C für Cappuccino, California Dreams oder Carboxymetylcellulose
Nach einer anstrengenden Fahrt und dem sehr inspirierenden Spaziergang stand Alice erschöpft vor dem hohen, schlichten Gebäude. Die meisten Leute nannten es einfach die Hölle, wie auch sie bevorzugte zu sagen, doch dieser Spießerstaat bestand darauf, das vierstöckige Haus als Schule zu betiteln. Selbst sie, als eine der Lehrerinnen, hasste es, hierher zu kommen. Nur wegen des Geldes arbeitete die einst engagierte Frau noch für diese schlecht erzogenen Teenager. "Ich schaffe das", murmelte sie leise während eine Gruppe von Schülern sich an ihr vorbeidrängte. Zur Beruhigung atmete Alice tief ein und aus, bevor sie das Foyer betrat.
Sofort zwang sie sich ein falsches Lächeln ins Gesicht. Denn wenn der Lehrer gute Laune hatte, waren die Schüler ein bisschen weniger anstrengend, hoffte die Optimistin. Ein Blick auf die Uhr genügte, um sie in Eile zu versetzen. Nur noch vier Minuten bis zum Unterrichstbeginn und ihr Körper war noch nicht mit Koffein bestochen worden, diesen Tag durchzuhalten. Ohne einen Kaffee würde sie vermutlich während des Redens einschlafen, denn selbst die Lehrerin empfand durch diesen realtätsfernen Lehrstoff Langeweile. Dabei war Biologie vermutlich eines der wichtigsten Schulfächer, so dachte Alice. Doch jeder wusste, dass Biologie nicht halb so wichtig wie Psychologie war. Sie definiert wer wir sind, unseren Geist.
Zu meinem Leidwesen war Alice der Psychologie noch nicht kundig und wusste nicht von den Farben einer Seele, der Ästhetik der Gedanken. Aber sie hatte schon einige Dinge getan, die sie auf den Weg des Begreifens führen würden. Dieser Weg jedoch führte direkt in das Klassenzimmer der 10a, Alice' absoluter Lieblingsklasse. Jede Woche erfüllte sie der Gedanke an die Tage, an denen sie ein weiteres Mal von frechen Jugendlichen beschimpft werden konnte, mit Freude. Obwohl man zu ihr, verglichen mit Berichten anderer Lehrer, sogar noch nett war. Und so wie immer wurde sie von einem netten, unmotivierten Haufen mit lautem Murren begrüßt. Ungefähr gleich enthusiastisch antwortete die Erwachsene: "Guten Morgen, Lieblingsklasse!" Weil sie selbst keine Ahnung hatte, was sie in der letzten Stunde den Schülern versucht hatte beizubringen, forderte sie einen der Jugendlichen auf, ihr den Stoff des letzten Donnerstages zu erklären. Diese Stundenwiederholungen waren wirklich praktisch, wenn man im Unterricht nicht aufpasste. Doch wussten auch die Schüler nicht mehr als Alice, die nach einiger Zeit den gelassenen Jungen wieder zu seinem Platz in der letzten Reihe entließ. Er nahm die Schule viel zu wenig ernst. Dafür war er viel zu sehr mit seinem Traum beschäftigt. Linus, wie er hieß, wollte eines Tages Prothesen weiterentwickeln. Wer brauchte bei so einem Lebensplan schon Biologie oder die Schule?
Als nächstes Opfer wurde Maisie an die Tafel gebeten. Da Alice sich jetzt wieder erinnern konnte, der Klasse in der letzten Stunde einen Film gezeigt zu haben, konnte sie schlussendlich auch Fragen zu dem Thema stellen. Zu ihrer Überraschung beantwortete sie sogar einen der drei Punkte richtig. Ziemlich gut für eine zukünftige Ärztin.
Die optimistische Lehrerin hätte liebend gerne den Klassenstreber zu sich geholt, um wenigstens ein positives Erlebnis in dieser Stunde zu haben, doch sie konnte kein Gespräch mit sich selbst führen. Nicht in der Öffentlichkeit. Nicht ohne Drogen.
