsichtig wieder an sein Ohr.
„Okay, in einer Stunde?", wagt er einen zweiten Versuch.
„In zwei." Jake kennt den Anlass nicht dafür, dass Caitlin erst so spät Zeit hat, aber er hat keine andere Wahl, als zuzusagen. Joels Auto kann er unmöglich nehmen. Der wird ihm absaufen, noch bevor er bei Caitlin ist, obwohl er nicht einmal weiß, wo sie wohnt.
Aber genau zwei Stunden später parkt ein kleiner blauer Wagen in der Einfahrt von Lost & Found und Jake steigt dankbar auf den Beifahrersitz.
„Du bist meine Rettung, wirklich."
„Wir müssen über meine Stunden reden", erwidert Caitlin und stellt den Motor ab, „vorher fahre ich mit dir nirgendwohin."
„Oh, okay...was ist mit deinen Stunden?"
„Ich kann nicht auch jedes Wochenende vorbeikommen", beginnt Caitlin und überlegt, wie weit sie bereit ist, mit der Wahrheit zu gehen.
„Das ist kein Problem, wir können das echt spontan halten. Morgen brauchst du auch nicht zu kommen, nur Montag backen wir endlich die Plätzchen. Wäre cool, wenn du dabei wärst."
„Abends?", fragt sie und ihr graut bereits der Gedanke bei der Antwort. Abends muss sie zu Hause sein. Bei ihrem Vater.
„Ja, dafür kannst du dir dann aber am Freitag frei nehmen." Er zwinkert ihr zu, doch Caitlin dreht sich der Magen um. Sie muss auf ihren Vater aufpassen. Mit ihm ihr abendliches Ritual durchführen, damit er sicher einschläft und aufwacht.
„Ich kann nicht."
„Was? Warum nicht?" Caitlin antwortet nicht, ihr fällt keine passende Ausrede ein, die nicht ausgedacht klingt. Abgesehen davon wurde sie zur Wahrheit erzogen und es widerstrebt ihr, Jake anzulügen, auch wenn er kein Freund ist.
„Musst du noch wohin?", Jake mustert Caitlin, fragt sich, ob sie Sport macht oder ob sie die freie Zeit nur nutzt, um zu sprayen.
„Sozusagen", erwidert Caitlin nach einer Pause, dankbar für einen einfachen Ausweg, den Jake ihr gibt.
„Sprayen?"
„Woher", aber sie spricht ihre Frage nicht zu Ende aus, als Jake sie angrinst. Natürlich weiß er, warum sie ihre Sozialstunden ableisten muss. Wahrscheinlich hat Mr. Rivera ihm alles erzählt, damit er weiß, worauf er sich da einlässt, wenn er sie unter seine Fittiche nimmt, wie er es genannt hat.
Ihr Blick bleibt einen Moment an seinen vollen Lippen und den makelosen Zähnen hängen und wieder fragt sie sich, woher sie sein Gesicht kennt.
„Ich habe einige deiner Werke in der Stadt gesehen. Sie sind nicht schlecht."
„Woher willst du wissen, ob ich das war?", entgegnet Caitlin, während sie den Zündschlüssel dreht und der Motor zu gurren anfängt.
„Dein Tagg ist jetzt nicht gerade schwer zu entziffern."
„Ha", Caitlin lacht laut auf, „erzähl das mal der Polizei."
„Ich denke, die wissen auch, wer du bist."
„Warum haben sie mich dann noch nicht geschnappt?" Jake seufzt, antwortet aber nicht. Er weiß es, weiß, was Joel in den letzten Monaten alles aufs Spiel gesetzt hat, was er für Caitlin getan hat. Aber Jake musste ihm versprechen, es ihr nicht zu sagen. Sie muss ihren eigenen Weg finden, sagt sein Vater immer. Ohne äußeren Einfluss.
Caitlin parkt den Wagen und sieht Jake noch einmal an.
„Ehrlich, ich muss um fünf Uhr zu Hause sein. Da gibt es keinen Kompromiss."
