Letzte Worte
Caitlin wird von ihrem klingelnden Handy aus einem unruhigen Schlaf gerissen. Die ganze Nacht hat sie nur Jakes Flehen in den Ohren und sein bittendes Gesicht vor Augen gehabt. Sie schüttelt leicht den Kopf und massiert ihre Schläfen, um das Pochen darin zu besänftigen.
Dann greift sie nach ihrem Handy und nimmt den Anruf entgegen.
„Galerie in einer Stunde", sagt die Stimme auf der anderen Seite der Leitung und es braucht einen Moment, bis Caitlin sie zuordnen kann. Doch bevor sie antwortet, hört sie schon das Klicken. Aufgelegt.
Seufzend steht sie auf und wirft sich Hoodie und Jeans über. Diesmal würde sie nicht weglaufen. Diesmal würde sie sich den Malost stellen und allen Konsequenzen, die damit zusammenhängen.
Vorsichtig linst sie ins Zimmer ihres Vaters hinein, doch der liegt nicht mehr in seinem Bett. Irritiert sieht Caitlin sich um, sucht das Erdgeschoss ab. Ohne Erfolg.
„Dad?", ruft sie, wobei ihre Stimme quiekt vor Angst. Schnell rennt sie die Treppen hinauf, durchsucht die restlichen Zimmer. Nur mit Mühe traut sie sich in das obere Bad, das sie seit dem Weihnachten letztes Jahr meidet. Ihre Finger zittern beim Anfassen des Türknaufs. Vor ihrem inneren Auge tauchen die Bilder von damals auf, die sie bis jetzt gut verdrängt hat.
Die kalte Luft, die sich durch das geöffnete Fenster hineingetraut hat. Das Blut, das auf dem Boden in dicken Tropfen verteilt war. Caitlin kneift die Augen zusammen und öffnet die Tür.
Erleichtert atmet sie aus, als ihr Vater nicht zu sehen ist.
„Dad?", ruft sie noch einmal von oben, bekommt aber wieder keine Antwort. Panisch stolpert sie die Stufen hinunter bis in den Keller. Ihr bespraytes Laken ist weg, wahrscheinlich hat ihr Vater in den letzten Tagen ein wenig aufgeräumt.
Wenn die Tabletten wirken und er sich gut fühlt, ahndet es schnell in einen Putzwahn aus. Ein positives Zeichen, dennoch hat Caitlin dieses beklemmende Gefühl in der Brust.
Mit zitternden Fingern wählt sie seine Nummer und als nach mehreren Freizeichen endlich seine warme Stimme erklingt, schluchzt sie vor Erleichterung.
„Alles in Ordnung, Glückskeks?"
„Ja, ich", mit der freien Hand wischt Caitlin sich die Tränen aus dem Gesicht, „wo bist du?"
Schweigen auf der anderen Seite der Leitung. Dann seufzt Mr. Madden.
„Ich plane etwas. Eine Überraschung. Es wird alles gut, Glückskeks, keine Sorge", Caitlin kann das beruhigende Lächeln in seiner Stimme hören, das augenblicklich dazu führt, dass sich ihr Herzschlag verlangsamt.
„Okay."
„Geh ruhig zu deinen Sozialstunden, ich komme klar."
„Mach ich", lügt Caitlin bei dem Gedanken daran, dass die Galerie ihr nächstes Ziel ist.
„Ich hab dich lieb, Dad."
„Ich dich auch, Glückskeks."
Lächelnd legt Caitlin auf und betrachtet den großen Rhododendron im Garten. Vielleicht wird Weihnachten dieses Jahr anders. Vielleicht schaffen sie es.
*
Die Galerie ist für Besucher geschlossen, als Caitlin ankommt. Sie sieht ehrfürchtig auf das quadratische Gebäude. Draußen ist ein großes Banner ausgestellt mit dem Weihnachtswettbewerb, aber es wird überschattet durch das dunkle Monster mit dem Messer in der Hand und den Schlangen, die aus seinem Mund herauskommen. Ein älterer Mann mit grau meliertem Haar schrubbt an der Wand, vermischt das Schwarz mit dem stechenden Reiniger zu einem dunklen Grün. Als er Caitlin erblickt, die auf das Graffiti starrt, nickt er ihr mit seiner Mütze zu.
„Die Jugend von heute. Kein Respekt mehr vor Kunst", murmelt er und Caitlin lächelt freundlich, während sich ihre Brust zusammenzieht.
„Und was soll dieser komische Kreis überhaupt?" Der Mann zeigt auf die Augen des Monsters und erst jetzt erkennt Caitlin die Nachricht.
Es ist keine Sanduhr, wie beim Letzten. Nein. Diesmal ist es ein C und ein M, ineinander verschlungen, getarnt als Iris.
Erschrocken keucht sie auf. Es ist ihr Tagg, der sie aus den roten Augen anschaut. Mason hat ihren Tagg kopiert und sie damit als Verfasserin dieses Graffitis dargestellt. Wenn das die Polizei sieht, werden sie die Verbindung zu den Graffitis in der Schule herausfinden und sie mit dem Einbruch und den Anschlag aufs Waisenhaus konfrontieren.
Als wäre sie geschlagen worden, taumelt Caitlin zurück, wendet sich ab und holt ihr Handy hervor.
Sie ist immer noch wütend darüber, dass Jake sie verraten hat. Aber sie ist bereit, die Wut herunterzuschlucken. Das hier ist wichtiger.
„Komm zur Galerie, bitte. So schnell du kannst. Wir brauchen deinen Vater", tippt sie ihre Nachricht an ihn und sieht sich dann um. Das Gebäude besitzt drei Stockwerke, wobei das mittlere aus Glasfronten besteht, die durch große Säulen voneinander getrennt sind. Zwischen zwei dieser Säulen gibt es eine Glastür, da das Dach des ersten Stockwerks gleichzeitig als eine Dachterrasse für die Gäste fungiert.
Im Sommer werden dort oft Stehtische aufgestellt, während leise Hintergrundmusik die Gespräche der Besucher in einen harmonischen Gesang umwandelt. Heute ist es dunkel und leer, bis auf eine Gestalt, die oben an der Feuerleiter steht.
„Da bist du also", flüstert Caitlin, schleicht sich an dem alten Mann vorbei und klettert flink die Leiter hinauf.
„Ich dachte, wir sind Freundinnen", beginnt sie das Gespräch, „dabei kenne ich anscheinend nicht mal deinen Namen."
Riley kommt hinter einer Ecksäule hervor, an die sie sich anlehnt und eine ihrer blondierten Strähnen zwischen den Fingern zwirbelt.
„Das dachte ich auch, wirklich", antwortet sie, beinahe traurig darüber. „Hannah ist mein Vorname, Riley der Nachname."
Caitlin nickt, ist sie doch dankbar für die Erklärung. Es ergibt Sinn, dass sie nicht mit ihrem richtigen Namen den Malost beigetreten ist. Es ist sogar schlau gewesen von ihr. Schlauer, als Caitlin es gewesen ist.
„Wusstest du von dem Graffiti am Waisenhaus?"
„Tzz tzz", antwortet Hannah, während sie sich vom Pfeiler schwungvoll mit der Schulter abdrückt und auf Caitlin zukommt.
„Es war meine Idee."
„Warum?", entgeistert sieht Caitlin zu ihrer ehemaligen besten Freundin.
„Warum?", erwidert Hannah laut und kommt Caitlin so nahe, dass sie Hannahs Atem in ihrem Gesicht spüren kann, als sie weiterspricht: „Du hast mich verlassen. Bist einfach gegangen, ohne an den Rest von uns zu denken."
„Ich wollte dich doch nicht zurücklassen. Du hast entschieden, zu bleiben!"
„Ich dachte, du würdest endlich zurückkommen. Erkennen, dass wir eine Familie sind", erwidert Hannah, ohne auf Caitlins Worte einzugehen.
„Dass die Kinder vom Lost & Found uns nicht ersetzen können."
„Das können sie auch nicht", bekräftigt Caitlin, während sie verzweifelt Hannahs Schultern packt. „Hannah, du bist meine beste Freundin. Wie eine Schwester. Niemand könnte dich jemals ersetzen. Glaub mir, ich wollte dich nicht mit Mason und dem Rest allein lassen. Bitte, ich", sie verstummt, als Hannahs Tränen auf ihre Schuhe tropfen.
„Mason war so wütend", flüstert sie, „ich wollte doch nur, dass er sich beruhigt, dass-"
Caitlin zieht Hannah zu sich in die Arme, drückt sie an sich, als sie spürt, wie Hannah sich in ihren Mantel krallt.
„Es tut mir leid", sagt sie leise und bevor Caitlin ihre Freundin fragen kann, wofür sie sich entschuldigt, spürt sie, wie jemand ihr auf den Hinterkopf schlägt und sie in Hannahs Arme zusammenfällt.
Es sind nur wenige Minuten, die vergehen, bis Caitlin wieder zu Bewusstsein kommt. Ihre Sicht ist verschwommen, aber sie erkennt Hannah, die verängstigt im Hintergrund steht, während Mason sich nun grinsend zu Caitlin hinunterbeugt.
„Warum tust du das?", flüstert sie und legt den Kopf in den Nacken, in der Hoffnung, dass das Schwindelgefühl nachlässt.
„Einmal in der Gang, immer in der Gang. Das wusstest du, Caitlin. Dir war klar, dass ich dich niemals mit reiner Weste gehen lassen würde."