Nach mehreren weiteren Stunden mit weiteren wenig netten Klassen wurde Alice endlich aus ihrer Verpflichtung als Sklavin in der Hölle entlassen. Als sie ihre Tätigkeit als Lehrerin angefangen hatte, hatte sie gedacht, etwas im Leben dieser Menschen bewirken zu können. Ihnen einen besseren Weg zeigen zu können und ihre Zukunft zu verändern. Sie wollte eine Vertrauensperson sein und nicht ein weiteres Opfer ihrer Schikane, doch Kinder konnten grausam sein. Aber eines half ihr stets dabei, den Kopf oben zu halten, während die völlig überforderte Frau mit Papierfliegern beschossen wurde. Der Vorsatz, den sie sich insgeheim an ihrem ersten Arbeitstag gefasst hatte: sie wollte all die Fehler ausbügeln, die die Lehrer in ihrer Ausbildung begangen hatten. Das war so ziemlich das, was eigentlich jeden Lehrer antrieb. Der Wille, etwas zu verändern, obgleich es schon vor langer Zeit begangen wurde. Doch das war prinzipiell der Motor des Menschen. Man wollte der sein, der es anders machte, bis man schließlich bei denselben Mustern, denselben Fehlern, ankam. Am stärksten waren von diesem Drang Lehrer, Eltern und Superhelden geprägt. Wie ich bereits sagte, Psychologie, der Schlüssel zum Verstehen.
Und da Alice es nicht so mit Schlüsseln hatte, fand sie weder den Schlüssel zum Geist, noch den zu ihrer Wohnung. Als sie eine ziemlich langweilige Straßenbahnfahrt und einen einschüchternden Spaziergang durch ihr heißgeliebtes Viertel überstanden hatte, stand sie in der Tasche kramend vor der eigenen Wohnungstür und wusste nicht, wie sie hineinkommen sollte. Ben war vermutlich gerade unterwegs und verkaufte Ware, sodass ihr keine andere Wahl blieb, als auf ihn zu warten und zu hoffen, dass John seinen Pakt eingehalten hatte. Schließlich hatte die arme Frau ihm ein nicht benutztes Taschentuch geschenkt. Die nächste Schnupfen-Saison würde bestimmt kommen. Vermutlich würde diese sogar eintreten, bevor Benjamin und sie in die Wohnung eingetreten waren. Heute war wirklich nicht der Glückstag der Lehrerin. Eigentlich könnte sie ihren Freund auch suchen, doch das wäre viel zu anstrengend und würde ihren ohnehin schon strapazierten Nerven den letzten Schuss verpassen.
Wobei das doch nicht so schwierig sein mochte. Ein Drogendealer bevorzugte regulär nur wenige Verkaufsstandorte. Es musste ein Ort sein, an dem es sicher war, sodass die Kunden nicht verschreckt wurden, doch es durfte auch keine Polizei auftauchen. Diese Hinweise brachten sie auf ein paar Kreuzungen, auf denen in der Vergangenheit schreckliche Dinge wie Schießereien oder "Unfälle" passiert waren, die jedoch heute als sicher galten.
Sherlocks offensichtliche Nachkommin war so intensiv mit dem Nachdenken beschäftigt, dass sie die lauten, schweren Schritte überhörte, die durch das Treppenhaus trampelten. So erschrak sie umso mehr, als der nahezu lautlose Geist plötzlich zu reden begann: "Was machst du hier draußen?" Alice konnte mit einem letzten Anflug von Selbstbeherrschung ihr lautes Aufschreien unterdrücken, doch den Schlag zur vermeintlichen Verteidigung konnte sie nicht mehr stoppen. Nun war es Benjamin, der tatsächlich schrie. Ninja Holmes konnte gerade noch verhindern, einen zweiten Schlag nachzusetzen, als sie das Gesicht ihrer großen Liebe erblickte. "Scheiße, tut das weh. Wofür war das?", fragte diese nun wie ein aufgebrachtes Huhn.