„So lange werden wir schon nicht brauchen", erwidert Jake und tätschelt ihren Oberschenkel zum Zeichen, dass er bereit ist auszusteigen.
„Ich meine nicht nur heute, sondern die ganze Zeit, die ich im Lost & Found bin. Wie viele Stunden muss ich insgesamt ableisten? Ich brauche da wirklich einen Plan, damit ich...damit ich das klären kann."
Jake kneift die Augen zusammen.
„Damit du nachts in Ruhe sprayen kannst?" Er glaubt es nicht, will aber die Sicherheit haben, dass er recht hat.
„Nein", erschrocken sieht sie ihn an. „Es ist was Persönliches, okay?"
„Okay", Jake hebt beschwichtigend die Arme. Wenn er eines akzeptieren kann, dann persönliche Geheimnisse. Davon hat er selbst genügend.
„Also, fünf Uhr. Nicht später."
„Nicht später", bestätigt Jake, auch wenn ihn der Gedanke daran, dass Caitlin nicht lange bei ihnen verbringen wird, traurig stimmt. Er hatte für die nächsten Abende einiges geplant und sie gern dabei gehabt. Ihr gezeigt, was das Lost & Found ausmacht, was ihn ausmacht. Damit sie ihn genauso gut kennenlernen kann, wie er sie zu kennen glaubt. Hatte gehofft, dass sie möglicherweise Interesse daran hat. Doch jetzt wirkt es eher, dass sie es lediglich als Strafarbeit sieht, die sie schnellstmöglich beenden will.
Jake seufzt.
„Gut, dann lass uns mal für den Nikolaus einkaufen." Caitlin wird stutzig.
„Das hättest du doch auch morgen machen können, warum unbedingt heute?"
„Weil wir am Abend vorm Nikolaus ein besonderes Ritual haben, das wirst du schon", aber Jake verstummt, weil Caitlin es nicht sehen wird. Sie wird nicht wissen, wie die Kinder Gedichte aufsagen, Schuhe auswählen, putzen. Wie Elena die selbstgestrickten Socken an den Kamin hängt, die die Kinder mit kleinen positiven Botschaften für die anderen füllen werden über den Tag.
Es ist ein gesamter Workshop, den Elena am fünften Dezember abhält. Es geht um das positive Denken, das Stärken von Selbstbewusstsein. Jake liebt diese Tradition, macht mit, seit er klein ist und er würde diesen Tag um nichts in der Welt missen wollen.
„Alles klar, dann eben heute. Wieviel brauchen wir?", unterbricht Caitlin seine Gedanken.
„Genügend für sieben Kinder und sechs Mitarbeiter." Zielstrebig läuft Caitlin stumm auf den Eingang zu, aber ihre Schritte verlangsamen sich in dem Moment, in dem sie durch die Tür schreitet und die Verkaufsfläche sieht. Ihre Haare stellen sich auf und sie bekommt eine Gänsehaut. Der Anblick nimmt ihr die Luft zum Atmen. Die einzelnen Regale mit der Weihnachtsdekoration verschwimmen vor ihren Augen, drehen sich im Uhrzeigersinn und Caitlin schwankt gegen die Eingangstür. Sie will sich nicht mehr losreißen, weil es der einzige unbewegliche Punkt in diesem Laden ist. Mit der Hand hält sie sich die linke Brust, will den Schmerz darin loswerden, der so plötzlich gekommen ist, wie der Schwindelanfall.
„Caitlin", sie hört Jakes Stimme nur dumpf, als wäre sie weit weg oder unter Wasser. Es ist ein seltsamer Druck auf ihren Ohren und auch wenn sie Jake hören kann, bekommt sie doch keinen Ton heraus. Das Atmen fällt ihr so schwer, dass an das Sprechen gar nicht zu denken ist.
Jake fängt Caitlin in dem Moment auf, in dem ihre Beine nachgeben und sie sonst auf den kalten Fliesenboden gefallen wäre. Mit seinen Armen unter ihren Achseln legt er sie vorsichtig im Eingangsbereich ab, stellt ihre Füße auf, während andere Kunden stehen bleiben und gaffen wie bei einem Unfall.
