Morgen Kinder, wird's was geben
Es ist ein sanfter Duft nach Zimt, der Jake in die Nase steigt und ihn dazu verleitet, in die Küche zu gehen. Denn, wenn es einen Geruch gibt, den er mit Weihnachten verbindet, ist es dieser. Doch als er durch den Türrahmen kommt, ist einleuchtend, warum er diesen Geruch durch das ganze Haus riechen konnte. Liam und Mia kriechen auf allen vieren über die Fliesen und schieben mit ihren Händen verschüttetes Zimtpulver zusammen.
„Was veranstaltet ihr denn da?", fragt Jake mit einem verschmitzten Grinsen. Augenblicklich drehen sich Mia und Liam zu ihm um, ihre Gesichter werden rot, reden tun sie aber nicht.
„Ihr wisst doch, dass die Küche heute und morgen tabu ist. Es gibt nur eine Ausnahme und die kennt ihr", sagt Jake, während er Handfeger und Schaufel aus dem Wandschrank nimmt und seinen Geschwistern beim Auffegen hilft.
„Außer Elena bittet uns darum", murmelt Mia genervt, die von Liam mit großen Augen angestarrt wird. Bevor Jake sie aber mit einem strengen Blick ansehen kann, hören sie, wie die Haustür aufgeht und Caitlins ruhige Stimme zu vernehmen ist, die laut „Hallo" ruft.
„In der Küche", antwortet Jake, damit sie sie sofort finden kann, nachdem sie Schuhe und Jacke abgestreift hat.
„Oh, was ist hier denn passiert?" Überrascht begutachtet Caitlin die braune Pulverlache auf dem Boden, nimmt ohne Umschweife einen feuchten Waschlappen aus der Spüle und hilft dabei, das Pulver aufzuwischen.
„Sie wollten die Überraschung für morgen herausfinden", sagt Jake tadelnd mit hochgezogener Augenbraue und auch Caitlin stützt nun die Hände in die Taille.
„Ach, ist das so?", fragt sie und funkelt die beiden Kinder belustigt an. Liam schaut schnell zu Boden, während Mias Gesicht nur noch röter wird, was Caitlin innerlich auflachen lässt.
„Na gut, wir machen das hier schon. Verschwindet", sagt sie grinsend, wohlwissend, dass die beiden nicht sehen dürfen, was sie in ihrer Tasche mitgebracht hat.
Jake schaut sie überrascht an, verfällt aber sofort in ein erleichtertes Lachen, als Caitlin auf ihren Beutel deutet.
„Ich musste durch sechs Läden stöbern, bis ich ihn endlich gefunden habe. Also... sei dankbar", erwidert Caitlin, als sie den verpackten Weihnachtsbart aus dem Jutebeutel holt und ihn Jake an die Brust drückt. Dieser hebt ihn hoch, als würde er damit anstoßen wollen und verstaut ihn sogleich im Keller bei den restlichen Geschenken.
Währenddessen versucht Caitlin sich weiter darin, den Zimt aufzuwischen, was sich als schwieriger herausstellt als gedacht. Durch den feuchten Lappen klebt er zusammen und lässt sich besser über den hellen Fliesenboden verteilen als aufwischen.
„Warum habt ihr überhaupt kiloweise Zimt da?", murmelt sie, nachdem Jake wieder neben ihr hockt. Mit einer gekonnten Handbewegung zieht er einen zusammengefalteten Zettel aus seiner hinteren Hosentasche und breitet ihn vor ihnen aus.
„Wir machen heute das hier", er zeigt auf das ausgedruckte Rezept für einen weißen Winterkuchen, der ein wenig einer Hochzeitstorte ähnelt.
„Ach, eine Tort-", doch bevor Caitlin das Wort zu Ende aussprechen kann, hält Jake ihr seine Hand vor den Mund. Den anderen Zeigefinger legt er an die Lippen und bedeutet ihr, leise zu sein. Dann schaut er vorsichtig um die Ecke, nur um genau das vorzufinden, was er erwartet hat: Seine Geschwister lauern im Flur, bereit, jede neue Information aufzunehmen.
„Abmarsch", befiehlt Jake streng und zeigt die Treppe hoch ins erste Stockwerk. Anschließend geht er seufzend zu Caitlin zurück in die Küche. Gemeinsam werfen sie auch den restlichen verschütteten Zimt in den Müll.
„Das Dessert ist jedes Jahr eine Überraschung und dieses Jahr machen wir das hier. Versuch, es am besten nicht laut auszusprechen, damit die", er zeigt mit dem Daumen hinter sich, „es nicht mitbekommen."
Caitlin nickt.
„Habt ihr denn überhaupt noch Zimt?", fragt sie, während sie skeptisch auf den Mülleimer schaut, in dem nicht anderes mehr zu sehen ist als das weihnachtliche Gewürz.
Jake kratzt sich am Kopf.
„Das ist eine gute Frage, ehrlich", lenkt er ein, „hoffentlich im Keller." Es klingt eher nach einer Frage statt einer Aussage. Schnell durchwühlt er die Schränke und findet kurz darauf zwei Packungen. Triumphierend hält er sie in die Höhe: „Sollte reichen."
Caitlin grinst, sieht sich das Rezept noch einmal an.
„Hmm, hier steht, wir sollen frische Orangen verwenden." Irritiert schaut sie sich in der Küche um, aber in der Obstschale auf der Kücheninsel befinden sich nur Nektarinen.
„Dort", Jake zeigt auf die Schale.
„Du weißt schon, dass Orangen anders aussehen, oder?", tadelt ihn Caitlin mit einem schiefen Lächeln. Jake zuckt mit den Schultern.
„Sie sind rund. Sie sind orange. Orangen eben."
„Das sind Nektarinen", klärt sie ihn lachend auf und Jake sieht sie entgeistert an.
„Mach keine Witze, Caitlin. Das hier ist mir echt wichtig", fordert er, aber seine Stimme wird mit jedem Wort unsicherer. Sie presst die Lippen zusammen, um nicht laut loszuprusten, und schüttelt entschuldigend den Kopf.
„Nicht dein Ernst?" Er reibt sich über das Gesicht, während er in Gedanken bereits nach einer passenden Lösung sucht. Es ist zu spät, um jetzt noch einmal loszufahren. Bis sie wieder hier sind, muss Caitlin schon gehen und er braucht ihre Hilfe unbedingt bei der Mascarpone-Creme. Innerlich würde er sich am liebsten in den Hintern treten. Doch dann entfährt ihm ein ungläubiges Lachen.
„Das war so klar, dass etwas schiefgeht", sagt er und stützt seine Hände in seine Hüften. „Wir improvisieren. Nutzen das, was wir haben. Und das sind...", er sieht bestürzt in die Obstschale, „Nektarinen."
„Du bist der Küchenchef", erwidert Caitlin grinsend und schnappt sich die Früchte, um sie durchzuschneiden. Schließlich muss sie frischen Orangensaft aus ihnen pressen.
Jake nimmt sich die Schokolade aus dem Schrank für den zweiten Schritt und Caitlin sucht für nach einer Möglichkeit, Nektarinen möglichst effizient zu Saft zu verarbeiten.
„Ich habe", Jake räuspert sich, überlegt, ob er es ansprechen soll oder ob es Caitlin falsch auffassen könnte, „ich habe gestern gesehen, dass die Galerie einen Wettbewerb ausschreibt." Er hockt vor dem Küchenschrank, mit dem Rücken zu Caitlin schaut er angestrengt zwischen die Regale.
Caitlin seufzt unbeteiligt, während sie die halbierten Nektarinen über einem Sieb ausquetscht, weil sie keine Presse gefunden hat.
„Machen sie jedes Jahr."
„Hast du dich angemeldet?", will Jake wissen, der nun dabei ist, Zartbitter- und Vollmilchschokolade mit Butter in einem Wasserbad zu schmelzen. Sie stehen Rücken an Rücken und doch kann er ihre Anspannung fühlen. Sie ist wie ein schweres Tuch, das sich über die gesamte Küche ausbreitet, ihn innerlich zu Boden zwingt.
„Die Anmeldefrist ist vorbei." Caitlin schluckt, bevor sie schnell abwinkt und sagt: „Ich hätte mich eh nicht angemeldet."
„Oh? Warum nicht?" Jake dreht sich zu ihr um, wartet darauf, dass sie es ihm gleichtut. Aber auf ihren Ausdruck ist er nicht vorbereitet. Es ist purer Schmerz, der sich durch ihr Gesicht zieht und Jake fürchtet, dass sie sich physisch verletzt hat, sucht ihren Körper bereits nach Blutspuren ab. Doch da ist nichts. Lediglich der innere Schmerz, der so vollkommen nach außen gestülpt wurde, dass Jake die Luft anhält, aus Angst, etwas Falsches zu sagen.
„Meine Mutter", beginnt Caitlin und realisiert, dass sie das erste Mal seit Jahren diese Worte in den Mund nimmt, „sie hat da mitgemacht. Mehrfach gewonnen."
Jake würde ihr seinen Glückwunsch aussprechen, doch ihre gequälten Gesichtszüge hindern ihn daran.
„Die Gewinner der letzten Jahre werden zu Weihnachten ausgestellt und", sie räuspert sich, blinzelt einige Male, „nicht so wichtig." Stumm wendet sie sich wieder ihren Nektarinen zu, nur um zu realisieren, dass sie bereits alle ausgepresst hat. Caitlin klopft mit der flachen Hand leicht auf die Tischplatte und dreht sich dann zu Jake um, der sie weiterhin unentwegt ansieht. Sie kann seinen Gesichtsausdruck weder deuten, noch einordnen.
„Was muss als Nächstes getan werden?" Überrascht von dem schnellen Themenwechsel blinzelt Jake und wendet sich dann rasch dem Rezept zu.
„Du könntest den Teig schon einmal anrühren. Wenn die Schokolade fertig geschmolzen ist, kommt sie mit hinein." Er versucht, so normal wie möglich zu klingen, obwohl ihm mehr als eine Frage auf der Seele brennt.
Schweigend schlägt Caitlin die Eier auf, schüttet die restlichen Zutaten in die Schüssel und rührt die Schokolade unter, die Jake vorsichtig eingießt. Der fertige Teig wird auf drei runde Kuchenformen verteilt und in den vorgeheizten Ofen geschoben.
Jake nutzt die Zeit, um die Mascarpone Creme vorzubereiten, bei der Caitlin ihm problemlos zur Seite steht und den Nektarinensaft gleichmäßig hinzufließen lässt. Jake verrührt die Zutaten und wirft ihr dabei in unregelmäßigen Abständen einen Blick zu. Während Caitlin konzentriert das Eigelb vom Eiweiß trennt und ihre Hände mit den Eierschalen nicht aus den Augen lässt, flüstert sie: „Ich war noch nie dort."
Jakes Ohren zucken bei ihren Worten. Irritiert sieht er sie an, wie sie ihn von der Seite kurz beobachtet, um daraufhin den Blick sofort wieder auf die Eierschalen zu lenken.
„In der Galerie, meine ich." Sie atmet tief durch und lässt Eigelb und Eiweiß in die davor gesehenen Schälchen fließen. Dann schlägt sie das nächste Ei auf und wiederholt den Vorgang.
„Ich weiß gar nicht, was da drinnen zu sehen ist", sie lacht ironisch auf, „die ganze Zeit habe ich es vor den Malost gehütet wie einen seltenen Schatz, dabei weiß ich gar nicht, was er birgt." Jake geht vorsichtig einen Schritt auf Caitlin zu, nähert sich wie in Zeitlupe, um sie nicht zu verschrecken.
Doch dann lässt sie die Hände sinken und schaut zu Jake, der sich ertappt fühlt und sofort innehält wie eine Katze.
„Ich habe Angst", flüstert sie ihm direkt ins Gesicht, „Angst, was dort wartet. Was sie gemalt hat."
„Deine... deine Mutter?", fragt Jake leise und geht auch den letzten Schritt auf Caitlin zu. Ein weiterer wäre nicht möglich, ohne sie zu berühren, doch auch jetzt kann er schon ihren seichten Atem auf seinem Kinn spüren, wenn sie spricht.
„Womit hat sie wohl gewonnen?", flüstert Caitlin und sieht Jake fragend an, der sich wünschte, die Antwort zu kennen. Er war einige Male in der Galerie, hat sich staunend die Gemälde angesehen, doch nie auf die Namen der Künstler geachtet. Der Gedanke daran, dass er die Bilder von Caitlins Mutter wahrscheinlich gesehen hat, so etwas Intimes gesehen hat, von dem sie nichts weiß, lässt ihn erschaudern.
„Du solltest es dir ansehen", flüstert Jake und drückt vorsichtig ihre Hand. Überrascht schaut Caitlin auf ihre Hände, verschränkt die Finger ineinander, genießt das Kribbeln, das dadurch in ihre Brust geschickt wird. Doch dann lässt sie ihn los, wendet sich ab.
„Lieber nicht. Es kann nur weh tun."
*
„Was ist eigentlich mit Jake? Wolltet ihr euch morgen sehen?"
„Nein", kommt die Antwort viel zu schnell aus Caitlins Mund, sodass ihr Vater sie misstrauisch ansieht. „Wir beide sind doch verabredet. Wie jedes Jahr", versucht sie, im nächsten Atemzug abzulenken, und setzt sich zu Mr. Madden auf die Couch, der ihr einen Arm um die Schulter legt und sie damit näher zu sich heranrückt.
„Erzähl deinem alten Herren, was vorgefallen ist."
„Du bist noch nicht so alt, Dad", lacht Caitlin und schlägt ihrem Vater spielerisch aufs Knie.
„Ich bin mehr als doppelt so alt wie du, zähle ich da nicht schon zu den alten Knackern?"
„Vielleicht", murmelt sie spitzbübisch und grinst.
„Also", holt Mr. Madden das Gespräch wieder auf seine Anfangsfrage zurück, „was ist passiert?" Caitlin atmet bewusst laut aus, verbindet es mit einem langen Seufzen, bevor sie ihren Kopf an die Schulter ihres Vaters lehnt.
„Er wollte wissen, warum ich nicht beim Wettbewerb mitgemacht habe und irgendwie", sie verstummt, versucht die aufkommende Trauer herunterzuschlucken.
„Weiß nicht, ist alles einfach... die Anmeldefrist ist eh vorbei." Mr. Madden hebt eine Augenbraue und setzt sich auf.
„Das heißt, du wolltest."
„Was?"
„Du wolltest dich anmelden?"
„Nein!" Beleidigt verschränkt sie die Arme vor der Brust und lässt sich wieder gegen ihren Vater sinken. „Die akzeptieren eh keiner Sprayer und ich spraye aus gutem Grund. Das lass ich mir nicht nehmen."
„Und was ist dein Grund?" Überrascht hebt Caitlin den Kopf und sieht ihren Vater an.
„Weil ich die kapitalistische Denkweise, mit der unsere Gesellschaft und auch unsere Schule Weihnachten gutheißt, nicht unterstütze." Mr. Madden betrachtet seine Tochter einen Moment, dann seufzt er.
„Caitlin, das sagst du jetzt schon seit einiger Zeit und ich habe dich das durchgehen lassen, weil ich dachte, dass es dir hilft."
„Wovon redest du?" Doch Mr. Madden bringt sie zum Schweigen, indem er seine Tochter die Hand aufs Knie legt.
„Aber mittlerweile wirkt es so, als würdest du diese Ausrede bewusst nutzen, um dich der Wahrheit nicht zu stellen."
Caitlin sieht ihren Vater durch glasige Augen an, beinahe flehend, dass er nicht aussprechen soll, was er sagen will. Doch Mr. Madden weiß, dass er es muss. Dass seine Tochter es hören muss.
Damit sie heilen kann.
„Ich weiß, es ist einfacher, jemandem oder etwas die Schuld geben zu können." Er macht eine Pause, in der er Caitlin zu sich in die Arme schließt, deren glasige Augen zu Wasserfällen werden als er weiterspricht: „Weihnachten ist nicht schuld am Tod deiner Mutter."
Caitlins Atem zittert, krallt ihre Finger in den Pullover ihres Vaters. Mr. Madden küsst ihren Haaransatz und atmet noch einmal tief durch, um auch für seinen nächsten Satz genügend Kraft in der Stimme zu haben, damit er seine Tochter überzeugen kann: „Du bist nicht schuld am Tod deiner Mutter."
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