Die anscheinend aggressive Frau begann so unaufhaltsam zu kichern, dass es fast den Anschein hatte, sie wäre verrückt. "Für deine Dummheit", lachte sie und war die Einzige, die das lustig fand. So wie bei jedem ihrer Witze. Kopfschüttelnd verschaffte Benjamin, dessen Wange schmerzhaft brannte, den beiden Zutritt zu ihrer Wohnung. Alice setzte sich sofort zu Tode erschöpft auf die Couch aus beigefarbenem Stoff und seufzte. "Stressiger Tag?", fragte ihr Freund einfühlsam. Die Lehrerin erwiderte: "War gar nicht mal so schlimm. Idioten eben." "Wieso bist dann so erschöpft?", hakte er nach. Sie zögerte. Auf keinen Fall konnte sie ihm von ihren beiden Gesprächen in der Straßenbahn erzählen, die sie den ganzen Tag über belastet hatten. Das würde ihn nur sinnlos wütend machen. "Ach dies und das eben", log die Frau. Benjamin nickte verstehend und fuhr sich mit der Hand durch seine dunkelbraunen Locken, die nahezu einem Afro ähnelten. "Aber ich habe etwas, das dich bestimmt freuen wird", versuchte er sie aufzumuntern. Alice' Miene hellte sich um einiges auf. "Hat es etwas mit Drogen zu tun?", wollte sie mit nun strahlenden Augen wissen. Benjamin holte einen Plastikbeutel, dessen Inhalt aus kleinen, durchscheinenden Pillen bestand, aus seiner Jacke, die er aus nun definierbaren Gründen immer noch nicht abgelegt hatte. Vorsichtig nahm er eine der Pillen zwischen seine Finger und hielt sie hoch, damit seine Freundin sie gut erkennen konnte. "Das, meine Liebe, ist DVS. Einigen Insidern zufolge die Droge der Zukunft. Und wir haben die Ehre, sie probieren zu dürfen." Der Mann entnahm dem Beutel eine zweite Tablette, ging zu der Couch und reichte ihr eine der beiden.
Neugierig betrachtete sie die Droge. "Ist es gefährlich?", fragte die sehr verantwortungsvolle Lehrerin. Ben schüttelte als Antwort seine Locken, sodass die Strähnen wild auf und ab sprangen. Alice konnte ein Lachen nicht verhindern, doch die erwartungsvolle Spannung zog sich weiterhin durch den Raum. Auch als der Schuldige einstieg, konnte man sich der seltsamen Stimmung kaum erwehren. "Auf drei", motivierte er seine Freundin, da er ihre Furcht vor dem Neuen spüren konnte. Da schlussendlich immer die Neugier siegte, schluckte sie schlussendlich die marienkäfergroße Pille, sobald sie das Stichwort hörte.
"Da passiert nichts. So ein Dreck", schimpfte der Drogendealer, als er nach einigen Minuten warten noch immer keine Wirkung spürte. Auch Alice fühlte sich enttäuscht. Benjamin fuhr fort: "Weißt du wie schwierig es war, die zu bekommen? Die sind ein Vermögen wert und dann sowas? Man sollte meinen, so etwas Teures würde wenigstens der Wahnsinn sein. Aber dann passiert genau...ooh." Auch die Frau war überrascht von der plötzlich einsetzenden Wirkung.
"Das Zeug fährt ja richtig hart rein", widersprach er sich nun in all seinen zuvor erwähnten Beschimpfungen. Alice dachte genau dasselbe, da sie keine anderen Worte fand, um den Effekt zu beschreiben. Doch, ein einziges Wort tanzte durch ihren Geist und zeigte sich in den verschiedensten Farben. Magie.
Das musste es sein, dachte Alice verwundert und betrachtete die verschiedenen Formen und Gestalten, die das Wort annahm. Sah es zuerst noch aus wie eine irisierende Seifenblase, so verwandelte es sich nach einigen Sekunden in Rabenfedern, die prächtig in der Sonne schillerten. Alice genoss das warme Gefühl, das sich in ihr breit machte und dem Wort Empfindung eine ganz neue Dimension verlieh.
Aus Neugier sah sie sich im Raum um. Alles wirkte bunter, weniger trist und grau als das Leben, das sie gewöhnlich hier führte. Sie drehte ihren Kopf von links nach rechts, blieb kurz stehen, um das Licht, das durch den Vorhang schlüpfte, zu bestaunen, und endete schließlich bei Benjamins Kopf. Was sie dann sah, ließ ihren Mund offen stehen. Natürlich war das Licht interessant, das sie in all seine Bestandteile aufgespalten sah, doch das außergewöhnlichste war der Anblick ihres Freundes. Plötzlich sah sie etwas in ihm, das noch nie zuvor dagewesen war. Es war wie eine Vision, nur viel realistischer. Es war wie ein Bild, nur viel tiefer. Dann ereilte sie das Wissen. Es war sein Geist.
Alice konnte das Bild weder fassen noch beschreiben, denn wie sollte sie einen Menschen in Worten ausdrücken. Dazu fehlten ihr eindeutig die philosophischen Kenntnisse. Doch ich kann das, zumindest behaupte ich es.
Die faszinierte Frau starrte auf die Szene, die aus Bens Kopf zu kommen schien. Verschiedenste Nuancen von rot und gelb, ja, selbst orange tanzten in einem wilden Tango durch das Feuer seines stürmischen Temperaments. Die Farben verflossen und ließen sie einen Blick auf etwas Kleineres werfen. Am Grunde seiner Leidenschaft schlangen sich einige blau leuchtende Pflanzen aus dem Boden. "Was ist falsch mit mir, dass du mich so ansiehst?", fragte Benjamin erstaunt. Sah er also nicht dasselbe wie sie? Alice stellte beunruhigt eine Gegenfrage: "Siehst du das denn nicht?" Er zögerte eine Weile, bis er den Kopf schüttelte. "Ich sehe Farben", antwortete er nüchtern, obwohl sein Bild in diesem Moment von einem roten Band durchzogen wurde. Was das zu bedeuten hatte? Vielleicht Schmerz oder Eifersucht?
Alice konzentrierte sich wieder auf die Szene, in der sie am liebsten versinken wollte. Doch auch nach minutenlangem Starren - sie konnte nicht einmal ungefähr abschätzen, wie lange - zeigte sich, dass das Bild immer noch überraschen konnte. Denn das unzähmbare Feuer beruhigte sich allmählich und wurde gegen einen anderen Anblick getauscht. Ohne jegliche Vorwarnung zeigte sich ein traumhaft schöner Sonnenaufgang in der Vision. Nun konnte Alice den Blick erst recht nicht abwenden. Zumal ihr nun etwas auffiel.
Sie sah diese Dinge nicht nur, sondern konnte sie auch mit allen anderen Sinnen erkennen. Der Geruch von frischer Luft zog durch ihre Nase. Ein Duft, den dieser Raum schon lange nicht mehr gesehen hatte. Alice schmeckte Salz auf ihrer Zunge, den Geschmack nach Meer. Denn in genau solch einem spiegelte das Spektakel sich. Auf der welligen Oberfläche des Wassers, die immer in Bewegung war, lag ruhig und selig die prachtvolle Sonne. Nie wieder wollte sie diesen Anblick, das Antlitz wahrer Schönheit, missen wollen. Doch zu ihrer Enttäuschung begannen die Eindrücke allmählich zu verblassen. Das Meeresrauschen verklang und der Duft des Lebens entfernte sich nach und nach aus ihrem Geist. Die Farbe des Rausches verschwand.
Guten Morgen, meine lieben Freunde. Rosie hat mal wieder eine Nachtschicht eingelegt, weshalb sich hier vermutlich der eine oder andere doofe Fehler befindet. Falls jemand etwas bemerkt, bitte, bitte melden!
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