„Bringt mir Wasser, verdammt!", ruft er wütend in die Menge, die sich nicht regt, „und hört auf zu glotzen!" Beschützend setzt er sich vor Caitlin, will sie mit seinem Körper weitestgehend vor dem Blickfeld der Masse abschirmen, aber es gelingt ihm nicht komplett. Die Ersten holen schon ihr Handy heraus. Statt Hilfe zu rufen, filmen sie die Szenerie und Jake merkt, wie ihm der Geduldsfaden reißt. Wenn er eines nicht ausstehen kann, dann wie zugeschaut wird, ohne Hilfe zu leisten.
„Du im grün gestreiften Hemd, ja, ich mein dich, Anzugträger! Bring mir einen Becher Wasser. Jetzt!" Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, zeigt er mit dem bloßen Zeigefinger auf den Mann und die Handykameras schwingen mit, üben zusätzlichen Druck aus, sodass er sich endlich von der Menge löst und Jakes Befehl nachkommt.
Währenddessen legt Jake Caitlin in die stabile Seitenlage, zieht seine geliebte Holzfällerjacke aus und deckt damit ihren Oberkörper zu. Vorsichtig drückt er ihre Schulter, und als der Anzugträger mit der Wasserflasche kommt, macht Caitlin endlich wieder die Augen auf.
Pure Erleichterung durchflutet Jake, als sie ihn unsicher anblinzelt, aber zu Erkennen scheint. Er stützt seine Hände auf seine Oberschenkel und kann nicht in Worte fassen, welche Angst er bis eben um Caitlin gehabt hat.
Irritiert sieht sie sich um, während die filmenden Handys nach und nach wieder in den Hosentaschen verschwinden.
„Was", ihre Stimme ist weinerlich, wie die eines kleinen Kindes und Jake schiebt sich in ihr Sichtfeld.
„Alles gut, hier. Trink erst einmal was." Die Menge grummelt, löst sich auf und hinter ihr erscheint ein Mitarbeiter in blauer Weste.
„Sie können nicht einfach die Flasche trinken, ohne zu bezahlen, Sie müssen", aber bei dem zornigen Anblick, den Jake ihm bietet, bleiben dem Mitarbeiter die weiteren Worte im Hals stecken.
„Sie können froh sein, dass ich Sie nicht anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung", faucht er. Der Mitarbeiter taumelt einige Schritte zurück, als wäre er geschlagen worden, aber das interessiert Jake nicht. Besorgt sieht er auf Caitlin, die sich mittlerweile aufgesetzt und die Hälfte der Flasche ausgetrunken hat. Jake fasst sich durch die Haare.
„Man, hast du mir einen Schrecken eingejagt", er lacht nervös und Caitlin steigt mit ein.
„Ich weiß auch nicht. War wohl alles ein wenig viel", antwortet sie, während sie die Regale begutachtet, die mit weihnachtlicher Deko so vollgestopft sind, dass bereits vereinzelte Dekoartikel kaputt auf dem Boden liegen.
„Ich wusste nicht, dass Deko eine solche Reaktion bei dir auslöst", scherzt Jake, weil er die Stimmung ein wenig lockern will, aber Caitlin bleibt ernst.
„Ich hätte es wissen müssen."
„Was? Wegen Weihnachtsdeko?" Ungläubig beobachtet er Caitlin, während sie aufsteht und die Holzfällerjacke bewundert.
„Die ist echt cool." Jake bemerkt den plumpen Themenwechsel, steigt aber trotzdem mit ein. Wenn sie noch nicht so weit ist, ihre Geschichte zu erzählen, würde er sie nicht drängen.
„Trag sie, du zitterst immer noch." Dankbar lächelt Caitlin ihn an, wirft sich die rot-schwarz karierte Jacke über und Jake muss zugeben, dass sie ihr besser steht als ihm.
Anerkennend pfeift er, was Caitlin zu einem schüchternen Lachen veranlasst. Sie schiebt sich die braunen Haare aus dem Gesicht und holt tief Luft.
„Okay, ich bin bereit. Nochmal passiert mir das nicht."
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