„Und jetzt? Was ist dein Plan? Der Polizei sagen, dass ich das alles war?"
„Ja, so ziemlich", Mason zwinkert ihr zu, bevor er sich wieder aufrichtet. Caitlins Ohren zucken, als die Sirene eines Polizeiautos aufheult. Erschrocken reißt sie die Augen auf.
„Die kommen ja wie gerufen", lacht Mason und dreht sich zu Hannah, die nickend zuhört. Caitlin sieht sich um, bemerkt eine Silhouette an der Feuerleiter, die aus dem Schatten auf Mason zuspringt und ihn sogleich zu Boden wirft.
Hannah schreit überrascht auf, Mason stöhnt, hält sich den Ellenbogen. Erst da erkennt Caitlin Jake, der sich die Hose an den Knien aufgerissen hat. Blut quillt hervor und tränkt die Fransen des zerstörten Stoffs. Der Aufprall war für ihn nicht weniger schmerzvoll. Aber Mason ist schneller, rappelt sich auf und will sich auf Jake stürzen. Caitlin zieht sich hoch und wirft sich dazwischen, rollt mit Mason über die Dachterrasse bis sie an die Brüstung anstoßen und Caitlin rittlings auf Mason sitzt.
Mit hocherhobener Faust sieht sie zu Mason herunter, der sie hinterlistig angrinst.
„Traust du dich, Prinzessin?"
„Caitlin, bitte. Lass es! Lass das die Polizei klären", ruft Jake, während die Sirenen lauter werden und nun auch das Blaulicht zu sehen ist.
„Und dann? Die denken doch, ich gehöre dazu? Sperren mich weg? Wer soll sich dann um meinen Vater kümmern, Jake?", Ihre Stimme bricht beim letzten Satz und mit Erschrecken wird Jake klar, dass Caitlin keine Angst vor ihrer Strafe oder dem Gefängnis hat. Lediglich davor, dass sie ihren Vater nicht mehr vor sich selbst beschützen kann. Dass er Hilfe benötigt, von der sie denkt, dass nur sie ihm die geben kann.
„Wir finden eine Lösung, Caitlin, bitte. Geh von ihm runter!"
„Sie werden es so hindrehen, dass ich Schuld bin, haben meinen Tagg kopiert und darunter geschrieben. Jake, hast du das gesehen? Meinen Tagg! Die Polizei wird das als Beweis sehen."
„Ich werde für dich aussagen, Caitlin. Wir bekommen das hin. Aber du musst ihn in Ruhe lassen. Bitte."
Unsicher sieht Caitlin zu Jake, aber Hannah zögert nicht, packt Caitlin an der Taille und zieht sie von Mason runter, der sich aufrafft und mit der Faust ausholt.
Caitlin spürt, wie ihr das Essen aus dem Magen in die Speiseröhre geboxt wird, kann aber nicht reagieren.
„Mason!", schreit Jake und auch Hannah erschrickt über den Fausthieb. Schützend stellt sie sich vor Caitlin, die erschöpft auf die Knie sinkt.
„Wir sind eine Familie", erinnert Hannah Mason, als er sich an ihr vorbeischieben will.
„Richtig, und man betrügt seine Familie nicht für einen", er mustert Jake angewidert von oben bis unten.
Noch, bevor Jake etwas erwidern kann, sieht er, wie Caitlins Faust auf Masons Wange schlägt, sein Kopf dadurch zur Seite schnellt und Blut hustet.
„Fuck!", ruft Caitlin und schüttelt sich die Hand in dem Moment, in dem die Polizei das Dach stürmt. Mit hoch erhobenen Händen starren sie in den Schein der Taschenlampen, bis Mason wimmernd zu einem Krankenwagen abgeführt wird.
Dort wartet bereits Mr. Rivera, der seinen Sohn fürsorglich in die Arme schließt.
„Was hast du dir dabei gedacht, Jake? Du weißt doch, dass du... die Polizei... die sind nicht so verständnisvoll", druckst sein Vater rum, aber Jake hebt nur die Hand. Und Mr. Rivera schweigt. Mit zusammengezogenen Brauen mustert er seinen Sohn auf Verletzungen.
„Du solltest dir das von einem Sanitäter ansehen lassen", er deutet auf die zerschlissene Jeans und Jake nickt abwesend. Sein Blick sucht Caitlin, dessen Hand bereits von einem Sanitäter behandelt wird.
Lächelnd setzt er sich zu ihr, stupst sie leicht mit der Schulter an.
„Hey", flüstert er und spürt, wie sich Caitlin automatisch entspannt, sich leicht gegen ihn lehnt.
„Hey", antwortet sie erschöpft und ihre Lippen öffnen sich zu einem erleichterten Lächeln.
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