Porträts
„Du warst gestern nicht im Lost & Found." Es ist keine Frage, eher eine Anklage, mit der Mr. Rivera Caitlin in seinem Büro begrüßt.
Sie verschränkt abwehrend die Arme.
„Wenn Sie sich keine Arbeitskräfte leisten können, hätten Sie das auch einfach sagen können."
„Du bist ein richtiger Grinch, Caitlin."
„Was?" Überrascht prescht ihr Oberkörper nach vorn, bereit für einen Angriff, doch Mr. Rivera lässt sich seufzend in den Sessel zurückfallen. Mit Daumen und Zeigefinger massiert er seine Schläfen, bevor er weiterspricht: „Du bist ein Miesepeter. Machst anderen das Weihnachtsfest schlecht, weil es dir selbst nicht gut geht. Anstatt dir Hilfe zu suchen. Hilfe anzunehmen."
Caitlin blinzelt einige Male, mit angehaltenem Atem sieht sie ihren Schuldirektor an, doch dann spürt sie die wütende Hitze in ihrem Magen aufsteigen. Sie verschränkt wieder die Arme, lehnt sich zurück, zieht die Brauen zusammen.
„Hat Ihnen das Ihr Sohn gesagt?"
Mr. Rivera hebt eine Augenbraue.
„Du hast eine ziemliche Nummer bei ihm abgezogen."
„Ich?"
„Siehst du noch jemanden in diesem Raum, der meinem Sohn schöne Augen gemacht hat?"
„Pah!", ruft Caitlin verächtlich aus. „Ich habe gar nichts gemacht." Dann hält sie inne, überlegt, wie es jetzt weitergehen soll. Eine leise Stimme wünscht sich, dass Mr. Rivera recht hat, dass er sie nicht auf den Arm nimmt, dass Jake tatsächlich etwas an ihr findet.
Aber dann schüttelt sie den Kopf. Nein. Es gibt so viele Gründe, weshalb sie und Jake nicht auf diese Ebene steigen sollten. Angefangen damit, dass er sie belogen hat, dass er von ihrem Vater berichtet hat.
Und gleichzeitig schämt sie sich für ihr Verhalten. Über das, was sie gesagt hat. Sie will Jake nicht unter die Augen treten. Sie kann nicht.
„Ich will eine andere Aufgabe, Mr. Rivera." Jetzt hebt er beide Brauen, überrascht über ihren Einfall. Mit den Ellenbogen stützt er sich auf dem Schreibtisch ab und verschränkt die Finger ineinander. Er sieht sie seelenruhig an, in denen Caitlin den Sekundenzeiger der Wanduhr ticken hören kann wie einen Countdown zu ihrem Untergang. Als Mr. Rivera seufzend das Wort ergreift, ist eine Minute vergangen.
„Das ist deine Lösung, Caitlin? Weglaufen?"
„Was? Ich laufe doch nicht weg!" Bestimmt lehnt sie sich im Stuhl zurück, wohlwissend, dass ihr Direktor recht hat.
„Du bekommt keine andere Aufgabe. Du wirst deine Sozialstunden bis Weihnachten ableisten, wie besprochen."
„Aber, Mr. Rivera!"
„Kein Aber. Wir sind hier nicht auf einer Traumreise." Dann lehnt er sich zurück, massiert wieder seine Schläfen und sieht mit einem Mal vollkommen müde aus. Er ist erschöpft von den Nachfragen des Schulamtes, seinen abendlichen Monologen, wie er dieser Schülerin, die da entrüstet vor ihm sitzt, am besten helfen könnte.
Mit einer einzigen Handbewegung wischt er sich übers Gesicht.
„Ich hatte wirklich gehofft, dass dir Lost & Found zeigt, dass Weihnachten auch andere Gefühle hervorbringen kann als Wut."
Caitlin rollt mit den Augen, will nicht mehr hören, dass in ihr so viel Potenzial steckt oder dass sie Mr. Rivera enttäuscht hat.
Denn die einzige Person, bei der sie das interessieren würde, wäre Jake. Allein der Gedanke an ihn lässt ihr Herz erfreut aufspringen, so stark klopfen, als hätte es zehn Energydrinks verdrückt. Sie erwischt sich dabei, wie sie sich wünschte, dass es anders gekommen wäre. Dass Jake sie nicht verraten hat, dass er sie einfach in Ruhe gelassen hätte.
Dass er verstanden hätte.
„Caitlin?"
„Ja, ich hab's gehört", antwortet sie, obwohl sie die letzten Minuten nur Jakes Gesicht vor Augen hat, sein wärmendes Lachen in den Ohren. Alles in diesem Büro scheint so unwirklich.
