Stille Nacht
Morgens stapft Caitlin verschlafen auf die Veranda, reibt sich im Gehen noch die Augen. Sucht die Einfahrt nach ihrem kleinen blauen Gefährt ab, kann es aber nicht entdecken. Erst da fällt ihr wieder ein, dass der Reparaturservice es hat.
Eine Benachrichtigung hat sie noch nicht bekommen, wann sie es abholen kann. Dafür liegt die kleine Spielzeugsanduhr in ihrer Jackentasche. Was ein Trost. Mit der rechten Hand dreht sie sie hin und her, schluckt die Wut dabei hinunter, die sie überkommt.
Ihr ist auch so bewusst gewesen, wer die aufgeschlitzten Autoreifen zu verantworten hat, dafür braucht sie keine weitere Erinnerung. Wütend wirft sie die Sanduhr auf die Straße, wo sie keine Sekunde später vom anfahrenden Jake überfahren wird. Das Plastik zerspringt in kleine Splitter, die sich auf dem Asphalt verteilen. Es glänzt beinahe so sehr wie der frische Schnee. Aber eben nur fast. Der Sand, der sich nun verteilt, färbt den Schnee in ein hässliches beige.
Jake steigt aus dem Auto aus, lehnt sich über die Autotür.
„Was macht dich denn so wütend an einem so schönen Morgen?"
„Was machst du hier?"
„Ach, weißt du...Ich dachte, wir hatten gestern so einen guten Bonding Moment, den wollte ich nicht verstreichen lassen."
„Was?" Entnervt sieht sie Jake an, doch der grinst nur.
„Kommst du?"
Caitlin stöhnt auf, weil sie weiß, dass sie gar keine andere Wahl hat. Zu Fuß bei dieser Kälte würde sie es nicht in die Schule schaffen, ohne zu erfrieren.
Beleidigt lässt sie sich auf den Beifahrersitz fallen, was Jake gekonnt übersieht. Glücklich pfeifend setzt er sich hinters Steuer und startet den Motor.
„Also, warum bist du hier? Ich habe doch gesagt, ich brauche dein Mitleid nicht", fängt Caitlin ihre Frage wieder auf, nachdem sie einige Minuten stillschweigend im Auto gesessen haben.
„Ich weiß. Ich weiß aber auch, dass du zur Zeit kein Auto hast."
„Ich hätte laufen können." Jake wirft ihr einen amüsierten Blick zu.
„Ach ja?"
„Glaubst du nicht, dass ich das packe?" Jake lacht über Caitlins vorgeschobene Lippe. Mit ihren verschränkten Armen und der Mütze, die ihr tief ins Gesicht reicht, sieht sie verdammt niedlich aus, wie sie da schmollt.
„Ich glaube, du packst so einiges, wenn du es dir in den Kopf setzt."
„Ach, da sind wir also."
„Was?", irritiert sieht Jake zu Caitlin hinüber. Aber sie kennt die Stimmlage, die verschiedenen Varianten, wie ihr jemand sagen will, dass ihr Teller zu voll ist. Dass sie sich zurücknehmen sollte, bevor sie daran kaputt geht.
Dr. Fraser hat das gesagt. Genau wie Mr. Rivera. Mehrfach. Und jetzt Jake.
„Ich brauche keinen Beschützer, klar?"
„Ich", setzt Jake an, kann den Satz aber nicht zu Ende führen. Denn Caitlin hat ihn durchschaut, viel zu schnell, als dass er seine Rede aufsagen kann, die er heute Morgen vor dem Spiegel geübt hat.
„Oder Mitleid", fügt sie hinzu, während sie tiefer in den Beifahrersitz rutscht.
„Wir wollen doch nur helfen."
„Genau das ist das Problem. Ihr. Das heißt du und dein Vater und am besten auch noch deine Mutter. Ein Schuldirektor und eine Psychiaterin."
„Das sind doch erst recht die Personen, die dir helfen können", entgegnet Jake, frustriert darüber, dass Caitlin nicht sieht, wie sehr das Lost & Found die Arme nach ihr ausstreckt, um sie aufzufangen. Sie muss sich nur fallen lassen. Aber sie stolziert weiter, obwohl ihr längst die Gliedmaßen lahm werden.
„Ich habe mit meiner Mutter geredet und sie-"
„Du hast was?" Caitlins Stimme ist so laut, dass Jake zusammenzuckt. Vorsichtig lenkt er das Auto in eine Bucht und parkt. Er kann sich nicht aufs Fahren und auf Caitlins Wutausbruch konzentrieren.
„Sie wird das Jugendamt einbeziehen." Caitlin sieht ihn mit weit aufgerissenen Augen an, sodass Jake es kurz auch mit der Angst zu tun bekommt.
„Sie würde nicht", setzt er an, aber Caitlin unterbricht ihn: „Sie muss, Jake. Sie hat gar keine andere Wahl." Ihre Stimme bricht bei dem letzten Wort und sie schluckt den aufkommenden Kloß im Hals angestrengt hinunter.
Jake runzelt die Stirn, überlegt, was er sagen könnte, um Caitlin zu beruhigen. Wenn sie doch nur sehen könnte, dass sie ihr alle unterstützend zur Seite stehen würden.
„Wenn die das mitkriegen, dass mein Vater nicht für mich sorgen kann, schließen sie ihn weg und schicken mich ins Heim. Wir würden das Haus verlieren, alles verlieren", versucht Caitlin Jake verständlich zu machen, in welcher misslichen Lage sie sich befindet. Sie würde ihren Vater verlieren, vielleicht würde sie ihn nie wieder sehen.
Aber Jake zuckt mit den Achseln, breitet die Arme aus, als wolle er sagen, dass es doch gar nicht so schlecht sei. Caitlin kann nicht fassen, was sie da sieht. Einen selbstgefälligen Arsch, der nicht einmal erkennt, dass er einen Fehler gemacht hat.
„Dein Vater braucht offensichtlich Hilfe, die du ihm nicht geben kannst."
„Das hast du nicht zu entscheiden!" Wütend funkelt Caitlin ihren Gegenüber an, aber Jake will nicht locker lassen.
„Wie lange willst du das noch durchziehen, Cate?", versucht Jake es diesmal ein wenig einfühlsamer, aber ihre Augen verengen sich zu schmalen Strichen.
„So lange, wie ich muss." Erschöpft schüttelt er den Kopf. Wie kann sie nicht sehen, dass sie daran kaputt geht? Dass sie eine Familie braucht, die ihr ein stabiles Umfeld bietet, so wie er es bei den Riveras kennengelernt hat?
„Er sollte sich um dich kümmern, nicht du um ihn."
„Wir sind eine Familie und eine Familie kümmert sich umeinander", erwidert Caitlin nicht weniger wütend als zuvor.
„Was ist mit professioneller Hilfe? Du könntest doch in einer Wohngruppe leben, ähnlich wie das Lost & Found, bis es deinem Vater besser geht."
„Ich will nicht in ein Haus mit lauter fremden Kindern gesteckt werden und irgendwelchen Erwachsenen, die sich aufspielen, als seien sie meine Eltern. Denn das sind sie nicht. Ich habe eine Familie und brauche keine gefakte, so wie ihr."
Jakes Mundwinkel zucken, er lässt die Arme sinken, die Schultern folgen.
„Eine gefakte Familie, ja?", murmelt er, während er zu Boden schaut, suchend nach den nächsten Worten, die er sprechen soll. Doch Caitlin schnaubt nur.
„Du weißt, was ich meine." Jetzt ist Jake es, der verächtlich schnaubt.
„Nein, weiß ich nicht, Caitlin. Denn vielleicht bin ich mit niemandem hier biologisch verwandt, aber sie sind Familie. Meine Familie. Familie ist mehr als die Blutlinie teilen, weißt du? Familie ist Liebe, Freundschaft, Lebenswillen. Familie ist eine Person, die es wert ist, zu deinem inneren Kreis zu gehören. Sie werden nicht definiert durch die rote Flüssigkeit, die durch ihre Adern fließt, sondern durch ihre Handlungen. Und ich bin mit meiner Familie mehr als zufrieden."
Überrascht starrt Caitlin zu Jake, der sie wütend anfunkelt. Für einen Moment glaubt sie, dass er sie bittet, auszusteigen. Stattdessen greift er nach dem Türgriff und entfernt sich selbst einige Meter vom Wagen.
Es ist ein ziehender Schmerz, der sich in ihrer Brust breitmacht, als sie sieht, wie sich Jakes Schultern unkontrolliert heben und senken.
Sie presst die Lippen übereinander, will zu ihm gehen, ihn in den Arm nehmen, sich entschuldigen. Gleichzeitig spürt sie die Wut, die immer noch in ihrem Innern kocht.
Kein Tag, nachdem er ihren Vater gesehen hat, hat er sich schon an Elena gewandt. Sie wird sicher nicht lange warten, um dem Jugendamt Bescheid zu geben, ihren Vater als unfähig darzustellen.
All das, was sie sich in den letzten Jahren mühsam aufgebaut haben, zu zerstören mit Bürokratie und Richtlinien. Caitlin ist weder bereit, ihren Vater noch ihr gemeinsames Leben aufzugeben.
Wenn sie sie wirklich voneinander trennen wollen, würden sie kämpfen müssen, denn Caitlin würde sich sicher nicht einfach so geschlagen geben. Die letzten Jahre waren ein harter Trainer für all die dunklen Momente, in denen sie sich nur auf sich selbst verlassen konnte.
Sie braucht niemand anderen. Nur sich und ihren Vater. Das hat sie sich mehr als einmal bewiesen. Warum also ist Jake unbedingt der Meinung, dass er helfen will? Helfen soll? Sie hat ihn nie darum gebeten.
Trotzdem öffnet auch sie jetzt die Autotür, stapft durch den knirschenden Schnee und legt behutsam die Arme auf Jakes Schulter. Ihr Kinn folgt.
„Es tut mir leid", flüstert sie dicht an seinem Ohr und Jake drückt schwach ihre Hand. „Ich hätte das nicht sagen sollen. Du und die Kinder im Lost & Found seid eine Familie. Ohne Wenn und Aber."
Jake nickt, sagt allerdings nichts. Zu tief liegt die Enttäuschung, dass Caitlin es tatsächlich gewagt hat, solche Worte aus ihrem Mund herauszulassen.
Die Riveras haben ihn zu sich aufgenommen, sich um ihn gekümmert seit er ein kleines Kind war.
Elena hat ihm gezeigt, wie man sich die Schuhe zubindet und Joel hatte sichergestellt, dass er an der besten Grundschule von New Ports einen Platz bekam. Sie haben weder Kosten noch Mühen gescheut, um ihm eine glückliche Kindheit zu bescheren.
Haben seine Bedürfnisse oft über ihre eigenen gestellt, wenn er wegen der Alpträume wieder einmal nicht einschlafen konnte und zu ihnen ins Bett gekrochen war. Ihn geliebt wie ihren eigenen Sohn.
Wenn Jake zurückdenkt, kann er sich an keinen schlechten Tag bei den Riveras erinnern. Sie haben all seine Trauer genommen, ihm geholfen, über sie hinwegzukommen und schließlich einen Vorzeige-Schwiegersohn aus ihm erzogen.
Er ist mehr als stolz über das, was er dank seiner Eltern erreichen konnte und niemand, wirklich niemand würde ihm diesen Stolz wegnehmen können.
„Jake?"
Jake presst die Lippen aufeinander, kann noch nicht sprechen, ohne dass Wut seinen Mund verlässt.
„Es tut mir wirklich leid."
Er nickt, weiß ihre Entschuldigung zu schätzen. Doch erst, als sie die Hand von seinen Schultern nimmt und zu Fuß in die falsche Richtung läuft, weiß er, dass sie sich noch für so viel mehr entschuldigen wollte, als sie bereit war auszusprechen.
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