Elfenwerkstatt
„Ich bin verwirrt", gibt Caitlin ehrlicherweise zu und bleibt im Flur stehen, kann den Blick aber nicht von dem Mann im Anzug abwenden, der sich gemütlich mit Elena im Wohnzimmer bei einer Tasse Kaffee unterhält. Was macht ihr verdammter Schuldirektor hier? Will er sich ein Bild davon machen, wie sie sich anstellt?
„Typisch. Hat Joel dir nicht gesagt, dass ihm das Waisenhaus mit Elena gehört?" Jake sieht besorgt zu Caitlin, die irritiert die Brauen zusammenzieht. Dass ihr Direktor Mr. Rivera Joel mit Vornamen heißt, ist Caitlin bewusst, aber dass er der Mitbesitzer von Lost & Found sein soll, scheint ihr doch eher einem Witz zu gleichen. Hat er etwa kein Geld gehabt, um sich weitere Arbeitskräfte über die Weihnachtszeit zu leisten und sie deshalb zu Sozialstunden hier verdonnert?
„Joel?"
„Sorry, Mr. Rivera."
„Heißt Joel mit Vornamen?", grinst Caitlin bei der erneuten Frage. Jake kneift die Augen zusammen, als er merkt, dass sie ihn auf den Arm genommen hat. Natürlich kennt sie den Vornamen ihres Schuldirektors, schließlich sehen die beiden sich wöchentlich, unterhalten sich über Caitlins Zukunft und ihre Weihnachtshasserei.
„Du", flüstert er gedehnt und mit erhobenen Zeigefinger, kann sich dann aber ein Grinsen nicht verkneifen. Mit einer schnellen Handbewegung drückt er ihr einen Karton in die Arme, der sie aufgrund seiner Schwere aufkeuchen lässt.
„Du kannst direkt beim Basteln helfen."
„Basteln?"
„Ja, wir führen hier so unsere eigene kleine Elfenzwangsarbeit-Werkstatt." Mit einem Zwinkern geht Jake voraus und schnappt sich eine zweite Kiste vom Beistelltisch, doch Caitlin ist zu perplex, um ihm zu antworten.
„Woher-"
„Nicht immer so viele Fragen stellen, einfach mal machen", eine weitere Handbewegung zeigt, dass sie ihm folgen soll, was Caitlin gehorsam tut. Wie kann es sein, dass Jake von ihrer Einstellung zu Weihnachten weiß? Von den Dingen, die sie in den letzten Jahren in der Schule gemacht hat? Hat Mr. Rivera ihm alles erzählt in Vorbereitung darauf, dass Caitlin herkommt? Dachte Mr. Rivera wirklich, er müsste Jake eine Vorwarnung geben?
Jake legt die Kiste auf dem großen Esstisch ab und Caitlin tut es ihm gleich.
„Was macht Mr. Rivera hier?", fragt sie noch einmal, nachdem sie sich einiger ihrer Strähnen aus dem Gesicht pustet. Jake runzelt die Stirn.
„Habe ich dir doch schon gesagt, ihm gehört das Haus hier mit Elena zusammen." Caitlin verschränkt die Arme vor der Brust.
„Nein, jetzt mal im Ernst."
„Das ist mein Ernst, Caitlin", betont Jake und holt Tonpapier aus dem Karton, um es sorgfältig auf dem Tisch auszubreiten.
„Dann sag es mir nicht", murmelt Caitlin beleidigt und öffnet auch ihre Kiste, um den Inhalt zu verteilen. Seufzend setzt Jake sich, nimmt eine Schneeflocke aus Pappe, die er bereits gestern ausgeschnitten hat, und sucht nach dem Klebestift.
„Wofür braucht ihr all das?" neugierig beugt Caitlin sich über seine Schulter, schaut ihm dabei zu, wie er die große Schneeflocke mit Glitzer bestäubt.
„Am vierten Advent feiern wir unseren Winterball."
„Ihr feiert einen Winterball? Nur ihr?"
„Nein, die Kinder aus den anderen Häusern kommen auch." Caitlin blinzelt einige Male. Der Gedanke daran, dass die sieben Kinder, die in diesem Haus leben, Waisen sind, ist eine Sache. Aber dass die benachbarten Häuser in der Straße auch Waisenkinder beherbergen, trifft sie wie ein kalter Wasserlappen am Morgen. Ins Gesicht.
Jake dreht sich im Stuhl zu Caitlin um, als er ihre Stille bemerkt. Er sieht, wie angespannt sie hinter ihm steht und angestrengt auf die gebastelte Schneeflocke schaut. Ruckartig lässt sie sich neben ihn auf einen Stuhl fallen und beginnt, stumm eine Schneeflocke auszuschneiden.
Für einen Moment beobachtet er sie, wie sie die Brauen konzentriert zusammenzieht. Dann berührt Jake sie vorsichtig am Arm, weshalb sie erschrocken Luft holt, als wäre ihr nicht bewusst, dass er direkt neben ihr sitzt. Als wäre sie in Gedanken ganz woanders, wo er sie nicht erreichen kann.
„Caitlin", flüstert er, versucht ihre Aufmerksamkeit zu sich zu ziehen, doch sie schneidet weiter in das weiße Tonpapier. Behutsam legt Jake seine Hand auf ihre, drückt sie sanft Richtung Tischplatte und nimmt ihr die Schere von den Fingern.
Erst da sieht Caitlin langsam zu ihm.
„Die anderen...Kinder?" Bis jetzt ist sie davon ausgegangen, dass die sieben Kinder, die sie in den letzten Tagen hier kennengelernt hat, die Einzigen sind, die hier wohnen. Der Gedanke daran, dass es noch mehr solch trauriger Seelen gibt versetzt ihr einen Stich.
„Ich wusste nicht, dass...es noch mehr sind."
„Woher auch? Du hast meine kompetente Führung, die ich dir am ersten Tag angeboten habe, ja ausgeschlagen."
„Ha ha", erwidert Caitlin sarkastisch, aber natürlich ist ihr bewusst, dass Jake recht hat. Es gibt einige Ecken und Räume auf diesem Gelände, die Caitlin mehr als fremd sind. Allerdings weiß sie nicht, ob sie schon bereit ist, sie zu sehen.
„Wir machen das ein andern Mal."
„Ohoo, jetzt ist Madame doch interessiert?", neckt Jake sie, glücklich darüber, sie aus ihrem Gedankenloch hervorgeholt zu haben, was Caitlin mit einem Augenrollen quittiert.
„Mir solls recht sein, ich bin ja eh hier", Jake zuckt mit den Schultern, was Caitlin einen leichten Schauer über den Rücken schickt. Bis eben hat sie vermutet, dass Jake hier nur arbeitet. Nach der Schule freiwillig hierherkommt, um Geld zu verdienen. Doch jetzt kommt ihr der erschreckende Gedanke, dass er vielleicht zu diesen Kindern gehört.
Die Neugier brennt auf ihrer Haut, sie will ihn fragen, wissen, was passiert ist, seine Geschichte kennen, ihn kennen. Aber sie hat kein Anrecht darauf. Wieso sollte er ihr seine Vergangenheit erzählen, wenn sie nicht einmal bereit ist, von ihrer eigenen ein Stück preiszugeben?
„Die anderen Kinder haben andere Probleme als wir hier. Meine beste Freundin Hannah beispielsweise. Ihre Eltern leben noch, aber es gut, dass sie nun hier wohnt." Jake schüttelt sich bei den Gedanken daran, wie sie es nach langen und zehrenden Diskussionen und Anwaltsbesuchen geschafft haben, dass Hannah in eine der Wohngruppen einziehen durfte.
„Sie alle haben einen Winterball verdient, deswegen feiern wir gemeinsam", erklärt Jake und zuckt gleichgültig mit den Schultern, als wäre es nichts. Aber Caitlin hat es gehört, dieses eine, ach so feine Wort, das den Unterschied macht.
„Wir?"
„Was?"
„Du hast gesagt, die anderen Kinder haben andere Probleme, als wir hier."
„Ja."
„Wir, so wie in", Caitlin schluckt bei dem Gedanken, möchte ihn nicht aussprechen und doch wissen, ob ihre Vermutung richtig ist, „so wie in du auch?"
Jake kratzt sich am Nacken, weil er ihr die Wahrheit sagen will und gleichzeitig sich daran erinnert, wie Caitlin auf den Tod reagiert. Mit Angst. In sich gekehrt. Er hat sie gerade erst aus ihren Gedanken zu sich geholt, er möchte sie nicht jetzt schon wieder an ihren Kopf verlieren. Und dennoch bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu nicken. Weil es die Wahrheit ist. Und Caitlin die Wahrheit verdient hat.
Stumm nickt sie, doch Jake ist sich nicht sicher, ob sie tatsächlich alles verstanden hat. Wie denn auch? Ihre glasigen Augen blicken in die Ferne, durch ihn hindurch, nehmen ihn und seine Grübchen gar nicht mehr wahr.
„Er ist mein Vater", Jake hebt kurz die Schultern, als sei dies eine Erklärung. Es ist aber Satz genug, dass Caitlin aus ihrer Starre erwacht und ihn verwirrt anschaut.