Sie schüttelt den Gedanken ab und erhebt sich vom Stuhl.
„Ich sehe dich heute Abend?" Caitlin nickt erschöpft, denn eine Antwort, die Mr. Rivera akzeptieren würde, käme sowieso nicht aus ihrem Mund heraus.
*
Als Caitlin nach Hause kommt, liegt ein Flyer auf der Kommode im Flur von der Galerie von New Ports. Es ist deren jährliches Ausschreiben, aber allein der Gedanke daran, lässt ihren Magen sich umdrehen.
„Dad?" Caitlin winkt mit dem Flyer ins Wohnzimmer, in dem ihr Vater eingekuschelt in eine Decke auf dem Sofa sitzt, „hast du den mitgebracht?"
„Ich? Nein, was ist das?", Mr. Madden versucht ein Pokerface zu halten, doch seine hohe Stimme verrät ihn an seine Tochter.
Sie seufzt.
„Du weißt doch, dass die mich nicht nehmen würden."
„Warum nicht? Du bist talentiert", er zeigt auf die Kreideporträts, die eingerahmt über dem Kamin hängen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
„Da war ich fünf und das sind Strichmännchen, Dad."
„Sehr talentiert für fünf", erwidert ihr Vater stolz. „Du solltest dich anmelden, Caitlin, wirklich. Vielleicht kommt nichts bei rum. Aber was, wenn doch?"
„Und was, wenn nicht?", fragt sie, während sie sich zu seinen Füßen setzt und einen Zipfel von der Decke klaut, um sich den über die angewinkelten Knie zu legen.
„Was ist das Schlimmste, das passieren kann?"
„Dass sie nein sagen."
„Und? Dann wissen sie offensichtlich gute Kunst nicht zu schätzen." Caitlin schnaubt bei den Worten ihres Vaters.
„Das ist keine Schulwand, die ich einfach so beschmieren kann, ich", sie stockt als sie den aufgeklappten Mund ihres Vaters sieht, der sie entgeistert anstarrt.
„Deshalb hast du die Sozialstunden bekommen? Du hast die Schule verunstaltet?"
„Verunstaltet ist ein dehnbares Wort. Ich dachte, ich mache ausschließlich Kunst?" Ihr Vater seufzt, grinst dann aber, weil er weiß, dass er diese Diskussion bereits für sie entschieden hat, noch bevor sie gestartet ist. Anschließend wird er ernst.
„Du kannst doch nicht öffentliches Eigentum", er sucht nach einem passenden Wort, „verkünstlern."
„Das Wort existiert nicht, Dad."
„Darum geht es nicht, Caitlin, und das weißt du."
„Es ist schöner als vorher", Caitlin zuckt mit den Achseln bei dem Gedanken an ihr Graffitibild mit dem grinsenden Wichtel.
„Und das glaube ich dir aufs Wort", Mr. Madden legt eine Hand auf das Knie seiner Tochter, die ihn beschämt anlächelt. Sie will ihm nicht diese Sorgen bereiten, gleichzeitig schmerzt die Weihnachtszeit zu sehr, als dass sie es ignorieren könnte. Sie muss ihrer Wut, ihrem Frust irgendwie Ausdruck verleihen, wenn die Kinder und Erwachsenen in New Ports ihr wieder unter die Nase reiben, dass es nichts Schöneres gibt als Weihnachten.
„Danke." Caitlin steht auf, drückt ihren Vater. Dann geht sie in Richtung des Kellers, sodass Mr. Madden die nächsten Sätze lauter werdend sagen muss, damit seine Tochter sie noch hören kann: „Aber du solltest wirkliche Leinwände benutzen. Echte Leinwände. Die, die man kaufen kann!"
Auf dem Weg die Stufen hinunter grinst sie in sich hinein, gibt ihrem allerdings Vater keine Antwort.
Er hat ja recht. Sie sollte sich von diesen kindischen Aktionen verabschieden, aufhören, fremdes Eigentum anzumalen. Ein Stich durchfährt ihre Brust, als sie daran denkt, was Mason gesagt hat. Er erwartet von ihr, die Galerie zu verunstalten, ihren einzigen Bezugspunkt zu ihrer Mutter.
Freiwillig hat sie noch nie einen Fuß hineingesetzt, die Angst ist zu groß, was Caitlin darin vorfinden würde. Sie weiß, dass ihre Mutter einige Bilder an die Galerie verkauft hat, aber gesehen hat sie sie bisher nicht.
Für einen Moment schließt sie die Augen, versucht das nach Glöckchen klingelnde Lachen ihrer Mutter hervorzurufen, dass sie auf dem Hochzeitsvideo so gern hört.
Niemals könnte sie die Galerie verunstalten. Aber vielleicht, vielleicht könnte sie...
Entschlossen greift Caitlin nach einem der zusammengefalteten Bettlaken, die aufgestapelt in der Ecke des Kellers liegen. Seit sie denken kann, darf sie diesen Bereich als ihr persönliches Atelier verwenden. Die Größe des Lakens entspricht der regulären Wand, die sie mit den Malost besprayed.
Es ist genau das Richtige für ihr Vorhaben.
Mit geschlossenen Augen versucht sie sich an Jakes Gesicht zurückzuerinnern. An seine dunklen, dichten Locken, seine vollen Lippen, funkelnde Iris. Er ist verdammt schön. Auch wenn das nicht oft über Männer gesagt wird, so kann Caitlin genau das ohne jegliche Gewissensbisse über ihn sagen. Er ist schön mit seiner makellosen Haut, seinem trainierten Körper, seinem sanften Lächeln.
Und doch weckt der Gedanke daran, ihn auf die Leinwand zu bringen, nicht das Gefühl, das Caitlin benötigt.
Jedes Mal, wenn sie sprayed, spürt sie vor allem eins: Wut. Gefolgt von Trauer.
Die Erinnerungen an Jake lösen keins dieser Emotionen aus. Es ist nicht das, was Caitlin normalerweise auf die Leinwand bringt, nicht das, was sie als Künstlerin ausmacht.
Es ist wie ein Blitzschlag, der sie unvermittelt trifft, als sie über die Frage nachdenkt, wer sie eigentlich ist. Noch bevor sie einen klaren Gedanken darüber fassen kann, ist auch schon der erste Strich mit der Spraydose gesetzt und Caitlin kann nicht mehr aufhören, die Farben in Ebenen übereinander zu legen, bis das zwei Mal zwei Meter Bettlaken gefüllt ist.
Nach dem letzten Strich weiß sie nicht einmal mehr, wie lange sie hier unten im Keller verbracht hat. Nur, dass sie verdammt erschöpft ist, und stolz. Stolz auf das erste, wirklich ehrliche Porträt, das sie jemals gesprayed hat.
Es zeigt sie selbst und doch auch nicht. Die eine Hälfte ihres Gesichts ist in Schatten gelegt, deutet die Ansätze der Gesichtszüge ihrer Mutter an, die wie ein Geist über ihr schwebt. Die andere Gesichtshälfte ist farbenfroh, beinhaltet ihren Vater, wie er traurig zur linken Seite hinüberschaut. Um sie herum wächst der Rhododendron wie eine Krone, die sich niemand aufzusetzen traut und im Hintergrund sind verschwommen Sterne und Christbaumkugeln zu erkennen.
Caitlin wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, lächelnd sieht sie auf das bemalte Laken herab. Doch im selben Moment spürt sie die ersten Zweifel in ihrem Kopf. Es sind nur kleine Samen, die aber innerhalb weniger Minuten zu meterhohen Zweifelpflanzen wachsen und ihren Stolz in den Schatten legen.
Hilflos presst sie die Lippen aufeinander, drückt sich die Fäuste gegen die Augenhöhlen und sinkt auf die Knie.
Das ist kein Porträt, das sie bereit ist, jemandem zu zeigen. Das ist ein Bild von ihr, zu persönlich, zu intim, als dass es jemals die vier Wände des Kellers verlassen sollte.
Kontrolliert atmet sie aus, als sie spürt, wie Mr. Madden seiner Tochter behutsam eine Hand auf die Schulter legt.
„Wow", flüstert er und Caitlin lässt die Arme sinken, lässt das Porträt noch einmal auf sich wirken. Den sehnsüchtigen Blick ihres Vaters, den verzweifelten Blick ihrer Mutter. Und sie mitten drinnen.
Es ist das erste Mal, dass sie ihr eigenes Werk als Kunst beschreiben würde. Es hat so viel Tiefgang, so viele Bedeutungen und Strukturen, die es einzigartig machen. Es abheben lassen von den herkömmlichen Graffitis, die sie bisher gemacht hat.
Ihr rechter Mundwinkel zuckt kurz nach oben, als sie bemerkt, dass sie endlich ihren Stil gefunden hat.
„Das ist unglaublich, Caitlin. Wirklich unglaublich." Caitlin greift nach der Hand ihres Vaters, drückt sie leicht.
„Danke, Dad." Und damit meint sie nicht nur das Kompliment von gerade eben, sondern auch den Flyer, den er mitgebracht hat. Den Mut, den er ihr gemacht hat. Die Unterstützung, die er ihr gegeben hat. Ohne ihn wäre sie nur eine halb so gute Künstlerin. Wenn überhaupt.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro