Pläne
„Jake?", ertönt es aus dem Arbeitszimmer seines Vaters, als er daran vorbeigeht. Sofort bleibt er stehen und lehnt sich lässig mit verschränkten Armen an den Türrahmen.
„Na, alter Mann?", fragt er grinsend, was Mr. Rivera nur zu einem Schnauben veranlasst.
„Wer hat dir vergessen Manieren beizubringen? Mamá?"
„Ich glaube, das warst eher du", stichelt Jake zurück und drückt sich vom Türrahmen ab. Entspannt schlendert er zum Schreibtisch seines Vaters und hüpft mit dem Hintern auf die Tischplatte.
„Wie soll ich", beginnt Mr. Rivera, aber er kennt die Antwort bereits, die sein Sohn ihm grinsend entgegenbringt: „Gar nicht."
Denn Jake verdeckt mit seinem Körper den Bildschirm, den Mr. Rivera bis eben noch so verzweifelt angeschaut hat.
„Es ist zum Haareraufen", erklärt er entschuldigend, aber Jake versteht auch so.
„Plant sie wieder etwas?" Jake hebt die Schultern. Er kennt den Deal, den er mit seinem Vater eingegangen ist, damit Caitlin Sozialstunden hier ableisten darf.
„Ich weiß nicht."
„Jake", flüstert Mr. Rivera, als er den ausweichenden Blick bemerkt. Er kennt seinen Sohn viel zu gut, als dass Jake etwas vor ihm verbergen könnte.
„Wir haben dich nicht zu einem Lügner erzogen."
„Ich lüge nicht", beharrt Jake, seinen Blick diesmal fest auf seinen Vater gerichtet, während seine Finger gegen die Tischplatte drücken. „Ich weiß es wirklich nicht. Vor einigen Tagen hatte sie einen seltsamen Anruf, ihn aber abgewimmelt."
„Von wem?"
„Keine Ahnung, ihrem Freund oder so", murmelt Jake und beißt sich auf die Unterlippe, um den stechenden Schmerz in der Brust zu übertönen.
„Aus der Gang?"
„Ich weiß es nicht, okay?", ruft Jake wütend, wirft gleichzeitig die Arme in die Luft. Dann atmet er tief durch und bemüht sich um einen ruhigeren Ton: „Ich kenne nicht ihre ganze Lebensgeschichte, du hast ihre Akte."
„Romantische Beziehungen sind nicht angegeben."
„Ja, weil da nur Schulsachen drinnenstehen", grummelt Jake und bekommt den Gedanken nicht mehr aus dem Kopf, dass Caitlin mit ihrem älteren Freund, der sicher fest im Berufsleben steht und ihr jeden Wunsch von den Lippen abliest, gemeinsam die Abende verbringt. Wahrscheinlich über ihn und die Tatsache, dass er die Jahrgangsstufe wiederholen muss, lacht. Nicht, weil Caitlin sich darüber lustig machen würde, aber weil sie so nett ist, dass sie in das Lachen ihres Freundes mit einsteigt.
Das Stechen in der Brust wird stärker, so sehr Jake es auch zu verdrängen versucht. Mr. Rivera begutachtet seinen Sohn mit einem aufmerksamen Blick.
„Hattest du gehofft, dass sie single ist?"
„Was? Nein!", beleidigt verschränkt Jake die Arme vor der Brust, schaut zur Seite. Mr. Rivera gibt seinem Sohn die Zeit, die er braucht, um seine Gedanken zu ordnen.
„Vielleicht", räumt Jake dann kleinlaut ein, was Mr. Rivera mit einem anerkennenden Schmunzeln quittiert.
„Du hast deinen alten Herrn also reingelegt, damit du sie besser kennenlernen kannst", fasst er die Situation zusammen und kann nicht umhin, als ein wenig stolz darüber zu sein, dass sein Sohn ihn ausgespielt hat.
„Ich halte mich an das Versprechen."
„Ich weiß", antwortet Mr. Rivera bestürzt und ist zum ersten Mal in seinem Leben traurig darüber, dass er und seine Frau ihren Sohn mit diesem hohen Pflichtgefühl großgezogen haben. Jake würde seine Gefühle nicht im Weg stehen lassen für das Versprechen. Und dennoch hofft ein klitzekleiner Teil in Mr. Riveras Herz, dass er es doch tut.
Das Geräusch, wie die Eingangstür ins Schloss fällt, lässt beide Männer aufhorchen.
„Die Pflicht ruft", murmelt Jake und macht sich auf den Weg in Richtung Flur, in dem Caitlin sich gerade die weinrote Bommelmütze vom Kopf zieht, die ausgesprochen gut zu ihrem Teint und ihren dunklen Haaren passt. Wieder beobachtet er, wie sie den bodenlangen Spiegel im Flur peinlich genau vermeidet und sich davon abwendet.
Jake beißt sich auf die Unterlippe. Noch so ein Mysterium, das er aufdecken muss. Schließlich hat er seinem Vater versprochen, herauszufinden, was das mit Caitlin und Weihnachten auf sich hat.
In den drei Wochen muss er sich mit ihr anfreunden, ihr Geheimnis lüften und es seinem Vater verraten und Jake sticht es jetzt schon ins Herz, wenn er daran denkt.
Sie wird ihn hassen, wenn sie tatsächlich irgendwann das Vertrauen gefasst hat, und bereit ist, ihm zu erzählen, was es ist. Was es ist, das sie nachts wachhält und regelmäßig in die Schule einbrechen lässt zur Winterzeit.
Er will ihr helfen und das scheint der einzige Weg zu sein. Sie zu fragen, was mit ihr ist. Ob sie Hilfe braucht. Wie ihr geholfen werden kann.
Und gleichzeitig weiß Jake, dass Caitlin ihm niemals verzeihen wird.
„Hey", begrüßt er sie mit einem Lächeln, das mehr Unsicherheit als Zuversicht ausstrahlt, nachdem sie die Jacke und Schuhe ausgezogen hat. Caitlin legt den Kopf schief.
„Alles in Ordnung?"
„Ach ... ja. Alles bestens." Jake winkt ab, bemüht sich um einen unbeschwerten Tonfall, ist sich aber nicht sicher, ob ihm das wirklich gelingt. Doch dann erblickt er die einzelnen Schneeflocken, die auf Caitlins Jacke langsam schmelzen.
„Es schneit?", wechselt er das Thema, während seine Augen vor Begeisterung leuchten.
„Ehm, ja", erwidert sie unsicher, „aber wolltest du heute nicht den Dekowettbewerb abhalten?"
„Ach was, das kann warten. Hee, Leute!", ruft er begeistert ins Haus hinein und sofort ist von oben Getrampel zu hören. Kurz darauf laufen Mia, Sophie, Henry und Liam die Treppe runter.
Emma kommt aus dem Wohnzimmer, rollt mit den Augen, während sie mit dem Zeigefinger eine ihrer blonden Strähnen einrollt.
„Was ist?", fragt Alexander, der plötzlich neben Caitlin steht, weil er aus der Gästetoilette herauskommt.
Jakes Augen funkeln herausfordernd.
„Wir machen eine Schneeballschlacht." Die Kinder schreien begeistert auf, sodass Caitlin sich vor Schreck und vor Lautstärke die Ohren zuhält, währen die anderen um sie herumschwirren, ihre Schuhe und Mäntel holen und in den Garten flitzen.
„Die sind ja schneller, als man gucken kann", bemerkt Caitlin, doch Jake lacht nur.
„Du wirst schon sehen." Er führt sie raus auf die weite Fläche, auf der sich die Kinder in zwei Teams eingeteilt haben. Alexander errichtet mit seiner Gruppe bereits die Anfänge einer Barrikade, während Emmas Team Munition vorfertigt.
„Du hast die Wahl; Angriff oder Verteidigung?"
„Was?"
„Jetzt sag mir nicht, dass du noch nie eine Schneeballschlacht gemacht hast", witzelt Jake, kann aber an Caitlins irritiertem Blick sofort erkennen, dass sie es ernst meint.
„Verdammt, also, ehm, Crashkurs. Wirf so viele aus dem gegnerischen Team mit Schneebällen ab. Das Team, das zuerst komplett abgeworfen wurde, hat verloren." Caitlin nickt, und sobald sie sich umdreht, um zu Alexanders Gruppe hinzuzustoßen, breitet sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus. Es stimmt zwar, dass sie noch nie an einer Schneeballschlacht teilgenommen hat, aber im Völkerball ist sie die Beste ihrer Klasse. Und wo war hier schon der Unterschied?
Das Feld wird mit einigen Holzscheiten markiert und vom Seitenrand aus ertönt eine Trillerpfeife, die den Start vorgibt. Jakes Team wirft einen Schneeball nach dem anderen und Alexander ruft wild Kommandos zu Noah und Mia, dass sie hinter der Barrikade weiter Munition formen sollen, während er, Caitlin und Henry auf Angriff gehen.
Nur haarscharf wirft sie an Jake vorbei, der sie überrascht mustert.
„Du hast mir nicht gesagt, dass du so gut bist im Werfen", ruft er rüber, was Caitlin mit einem Schulterzucken beantwortet.
„Ich kann doch nicht alle meine Stärken sofort verraten." Jake nickt wissend über ihre Antwort. Aber kurz darauf kommt ein boshaftes Lächeln zum Vorschein, als er hinter seinem Rücken vier Schneebälle hervorholt, die er nacheinander in Caitlins Richtung wirft. Erschrocken duckt sie sich vor dem ersten weg, schafft es gerade noch so, dem zweiten und dritten auszuweichen und sich bäuchlings hinter die Barrikade zu werfen, um sich auch vor dem letzten Wurf zu schützen.
„Na warte", flüstert sie und bekommt sogleich von Mia zwei Schneebälle in die Hände gedrückt.
„Mach ihn fertig", sagt sie und Caitlin nickt.
„Alles klar. Alexander, gibst du mir Rückendeckung? Henry, du von der Seite?" Die Jungs nicken und so rennen die drei gleichzeitig los, schreiend, brüllend in Richtung der gegnerischen Gruppe.
Jake ist wie gelähmt von diesem Anblick, braucht einen Moment, um zu verstehen, was da gerade vor sich geht. Dass sich Caitlin mit seinen Geschwistern gegen ihn verschworen hat, denn als die Schneebälle geworfen werden, fliegen sie alle nur in seine Richtung. Mit einem Hechtsprung manövriert er sich aus der Schusslinie, doch bevor er wieder aufstehen kann, wirft sich jemand auf seinen Rücken und drückt ihn damit weiter in den Schnee.
„Gewonnen", flüstert Caitlin dicht an seinem Ohr und reckt die Faust hoch in die Luft. Alexander und Henry jubeln, sodass auch Mia und Liam sich hinter der Barrikade hervortrauen und fröhlich aufspringen.
„Na warte", gibt Jake lachend zurück, dreht sich unter Caitlin auf den Rücken, packt sie an der Hüfte, greift mit seinen Beinen um ihre und ehe sie sich versieht, haben die beiden eine Hundertachtzig-Grad-Drehung vollzogen.
Jake reibt ihre Wange mit dem letzten Schneeball ein, den er hat, aber Caitlin holt bereits zum Gegenangriff aus, sammelt den umliegenden Schnee in ihren Händen und lässt ihn seinen Hals herunterbröseln. An der Halsschlagader schmilzen die zusammengepressten Schneeflocken sofort, dennoch schüttelt Jake sich vor Kälte.
„Okay, okay", er hebt beschwichtigend die Hände. Caitlin stützt die Ellenbogen in den Schnee. Grinsend sieht sie zu Jake, der sich den letzten Schnee aus seinem Pelzkragen klopft, als sie bemerkt, dass er immer noch rittlings auf ihrem Schoß sitzt. Auf der Stelle läuft ihr Gesicht rot an und in diesem Moment registriert auch Jake die Szenerie, in der sie sich befinden, jetzt, wo das Lachen versiegt und der Stille Platz gemacht hat.
Prompt steht Jake auf, kratzt sich peinlich berührt am Hinterkopf, bevor er Caitlin die Hand anbietet.
Eine Zeit lang stehen sie sich so gegenüber, beide steif in ihren Bewegungen und unsicher in ihren Worten, die ihnen unausgesprochen im Kopf herumschwirren.
„Wenn ihr jetzt ein Paar seid, heißt ihr dann Jaitlin oder Cake?", löst Henry die Stille mit seiner plumpen Frage, die er grinsend stellt.
„Was?", fragt Caitlin überrascht.
„Cake" antwortet Jake zeitgleich. Stolz grinst er Caitlin an, die immer noch verwirrt zu Henry schaut.
„Wir sind kein Paar", erklärt sie dem Neunjährigen, der die Arme vor der Brust verschränkt.
„Warum?" Erstaunt reißt Caitlin die Augen auf, sieht hilfesuchend zu Jake, der in herzhaftes Gelächter verfällt und dann Caitlin herausfordernd anfunkelt: „Ja, Caitlin, warum?"
Belustigt schaut sie genauso provokativ zurück. Ihr gefällt das Spiel, auch wenn sie sich sicher ist, dass keiner von ihnen beiden als Gewinner heraustreten wird.
Dabei würde sie sich freuen, Jake näher zu kennen, ihn wirklich zu kennen. Aber das würde bedeuten, dass sie ihre Geschichte preisgeben muss und das kann sie nicht. Nicht zwischen all diesen Waisenkindern hier. Nicht in der Schule, wenn die Lehrer in den Gängen Schülergespräche aufschnappen. All das könnte dazu führen, dass ihre Geschichte an die falschen Ohren gerät und das kann sie sich nicht leisten.
Der Preis ist zu hoch, um dieses Spiel zu spielen, selbst wenn der Gewinn Jake wäre.
Und obwohl Caitlin sich im jetzigen Moment mehr denn je wünscht, ihm näher zu kommen. Es geht nicht.
Also lässt sie die Schultern wieder sinken und auch Jake zieht seinen herausfordernden Blick zurück. Spiegelt ihre Entmutigung.
Er versteht, was sie denkt, ohne dass sie ein Wort sagen muss. Denn Jake konnte schon immer gut zwischen den Gesichtszügen lesen. Er braucht keine Erklärung, erwartet keine. Stattdessen klatscht er in die Hände und wendet sich den umstehenden Kindern zu.
„Wollen wir schonmal die Tische vorbereiten?" Dankbar nickt Caitlin über diese Abwechslung, wobei Henry grummelnd folgt. Denn auch wenn die beiden sich noch nicht bereit fühlen, ist Henry sich sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist. Und vielleicht muss er ein wenig nachhelfen. Die beiden in die richtige Richtung schubsen. Und wenn reines Nachfragen noch nicht genug ist, dann kommt er eben mit einem anderen Plan um die Ecke. Jake hat eine Freundin wie Caitlin verdient und Caitlin hat sicher auch jemanden wie Jake verdient. Henry grinst in sich hinein, als er schweigend die ersten Schritte für seinen nächsten Plan schmiedet.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro