Schmückt den Saal
„Ich habe doch gesagt, dass du dich von ihr fernhalten sollst", ruft Mr. Rivera so laut, dass Caitlin es auch von draußen noch hören kann. Mit hängenden Schultern und sinkendem Mut wirft sie ein Blick auf das hässliche Graffiti.
Es ist verdammt groß, bestimmt drei Meter breit, wenn nicht mehr. Das blutbefleckte Messer und die Drohung tun ihr Übriges. Aber viel schlimmer sind für sie die Schlangen, die bedrohlich ihre Münder aufreißen, um zuzubeißen. Das ist ein Monster direkt aus einem Alptraum. Caitlin begutachtet die Strichführung, versucht, anhand dessen herauszufinden, wer es war, obwohl sie die Antwort im Innern schon kennt.
Konzentriert geht sie näher heran und als sie den Beweis endlich sieht, setzt ihr Herz doch für eine Sekunde aus.
„Nein", keucht sie, den Blick starr auf die Wand gerichtet. In den Schatten hinter dem Monster zeichnet sich eine Sanduhr ab, dessen Sandkörner bereits zu Boden gefallen ist.
Ihre Zeit ist abgelaufen.
Caitlin schreckt zurück, starrt immer noch auf die Sanduhr. Dann ballt sie die Fäuste und ihrem erschrockenen Gesicht weicht die Entschlossenheit.
Jake kommt in dem Moment aus der Tür, als Caitlin losgehen will. Sie ist bereits einige Schritte vom Lost & Found entfernt, als Jake ihr hinterherrennt und sie an der Schulter packt.
„Wo willst du hin?" Caitlin antwortet nicht, starrt nur stumm die Straße hinunter, die in die Innenstadt von New Ports führt.
„Lass uns reingehen, wir kriegen das alles wieder hin. Wir finden heraus, wer das war", versucht Jake sie zu beruhigen, als Caitlin seine Hand abschüttelt.
„Ich weiß, wer es war", presst sie wütend hervor.
„Das ist doch gut. Dann können wir das mit der Polizei klären."
„Nein." Ihre Stimme ist fest und entschlossen, sodass Jake kurz innehält. Er wartet auf eine Erklärung, aber bekommt keine. Stattdessen setzt Caitlin ihren Weg fort, will weiter in Richtung Innenstadt. Jake hält sie an der Hand, bittet sie dadurch wortlos, sich zu ihm umzudrehen.
Sie tut ihm diesen Gefallen, aber ihr Gesichtsausdruck erschüttert ihn bis tief ins Mark. Ihre Augen sind gerötet, als hätte sie stundenlang geweint, während ihre Brauen vor Zorn zusammengezogen sind. Ihre Lippen sind dicht aufeinandergepresst, aus Angst vor dem, was sie sagen könnte.
„Cate, bitte." Jake sieht sie flehend an, verschränkt seine Finger mit ihren. Stutzig schaut Caitlin auf ihre Hände hinunter, dann wieder in sein bittendes Gesicht. Für einen Moment huscht Unsicherheit in ihre Augen, was Jake als Anlass nimmt, sie ein Stück zu sich zu ziehen.
„Wo willst du hin?", wiederholt er und Caitlin wirft einen Blick über die Schulter in Richtung Innenstadt.
„Ich muss zur Galerie", flüstert sie, entzieht ihm ihre Finger und will sich wieder umdrehen, als Jake antwortet: „Ich fahr dich."
Überrascht blinzelt Caitlin ihn an, aber Jake ist schon auf dem Weg zu seinem Auto. Er muss keine Erklärung von ihr hören, um zu wissen, dass ihr das hier wichtig ist. Es ist über ihr gesamtes Gesicht geschrieben in leuchtenden Neonfarben.
Als Caitlin sich auf den Beifahrersitz setzt, ist sie immer noch perplex über die sofortige Einwilligung von Jake, sagt aber nichts.
Schneller als erlaubt fahren sie über die Landstraße, während ihnen dicke Schneeflocken entgegenfliegen wie Pfeilspitzen.
Die Galerie ist nicht weit entfernt, aber von der Straße aus nicht sofort einsehbar, weil sie sich in einem Hinterhof befindet.
Caitlin entweicht ein Keuchen und sie krallt ihre blau lackierten Fingernägel in Jakes Oberschenkel, als sie um die letzte Kurve fahren und von Polizeiautos in Empfang genommen werden, die eine Absperrung zur Galerie bilden.
„Was zum", flüstert Jake und sieht Caitlin gebannt an, die den Kiefer anspannt.
Am liebsten würde sie laut aufschreien, lässt es aufgrund der umstehenden Polizisten aber sein. Wahrscheinlich ist es jetzt besser, keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Wütend drückt sie die Kurzwahl auf ihrem Handy, während sie die Galerie nicht aus den Augen lässt.
„Prinzessin!", ruft es glücklich in ihr Ohr und fährt leise fort: „Ich wusste, du kommst zurück. Hast du endlich eingesehen, dass wir deine wahre Familie sind?"
„Du bist zu weit gegangen, Mason", presst Caitlin zwischen zusammengepressten Lippen hervor.
„Ach, bin ich das, ja? Spiel nicht das beleidigte Kleinkind, Caitlin, und komm zurück. Du wusstest, was passiert, wenn du dich nicht an die Abmachung hältst. Tick. Tack."
Ohne ein weiteres Wort legt sie auf und macht Anstalten, aus dem Auto zu steigen, doch Jake ergreift ihren Arm, hindert sie am Gehen.
„Wenn du jetzt zu ihnen gehst, wird die Polizei erst recht denken, dass du da mit drinnen steckst." Er sieht sie eindringlich an, bis Caitlin sich geschlagen gibt, und die Autotür loslässt.
„Erklär's mir", sagt Jake dann und nickt in Richtung der Polizeiwagen. Caitlin stößt ein Seufzen aus, während sie die Arme verschränkt und sich gegen das Autofenster lehnt, um Jake besser zu betrachten.
Ihr ganzes Leben lang hat sie es geschafft, die Dinge allein zu lösen. Sie hat keine Hilfe gebraucht. Von niemandem.
Aber wie Jake da vor ihr sitzt, sie mit abwartenden Augen ansieht, bereit ist zuzuhören, lässt sie zögern. Es ist das erste Mal, dass sie das Gefühl hat, jemand anderes als die Mitglieder der Malost Gang würden sie verstehen. Und dennoch glaubt sie, ihre besten Freunde, besonders Riley, zu verraten, wenn sie jetzt spricht. Riley und sie waren die letzten Monate unzertrennbar gewesen. Bevor Caitlin entschieden hat, auszusteigen. Bevor sie einen Alleingang dieses Jahr gemacht hat.
„Mason ist der Anführer der Malost", beginnt sie und atmet tief durch. Jake unterbricht sie nicht, lässt ihr den Raum und die Zeit, die sie benötigt, um sich auszusprechen.
„Wir...sie sprayen in ganz New Ports. Seit Jahren schon. Ich habe immer nur zur Weihnachtszeit gesprayed und vor drei Jahren hat mich Riley angesprochen. Sie mochte meine Graffitis und hat mir Mason vorgestellt", eine Gänsehaut läuft ihr über den Rücken bei dem Gedanken daran, wie sie Mason jeden Wunsch von den Lippen abgelesen hat.
„Am Anfang haben wir nur kleine Sachen gemacht, Ampelpfeiler, Straßenschilder, sowas halt. Aber nach einer Weile", sie schluckt, „suchte Mason einen größeren Kick. Er hat sich Privatgrundstücke gesucht. Es war wie eine Challenge. Wer konnte das meiste sprayen, ohne erwischt zu werden?" Ihre Mundwinkel zucken nach oben, als ihr Riley in den Sinn kommt. Sie beide haben die Rücksitze von Bussen mit Edding beschmiert oder unter der blauen Brücke am Hafen ihre Taggs hinterlassen. Das waren Kinderstreiche im Vergleich.
„Ich habe die Schulen, auf denen ich war, besprayed...wie du ja weißt. Aber Mason, das war ihm alles nicht genug. Vor einigen Wochen waren wir unterwegs und er ist eingebrochen in ein Familienhaus. Hat alles durchwühlt, Lampen zerschlagen, die Wände besprayed." Caitlin reibt sich über die Arme, als würde sie frösteln, obwohl sie einen dicken Wintermantel trägt.
„Hat er was gestohlen?", meldet sich Jake zu Wort als ihm die Fragen der Polizistin von gestern wieder einfallen. Caitlins Augen suchen seine und es dauert einen Moment, bis sie ihn fixiert hat.
„Keine Ahnung, vielleicht." Sie zuckt mit den Schultern, „Riley und ich sind abgehauen, sobald er im Haus war. Wir...wir wollten nicht Teil davon sein."
„Riley?"
„Sie ist meine beste Freundin...war...sie war meine beste Freundin. Ich bin aus den Malost ausgetreten am selben Abend und habe meinen Weihnachtselfen gesprayed. Mein erster Alleingang, aber du weißt ja, wie das ausgegangen ist", sie lacht kurz auf, „Mason hat immer gesagt, dass Alleingänge zu gefährlich sind. Dafür haben wir ja einander, um auf uns aufzupassen", sie lächelt schief, als würde sie selbst nicht ganz glauben, was sie sagt.
„Caitlin", setzt Jake an, doch sie schüttelt den Kopf. Er legt ihr eine Hand aufs Knie.
„Du bist nicht erwischt worden, weil du allein warst", versucht er es noch einmal, aber Caitlin lacht.
„Na ja, schon irgendwie. Drei Jahre habe ich mit den Malost gesprayed und wurde kein einziges Mal erwischt. Kaum bin ich allein unterwegs", sie bricht ab, als sie Jakes zusammengezogene Brauen sieht.
„Was ist?" Jake schließt die Augen, schüttelt langsam den Kopf, um sich selbst zu ermahnen. Er kann jetzt nicht weiterreden. Erst müssen sie Caitlin aus diesem Schlamassel ziehen, die mit einem Bein schon im Gefängnis steht, weil sie bei einem Einbruch Mittäterin ist.
„Wir sollten mit meinem Vater sprechen", wechselt er das Thema. „Die Polizei hat gestern von einem Einbruch geredet, bei dem das gleiche Graffiti zu sehen ist. Es wird nicht lange dauern, bis sie auf die Malost Gang kommen."
„Aber", setzt Caitlin an, die überzeugt ist, dass Mason nicht gefasst werden kann, es sei denn, er will es so.
„Caitlin, bitte vertraue mir, okay? Wir müssen mit meinem Vater reden." Jake sieht sie eindringlich an, spricht nicht aus, was sein Vater alles für Caitlin in den letzten Jahren getan hat. Wie oft er sie gedeckt hat für ihre Spray-Aktionen. Mittäterschaft bei einem Einbruch ist etwas völlig anderes. Wenn die Polizei rausfindet, dass Caitlin dabei war und sein Vater sie die vergangenen Jahre beschützt hat, wird auch er vor Gericht stehen und das Waisenhaus wird schließen müssen.
Es ist eine Kettenreaktion, die ihm viel zu viel Angst bereitet, als dass er Caitlin jetzt die Wahrheit sagen kann über den ersten Dezember.
Doch dann nickt Caitlin, was Jake erleichtert aufatmen lässt.
*
„Du hast gesagt, sie ist Teil der Gang", Mr. Rivera reibt sich über seinen kurzen Bart und blickt konzentriert zu Caitlin, die mit gesenktem Kopf im Sessel seines Büros sitzt.
„Ja, aber nicht mehr. Mason ist derjenige, der das gemacht hat. Und ich wette, er hat auch mit dem Einbruch vor wenigen Wochen zu tun. Caitlin ist eine Zeugin", versucht Jake seinen Vater zu überzeugen, der alles andere als begeistert von den Informationen ist, die sein Sohn ihm in den letzten Minuten unterbreitet hat.
Jake hat recht, das Waisenhaus ist in Gefahr, wenn die Polizei Caitlin verantwortlich macht. Schließlich hat Joel der Schülerin mehr als einmal den Hintern gerettet. Ist mit Polizei und Schulverwaltung immer einen Deal eingegangen, hat Besserung versprochen. Davon kann jetzt nicht mehr die Rede sein. Die Beweise sprechen nicht für sie und im Zweifel wird es Aussage gegen Aussage sein.
Mr. Rivera seufzt.
„Gut, versucht, das Graffiti zu entfernen. Die Polizei hat die Beweisaufnahme abgeschlossen. Wir werden den Kindern nichts davon sagen", er hebt mahnend den Zeigefinger und sieht Caitlin und Jake nacheinander eindringlich an.
„Sie freuen sich so auf den Winterball morgen und den werden sie auch bekommen. Wir werden morgen lächelnd mit ihnen feiern", befiehlt er in einem Ton, der keine Widerrede duldet. Dann stützt er sich auf seinen Schreibtisch.
„Und ich lasse mir was einfallen", seufzt er, obwohl er nicht überzeugt ist, dass Caitlin irgendwer noch zur Hilfe eilen könnte. Nicht einmal mehr er.
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