„Was? Wer?"
„Joel."
„Mr. Rivera?", mit offenem Mund starrt sie Jake an, der sich beherrschen muss, bei ihrem Anblick nicht aufzulachen. Wieder einmal entgleisen ihr ihre Gesichtszüge so sehr, dass er in ihnen alles sehen kann, was sich in ihrem Kopf abspielt.
Innerlich klopft Jake sich auf die Schulter, dass er sie so schnell zurückholen, ablenken konnte.
„Aber", Caitlin stockt, überlegt, wie sie es am besten sagen kann und platzt anschließend doch mit dem Offensichtlichen heraus: „Sie sind nicht...schwarz...und du...du schon."
Jakes Augen weiten sich für einen Moment, in dem er Caitlin stumm anschaut, dann schnellt sein Kopf in den Nacken und er lacht herzhaft. Hält sich den Bauch und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel, bevor er grinsend antwortet: „No shit, Sherlock."
„Ich", beginnt Caitlin, hat aber keine Worte parat, die sie ihm entgegenschmettern könnte.
„Wie", setzt sie ein zweites Mal an und Jakes Grinsen wird nur noch breiter.
„Ich bin adoptiert, Caitlin. Doch nicht so klug da oben?", er nickt in Richtung ihrer Stirn und schaut sie herausfordernd an.
„Pah", gibt sie beleidigt zur Antwort und lehnt sich gegen die Stuhllehne, was Jakes Augen funkeln lässt vor Belustigung.
„Hast du jetzt genug Fragen gestellt oder können wir jetzt anfangen?"
„Du bist ein Idiot, weißt du das eigentlich?"
„Ja", Jake neigt den Kopf zur Seite, lässt seinen Blick aber weiterhin auf Caitlins Gesicht ruhen, „Das sagst du mir so ziemlich jedes Mal, wenn wir uns sehen."
„Weil es stimmt."
„Und doch kommst du immer wieder her."
„Weil ich Sozialstunden abarbeiten muss", erinnert Caitlin ihn mit einem triumphierenden Lächeln daran, dass sie auf jeden Fall nicht seinetwegen täglich im Lost & Found ihren Nachmittag verbringt.
„Sicher, dass es nicht ein kleines bisschen deswegen ist, weil du mich magst?"
„Was?", überrascht rutscht sie ein Stück mit ihrem Stuhl zurück. „Bestimmt nicht."
„Hm. Hätte ja sein können", antwortet Jake grinsend und hört erst damit auf, als sie ein Räuspern hinter sich hören.
Wie ertappt und in Zeitlupe drehen sich die beiden in ihren Stühlen um und werden von sieben Augenpaaren abwartend angestarrt.
„Oh hey!" Jake zieht die Wörter in die Länge, versucht die Peinlichkeit zu überspielen, wie er so offensiv mit Caitlin geflirtet hat vor den Augen seiner Geschwister.
Henry mustert ihn prüfend, Emma und Alexander verschränken die Arme und heben je eine Augenbraue.
„Wollten wir nicht gemeinsam basteln?", fragt Emma und nickt in Richtung Tisch, auf dem Jake und Caitlin schon angefangen haben.
„Ja! Ja. Wir haben nur...", Jake schaut hilfesuchend zu Caitlin, die genauso ratlos versucht einzuspringen: „Wir wollten Schablonen vorbereiten. Für die Schneeflocken."
„Ja, die Schneeflocken", bestätigt Jake, was die Kinder mit ihrem stummen Starren nicht kommentieren. Dennoch kann er spüren, wie sich die Rädchen in deren Köpfen drehen und er heute Abend von allen mit Fragen durchlöchert wird.
Nervös klatscht er in die Hände.
„Lasst uns doch einfach anfangen, ja?" Das lassen sich die Kinder nicht zweimal sagen und setzen sich mit funkelnden Augen an den Weihnachtstisch.
Alexander stupst Jake im Vorbeigehen mit dem Ellenbogen an und als Jake ihn fragend ansieht, wackelt dieser nur bedeutend mit den Augenbrauen.
Nervös wendet Jake sich Caitlin zu, die mit geröteten Wangen fokussiert auf die Glitzerbehälter schaut. Auch sein Gesicht fühlt sich erhitzt an. Aber aufgrund seiner dunklen Haut ist es nicht so sichtbar, wie bei ihr. In den letzten Tagen hat Jake ihre erwärmten Wangen schon öfter gesehen. Und innerlich grinsend stellt er fest, dass er sich an diesen Anblick gewöhnen könnte.
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