Smores and more
Nach dem Englischunterricht in der letzten Stunde wartet Jake vor dem Klassenraum auf Caitlin. Verdutzt bleibt sie stehen, sieht sich um, will sichergehen, dass er wegen ihr hier ist. Auf seinem Gesicht zeichnet sich ein breites Grinsen ab und als hätte er ihre Gedanken gelesen, begrüßt er sie: „Ja, ich warte auf dich, Künstlerin."
„Was machst du hier?" Jake zieht die Augenbrauen zusammen, breitet die Arme aus.
„Ich gehe hier zur Schule. Was denkst du, was ich hier tue?"
„Keine Ahnung, ich dachte, du bist schon volljährig und arbeitest im Lost & Found." Caitlin zuckt mit den Achseln und drückt Jake in den nächstgelegenen Raum, damit sie keine Aufmerksamkeit im Gang erregen. Doch Jake lacht so laut auf, dass sich einige Augenpaare nach ihnen umdrehen, während sie hinter der Tür verschwinden. Caitlin steigt die Hitze ins Gesicht.
„Ich weiß nicht, was daran so witzig sein soll. Wie alt bist du denn wirklich?"
„Oh, du hast natürlich recht, gar nicht witzig", sagt er im überspitzt sarkastischen Ton, wird dann aber etwas ernster: „Ich bin achtzehn. Also noch nicht ganz volljährig. Alkoholtechnisch und so", unbeteiligt neigt er den Kopf zur Seite. „Ich bin sitzen geblieben. Wir hatten letztes Jahr sogar Kunst zusammen."
„Was?" Ungläubig starrt Caitlin ihn an, versucht sein bekanntes Gesicht einem Mitschüler aus dem vergangenen zuzuordnen. Aber anscheinend ist er ihr nie aufgefallen. Dabei hätte sie darauf gewettet, dass sie sein Gesicht nicht so schnell vergessen würde. Seinen markanten Kiefer, seine vollen Lippen. Letzte Nacht hat sie davon geträumt, wie er sie anlächelt, ein unschuldiger, aber schöner Traum.
„Ja, du hast mich einen Kunstbanausen genannt." Caitlin prustet los, fängt sich jedoch schnell wieder.
„Das tut mir leid."
„Muss es nicht, war ja die Wahrheit." Jake grinst, zupft am Kragen seiner Holzfällerjacke. „Aber ich bin eigentlich hier, weil ich dir sagen wollte, dass wir heute das Lagerfeuer nachholen. Und wenn du willst, kannst du ein Gedicht oder ein Lied vorbereiten."
„Ehm..."
„Du musst natürlich nicht, wenn du das nicht möchtest. Es ist freiwillig", lenkt Jake sofort ein, der die steigende Panik in Caitlins Augen nicht übersehen hat. „Ich spiele Gitarre, die Kinder singen. Du kannst auch einfach mit einsteigen, wenn du nichts selbst vorbereiten willst."
Caitlin nickt erleichtert vor Dankbarkeit, weil Jake sie auch ohne Worte versteht. Dabei hat er es ziemlich einfach, denn Caitlins Gesichtsausdrücke sind mehr als eindeutig. Als hätte sie ihre Gesichtsmuskeln nicht komplett unter Kontrolle, so oft, wie sie ihr entgleiten.
„Es wird heute etwas länger gehen, aber du würdest mit Smores entschädigt werden, was meinst du?" Jake geleitet Caitlin hinaus auf den Parkplatz, als sie das breite Grinsen auf seinem Gesicht erwidert. Doch dann reißt sie sich zusammen, weil sie ihm nicht ohne Grund eine Uhrzeit genannt hat, zu der sie zu Hause sein muss.
„Ich...ich weiß noch nicht, ich muss das erst abklären."
„Okay, du kannst ja noch bis nachher überlegen. Soll ich dich nach Hause bringen?"
„Was, hast du auf einmal ein Auto?", grinst Caitlin ihn an bei dem Gedanken, wie sie ihm erst vor wenigen Tagen zu Walmart fahren musste.
„Tatsächlich hat mein Vater mir ein vorweihnachtliches Geschenk gemacht, nachdem er mitbekommen hat, dass ich dich an einem Samstag zu Sozialstunden verdonnert habe."
„Oh, das scheint ein sehr gönnerhafter Vater zu sein, den du da hast", stichelt Caitlin, was Jake nicht böse aufnimmt, sondern mit einem Augenzwinkern beantwortet.
„Ja, hat so seine Vorzüge. Also?" Wie gern würde Caitlin auf dieses Angebot eingehen, aber sie kann nicht. Will nicht. Der Zustand ihres Vaters ist zur Weihnachtszeit immer schlimmer als im Rest des Jahres. Manchmal unberechenbar. Sie kann nicht mit Sicherheit sagen, wie er auf eine Veränderung, wie einem Gast im Haus, reagieren würde. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, möchte sie es eigentlich auch nicht testen.
„Lass mich kurz telefonieren, ja?" Kurzum wählt sie die Handynummer ihres Vaters, der nach mehrmaligen Klingeln mit verschlafener Stimme abnimmt.
„Mein Glückskeks, ist alles in Ordnung? Du rufst mich sonst nie an."
„Ja, ja, alles gut. Ich wollte wissen, wie", sie schaut unsicher zu Jake, der sich alle Mühe gibt, die umstehenden Bäume zu beobachten, um Caitlins Gespräch nicht aufmerksam zu belauschen, „wie es dir geht?"
„Ach, mir geht es gut. Wirklich, ich werde heute deine Mutter besuchen gehen. Was meinst du?"
„Nein", schnellt es aus Caitlins Mund und sie atmet tief durch, „lass uns das doch zusammen machen. Vielleicht morgen?"
„Sicher? Oder machst du dir nur Sorgen, dass ich es alleine nicht schaffe?" Caitlin beißt auf ihre Unterlippe, dann seufzt sie.
„Also letzteres", schlussfolgert Mr. Madden und lacht, was eher einem Husten gleicht. „Keine Sorge, ich bleibe zu Hause. Schaue mir meinen Lieblingsfilm an. Ich bin sehr müde. Wahrscheinlich werde ich heute früh ins Bett gehen. Kommst du wie immer?" Für einen Moment zögert Caitlin, schaut zu Jake, der mit zusammengezogenen Brauen konzentriert die Kieselsteine im Beet zählt.
„Ehrlich gesagt", deutet sie an, kann ihren Blick von Jake nicht losreißen, „wäre es in Ordnung, wenn ich heute ein wenig später komme?"
Jake schaut zu ihr rüber, legt den Kopf schief und in Caitlins Gesicht macht sich der Anflug eines nervösen Lächelns bemerkbar.
„Wurde aber auch mal Zeit, dass du aus dem Haus kommst. Aber mach nichts, was dir noch mehr Sozialstunden einbrockt, verstanden?" Caitlin grinst, glücklich über die gute Laune ihres Vaters, glücklich darüber, dass sie heute den Tag ein wenig unbeschwerter genießen kann.
„Verstanden, Dad." Dann legt sie auf, während ein breit grinsender Jake auf sie zukommt, sie in die Arme schließt und einmal umher schwingt. Ein überraschtes Glucksen entfährt ihr und für die wenigen Sekunden, die sie den Boden nicht berührt, fühlt es sich an wie Fliegen.
„Großartig! Dann ab zu den Smores, die warten schon auf uns!" Er nimmt Caitlin bei der Hand und läuft mit ihr zum Auto, als würden sie gegen die Zeit kämpfen, doch eigentlich will Jake nur eines: Keine weitere Minute, die er mit Caitlin beisammen ist, verschwenden.
*
Auf dem Highway drückt er das Gaspedal durch und Caitlin singt ausgelassen mit dem Radio mit. Sie tanzt mit geschlossenen Augen im Sitzen zur Musik und Jake muss sich eingestehen, dass er noch niemals jemanden so attraktiv gefunden hat, wie Caitlin genau in diesem Moment. So frei und glücklich. Als hätte sie eine Bleiweste ausgezogen in der Sekunde, in der sie ins Auto gestiegen ist. Zum ersten Mal hat Jake ihr Lächeln, ihr echtes Lächeln, das ihr bis zu den Augen reicht, gesehen. Und es ist ein Anblick, der sich für immer auf seine Netzhaut eingebrannt hat und den er nie wieder loswerden möchte.
Doch dann verstummt Caitlin, sieht Jake ernst von der Seite an.
„Wie werden Smores eigentlich gemacht?" Überdramatisch saugt er die Luft ein und hält sich seine Brust, als würde er jeden Moment einen Herzinfarkt bekommen.
„Wie kannst du dich Amerikanerin nennen und Smores nicht kennen?" Caitlin schüttelt lächelnd den Kopf wegen seiner Überdramatik.
„Du bist so ein Idiot."
„Hm", erwidert Jake mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen, das Caitlin nicht deuten kann. Dabei glaubt er jetzt schon zu wissen, wofür das Wort Idiot eigentlich in ihrem Wortschatz steht.
„Außerdem ist meine Mutter Italienerin", wirft sie ein.
„Oho, europäische Wurzeln hat die Künstlerin also auch", stichelt Jake grinsend. Während er vom Highway runterfährt, um gleich darauf vor Lost & Found zu parken, beantwortet er nach einer kurzen Pause ihre Frage ernsthaft und sachgemäß: „Es ist ein geröstetes Marshmallow zwischen zwei Keksen und schmelzender Schokolade."
„Klingt nach sehr viel Zucker."
„Ein Zuckererlebnis", korrigiert Jake mit erhobenem Zeigefinger und macht die Autotür auf. Flüchtig hat er den Gedanken, ums Auto zu rennen, um Caitlin die Tür aufzuhalten, entscheidet sich dann aber kurzerhand doch dagegen. Ein Blick zum Frontfenster zeigt ihm, dass die Kinder schon auf sie warten.
„Da sind einige total aufgeregt", bedeutet Jake und nickt in Richtung Esszimmer, in dem die Kinder wild herumlaufen, nachdem sie sie entdeckt haben.
„Dann sollten wir uns besser beeilen." Caitlin stapft um das Auto herum, bevor sie noch einmal stehen bleibt: „Aber du musst mir mit den Smores helfen. Ich bin da genauso unwissend wie die", sie deutet auf das Haus und Jake kichert.
„Du bist unwissender. Aber das ist nicht schlimm, wir kriegen das hin", er zwinkert ihr zu, was Caitlins Knie bei den Schritten zur Haustür unglaublich weich werden lassen. Jake rückt den Kragen seiner Jacke zurecht und will gerade eintreten, doch da wird die Tür von innen bereits aufgezogen und die Meute überfällt ihn regelrecht: „Wir haben mit Elena schon alles vorbereitet."
„Du musst nur noch deine Gitarre holen."
„Das Lagerfeuer brennt schon, beeil dich", ruft ein drittes Kind, aber Caitlin ist nicht schnell genug, um die Stimmen zu den Gesichtern zuzuordnen. Sofort wird sie durch das Haus und zur Lagerfeuerstelle im Garten gezogen. Henry und Mia machen es sich neben ihr bequem und kuscheln sich an, während Caitlin dem beruhigenden Knistern des Feuers lauscht. Kurz darauf kommt auch Jake mit seiner Gitarre, setzt sich gegenüber von Caitlin und beginnt, die ersten Takte zu spielen. Die Kinder stimmen sogleich mit ein, aber Caitlin braucht eine Weile, um den Text aus der hinter gelegensten Ecke ihres Gehirns herauszukramen. Sie ist viel zu abgelenkt von der weichen, aber vollen Stimme, die aus Jakes Kehle dringt. Mia hingegen gibt mit den Fingern Anweisungen, ob höher oder tiefer gesungen werde muss und es kostet Jake alle Mühe, mit seiner Stimme zu folgen. Töne hat er noch nie getroffen.
Gebannt schaut Caitlin zu, wie seine Finger über die Saiten gleiten, seine Hand einen Rhythmus durch Anschlag und Klopfen angibt, der Caitlin vergessen lässt, mit wem sie hier am Lagerfeuer sitzt. Es ist kein trauriges Erlebnis, so wie sie es von Weihnachten gewohnt ist, die Kinder singen aus voller Kehle, lachen dabei. Und sie genießt jede Sekunde davon.
Es dauert keine drei Lieder, da verteilt Elena auch schon die langen Stöcke, auf denen je ein Marshmallow aufgespießt ist. Gleichzeitig halten sie die Äste ins Feuer, das in den Augen aller Kinder tanzt.
Die Sauerei, die entsteht, als sie ihren geschmolzenen Zucker zwischen Schokolade und Kekse schieben wollen, löst bei allen unkontrolliertes Gelächter aus, in das Caitlin nur zu gern einstimmt. Doch ein wenig fühlt sie sich schuldig, dass sie zur Weihnachtszeit einen flüchtigen Glücksmoment erhält, den sie einfangen und verwahren möchte.
Sie rutscht unwohl auf dem Baumstamm hin und her, will sich dennoch nicht anmerken lassen, dass ihr diese positive Stimmung langsam zu viel wird. Jake hilft derweil den Kindern, ihre Hände nicht zu sehr im klebrigen Marshmallow zu versinken, doch das alles klappt eher semi gut. Das Strahlen, das sich aber von den Kinderaugen auf seine überträgt, lässt Caitlins Herz mit jeder Sekunde schneller klopfen.
Wie ertappt schaut sie zu Boden aus Angst, noch rot anzulaufen, wenn sie Jake ansieht. An seine starken Arme denkt, die sie aufgefangen haben im Walmart. Seine liebe Art, wie er ihr seine Jacke überlassen hat, die er auch heute wieder trägt und Caitlin erwischt sich dabei, wie sie das Gefühl des Stoffes gepaart mit dem Geruch von Jakes Parfum vermisst.
„Warum hast du bei keinem einzigen Lied mitgesungen?", fragt Henry und Caitlin muss nun doch vom Boden aufschauen.
„Weil ich sie vergessen habe", antwortet sie ehrlich und erhält einen offenstehenden Mund von dem kleinen Jungen neben ihr.
„Hey", raunt Jakes vertraute Stimme ihr zu und schickt Caitlin damit einen sanften Schauer über den Rücken. „Es ist schon spät, soll ich dich nach Hause fahren?"
Erst jetzt fällt Caitlin auf, dass sie ihren Wagen an der Schule stehen lassen hat. Mit der flachen Hand fasst sie sich an die Stirn.
„Würdest du mich stattdessen zur Schule fahren? Dann kann ich meinen Wagen holen."
„Wie Ihr wünscht, Prinzessin", antwortet Jake und schenkt ihr für diesen Abend ein weiteres warmes Lächeln, das im Schein des Mondes beinahe glitzert.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro