Reaper - Yoomin
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Für Enem14
Seit Anbeginn der Zeit erfüllte der Sensenmann seine Pflicht.
Es war oftmals ein mühseliges und schwieriges Unterfangen, aber er war gut in dem, was er tat.
Sein Erscheinen bedeutete Endgültigkeit. Die Menschen, zu denen er kam, waren sich dessen bewusst. Ausnahmen gab es nur selten. Intuitiv wussten sie, wer er war. Sein langer pechschwarzer Umhang war Erkennungsmerkmal genug, seine lange Sense, die er seit Jahren mehr als symbolträchtiges Accessoire mitnahm, als dass er sie benutzte, unmissverständlich.
Manche empfingen ihn mit offenen Armen. Sehnten sie die Erlösung herbei, die sein Auftauchen ihnen versprach: das Ende aller körperlichen Gebrechen oder die nahende mögliche Vereinigung mit längst verlorenen Liebsten.
Andere weigerten sich, das Unvermeidbare zu akzeptieren, das sein Ankommen mit sich brachte.
Es waren meist geschockte Seelen, die keine Zeit hatten, zu realisieren, was mit ihnen geschehen war. Sie flehten ihn an, feilschten mit materiellen Dingen, doch nichts davon war für ihn von Interesse.
Er verhandelte nicht und war für keinen faustischen Pakt zu haben, letzteres lag ohnehin außerhalb seiner Möglichkeit. Er lebte nicht unter den Sterblichen und besaß alles, was er brauchte. Das waren sein Umhang und seine Sense.
Ein kleiner Teil der Sterbenden nahm sein Erscheinen mit stoischer Gelassenheit entgegen. Der Sensenmann wusste, dass sie seine Ankunft nicht so entspannt aufnahmen, wie sie sich äußerlich präsentierten, aber diese Gruppe Menschen, waren ihm am liebsten. Sie diskutierten nicht, hatten ihren Frieden mit ihrem Abschied gemacht und beugten sich dem Unabwendbaren zügig.
Das Gedächtnis des Sensenmannes trog ihn nie. Er war sich dessen sicher, dass ihm in all den Millennien nie solch ein Fall wie Park Jimin untergekommen war.
Als er lautlos an den jungen Mann herantrat, stellte er resigniert fest, dass es sich um einen längeren Aufenthalt handeln würde. Er besaß ein untrügliches Gespür dafür.
Park Jimin stand in der Blüte des Lebens, zählte keine dreißig Jahre. Dennoch waren seine Sekunden auf dieser Erde gezählt. Der Sensenmann kannte sich aus. Er irrte sich nie.
„Hallo", wurde er mit einem von Neugier erfüllten Blick begrüßt, indem nicht ein Funke Ablehnung lag.
Park Jimin zählte zu der wissbegierigen Kategorie. Und zu der ahnungslosen.
„Hallo", erwiderte der Schnitter samtig.
Geräuschlos ließ er sich neben Jimin sinken und legte die Sense unweit von sich ab. Es störte ihn nicht, auf dem Boden zu hocken. Sein Körper wurde nicht müde und schmerzte nicht.
„Wer bist du?", fragte Jimin und versuchte sich vergeblich daran, an der dunklen Kapuze des Sensenmannes vorbeizuspähen, die sein Haupt vor den Augen der Sterbenden verbarg.
Er hatte auf diese Frage keinerlei Antwort. Keine, die der junge Mann vor ihm hören wollte oder die er akzeptieren würde. Dennoch war es seine Aufgabe, ihm Geleit zu geben. Den Todgeweihten darauf vorzubereiten, was in den nächsten Augenblicken geschehen würde. Manche brauchten weniger Zeit, andere mehr. Zeit hatte der Sensenmann genug. Sie besaß für ihn keine Bedeutung. Wichtig war, dass die Ordnung eingehalten wurde.
Jimin deutete sein Schweigen falsch.
„Wer hat dich hereingelassen? Die Tür war abgeschlossen...", murmelte er und sah sich suchend um.
„Du bist krank, Jimin", durchbrach die Stimme des Sensenmannes die kurze Stille. Sie bescherte den Sterbenden oft eine Gänsehaut, wie ebenfalls in diesem Augenblick.
Jimin zog seine Decke fester um sich. „Krank? Ich- ich habe mich unwohl gefühlt, ja. Aber... Moment!", drang ein Detail in sein Bewusstsein, welches die Meisten überzeugte, „Woher kennst du meinen Namen?", flüsterte er und sein Blick durchbohrte erneut das Dunkel seiner Kapuze.
„Ich besitze Kenntnis über dich", begann der Sensenmann langsam seine Überzeugungsarbeit und griff nach Jimins Hand. Seine langen und blassen Finger standen in gnadenlosem Kontrast zu denen des Sterblichen, der sie gedankenversunken betrachtete. Die Hände waren das Einzige, dessen Anblick er anderen von sich gewährte. Ihr Erscheinungsbild reichte oftmals aus, um den stärksten Dickkopf umzustimmen.
„Dein Name ist Park Jimin, Du wurdest im Oktober vor beinahe dreißig Jahren in Busan, Korea geboren", begann er seine Erklärung, die ihm ohne Überlegung über die Lippen kam. Er wusste alles über Jimin und dachte darüber keine Sekunde nach. Der Schnitter kannte die Namen von Jimins Eltern, seines Bruders, dass er erfolgreicher Tänzer war und von der Erkrankung, die ihn vor drei Tagen heimgesucht hatte und nun unerbittlich seine Lebensspanne verkürze.
Jimin hörte sich diese Daten an, schluckte hörbar, aber unterbrach seinen ungebetenen Besucher in seiner Ausführung nicht.
„...du wurdest krank. Heute nehme ich dich mit."
„Wohin?", fragte der junge Mann mit bemerkenswertem Selbstbewusstsein. Solch stoische Fälle, wie Park Jimin, hatte der Sensenmann selten.
„Weiter."
„Nein." Er entzog ihm seine Hand und verschränkte seine Arme trotzig vor seiner Brust.
Es war immerdar das Gleiche.
Kaum sickerte die Erkenntnis in das Bewusstsein des Menschen, dass das Unvermeidliche bevorstand, leugneten sie diese.
Der Sensenmann wurde oftmals bei Seelen Zeuge, die keine Vorbereitungszeit auf den Abschied genossen hatten. Die, wie Park Jimin, aus dem Leben gerissen wurden und meinten, sie würden gesunden, was indes nie eintrat.
Sterbende mit unheilbaren Krankheiten durchliefen diese Phase zu Lebzeiten. Verunglückte oder urplötzlich Schwererkrankte bewältigten diese Periode in seiner Gegenwart. Er war die letzte Instanz, mit der man vermeintlich diskutieren konnte.
Der Sensenmann verhandelte aber nicht.
„Du bist dieser Krankheit erlegen. Dein Weg endet hier."
„Nein", erwiderte Jimin erneut. Es lag eine Gewissheit in seiner Stimme, die den Todesboten aufhorchen ließ. Nur selten widersprach man ihm derart resolut. „Meine Zeit ist noch nicht gekommen."
Der Sensenmann blieb stumm und gab Jimin Zeit, um sein Schicksal zu akzeptieren. Er würde es annehmen, so wie letztlich alle.
Doch Park Jimin sollte einer der wenigen Menschen sein, die ihm gegenüber Recht behielten.
„Es ist noch nicht an der Zeit", hielt er an seinem Standpunkt fest und der Schnitter bemerkte bei jeder Silbe deutlich, dass sein Auftrag, den er hier verrichten sollte, in die Ferne rückte und Jimin sich der weltlichen Ebene näherte.
Dies geschah wahrhaftig selten.
Es war ein Phänomen, das der Todesbote nicht gänzlich einordnen konnte. Er hatte im Laufe der Jahrtausende gelernt, damit umzugehen. Park Jimin war erst sein zehnter Widerrufener.
Etwas haftete diesen Menschen an, die sich seinem ersten Besuch widersetzten. Sie waren unbelehrbar, starrköpfig und rafften allen Lebenwillen zusammen, um sich ein paar Jahre länger auf der Welt zu erkaufen, kaum, dass sie verstanden, wer ihnen gegenübergetreten war. Diese Tatsache wäre bewundernswert gewesen, wenn der Schnitter nicht jedes Mal überrascht gewesen wäre. Sie brachten ihn aus seinem Trott.
Jimin starrte ein letztes Mal an diesem Abend unter seine immerfort verdunkelte Kapuze.
Er verengte die Augen und aus seinem Suchen wurde ein Finden.
Der Schnitter spürte, dass Jimin vollständig in die Welt der Sterblichen zurückgekehrt war. Er befand sich außerhalb seines Einflussbereichs und konnte ihn jetzt nicht mehr sehen. Dennoch hatte der Sensenmann das Gefühl, dass sein Blick ihn weiterhin durchbohrte und den Weg unter sein Tuch fand.
„Glänzende Augen", murmelte Jimin, bevor er in einen erschöpften Schlaf fiel.
Diese Worte hallten in den Gedanken des Sensenmannes lange nach, als er seine Sense aufnahm und Park Jimin zurückließ.
Als er ging, wussten sie beide, dass es kein Abschied für immer war.
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Nie hatte ein Sterblicher in der gesamten Existenz des Sensenmannes einen Blick unter seine Kapuze werfen können. Viele hatten es versucht, aber niemand hatte Erfolg gehabt. Wieso dies so war, darüber hatte er keine Kenntnis.
Es gab Begebenheiten in dieser Welt, deren Unveränderlichkeit er akzeptierte und bislang nicht in Frage gestellt hatte. Er nahm an, dass er eine Distanz zu den vergänglichen Seelen wahren musste, um seine Aufgabe gewissenhaft erfüllen zu können. Dies war eine Vermutung, die er anstellte, seit er Park Jimin in der Welt der Sterblichen zurückließ.
Die Äußerung von Park Jimin erschütterte den Sensenmann zutiefst und auf einer Ebene, für die er keinen Ausdruck kannte. Er hatte etwas gesehen und es war vermutlich keine Täuschung gewesen. Menschen logen ihn nicht an. Die Ehrfurcht, die sie in seiner Gegenwart erfuhren, war zu gewaltig.
Er wusste nicht, ob es von Bedeutung war, was der Junge zu ihm gesagt hatte. Dass er aber etwas wahrgenommen hatte, was außerhalb des normal Erdenklichen lag, ließ den Sensenmann lange grübeln.
Er ging trotz allem seiner Aufgabe weiterhin nach. Die Ordnung musste eingehalten werden. Es war wichtig für das Gefüge der Welt.
Eine melancholische Sehnsucht ergriff ihn. Ein menschliches Leben kam einem Wimpernschlag gleich und doch dehnte sich der Augenblick in die Länge, bis er Park Jimin das nächste Mal begegnete. Es kam ihm wie eine Unendlichkeit vor. Diesem Mann haftete etwas an, was er nicht verstand und er wollte es ergründen. Er wollte dieses Mysterium auflösen und verstehen, was Park Jimin so anders machte, als die anderen.
Eine flatternde Neugierde ergriff ihn, als er feststellte, dass der Zeitpunkt gekommen war, um Park Jimin endgültig zu begleiten. Dieses Mal gab es kein Entkommen.
Einen Widerrufenen erneut zu treffen war jedes Mal eine willkommene Abwechslung in seiner Eintönigkeit.
„Da bist du ja wieder. Ich habe dich erwartet, Yoongi", begrüßte ihn Park Jimin wie einen verlorenen Freund und ließ sich kraftlos auf einen Sessel fallen.
Der Schnitter legte vor Verwirrung seinen Kopf schief und kniff die Augen zusammen, ehe er vor Jimin in die Hocke ging.
Der Mann hatte den Glanz der Jugend weit hinter sich gelassen. Dennoch strahlte er eine unvergängliche Eleganz aus, die von seinem Leben als erfolgreicher Tänzer herrührte. Er war alt, hatte ein gutes Leben gelebt. Seine Zeit war gekommen.
„Wie hast du mich genannt?", durchschnitt die Stimme des Todesboten die Stille zwischen ihnen. Jimin hob seine Hand und legte sie dem Sensenmann an die Wange. Dies hatte zuvor kein Sterblicher gewagt.
„Deine Augen glänzen wie ein ganzes Sternenmeer. Da erschien mir Yoongi als Name passend. Er bedeutet glänzen auf koreansich", murmelte er und sah ihm direkt in die Augen.
„Ich weiß." Der Sensenmann verstand alle Sprachen.
„Deine Augen glänzen wunderschön. All die Jahre hatte ich es vor Augen. Nie habe ich etwas Vergleichbares gesehen", ergänzte Jimin seufzend.
Der Schnitter hatte darauf keine Antwort. „Es ist an der Zeit", stellte er stattdessen in aller Nüchternheit fest und rührte sich dennoch keinen Zentimeter.
„Ich weiß."
Der Sensenmann war die ausführende Kraft bei diesen Begegnungen und er regte sich nicht. Zu lange hatte er auf diese Zusammenkunft gewartet.
„Yoongi?", durchbrach Jimin die Gedanken des Sensenmannes und er reagierte instinktiv.
„Ja?"
Jimin zögerte, sah ihm aber unverwandt in die Augen. Yoongi war schon immer der Überzeugung gewesen, dass die Augen der Spiegel zur Seele waren. Sie veränderten sich am geringsten von allen körperlichen Dingen und auch bei Jimin konnte er darin die Erinnerung an den jungen Mann erblicken, den er einst getroffen hatte.
„Darf ich?", fragte er zögerlich, ließ seine Hand von Yoongis Wange zu dem Saum der Kapuze gleiten, hielt dort aber inne.
Was war mit diesem Menschen los, dass er Grenzen überschritt, die bisher kein anderer zu überqueren gewagt hatte?
Stumm nickte er. Er war das erste Mal in seiner Existenz verunsichert und schloss die Augen. Noch nie hatte ein Sterblicher sein wahres Antlitz erblickt und Yoongi war bange, wie die Reaktion von Jimin ausfallen würde. Yoongi wusste nicht einmal, wieso er Park Jimin diese Grenzüberschreitung gestattete.
„Sieh mich an", bat Jimin und Yoongi öffnete seine Augen. „Wunderschön", murmelte Jimin und streichelte erneut über Yoongis Wange.
Yoongi ertappte sich bei dem Gedanken, dass er mehr Zeit mit der sterbenden Seele verbringen wollte. Er wollte Jimin noch nicht weitergeleiten. Aber die Welt besaß eine Ordnung, die eingehalten werden musste.
Jimins Zeit war gekommen.
Sanft beugte sich Yoongi zu Jimin hinüber und drückte seine Lippen auf die des anderen. Jimins Brustkorb senkte sich ein letztes Mal, ehe alles Leben aus ihm wich und er in dem Sessel in sich zusammen sank. Yoongi nahm seine Aufgabe auf und zeigte der Seele, von der er sich nur ungern löste, den Weg ins Weiter.
Was das Weiter war, wusste er nicht. Er hatte keine Kenntnis darüber, wohin die Seelen gingen, war aber überzeugt, dass es ihnen dort gut ging. Das war der einzige Trost, der ihm blieb, wenn er seinen Pflichten folgte.
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Durch Jimin hatte sich Yoongi ein Stück weit der sterblichen Welt genähert, das wurde ihm bewusst, je mehr Augenblicke verstrichen und je länger er darüber nachdachte. Yoongi grübelte über Tatsachen nach, die er vorher akzeptiert hatte.
Er besaß durch Jimin einen Namen und er würde ihn von diesem Augenblick an stets mit sich tragen, als ein Mal, das nicht verblassen würde.
Er war nicht mehr die integre Instanz wie zuvor, die teilnahmslos über den weltlichen Begebenheiten stand und die größere Ordnung im Blick behielt. Ein Teil seiner selbst begutachtete die Menschen, die er besuchte, aus einem anderen Blickwinkel und er fragte sich unweigerlich, zu was diese Geschöpfe noch in der Lage waren, was sie zustande bringen mochten.
Park Jimin hatte ihn berührt. In den Tiefen seines Seins, als der erste Mensch in all den Jahrtausenden überhaupt.
Etwas war in ihm erwacht, seitdem er ihn begleitet hatte und ließ ihn in stillen Momenten an dem zweifeln, was er tat. Seine Aufgabe war wichtig für das Gefüge der Welt. Daran gab es für ihn keinen Zweifel.
Dennoch wusste er seit dem Tag, an dem er Park Jimin ins Weiter begleitet hatte, dass auch er selbst veränderlich war.
Und er fragte sich, was die Welt außerhalb seiner Pflichten für ihn bereithielt.
Manchmal nahm Yoongi sich einen Augenblick, um über all die Dinge zu sinnieren. Das war etwas, was er vorher nie getan hatte. An diesen Tagen, wenn er in die Sterne sah und über den Lauf der Dinge philosophierte, fragte er sich, wieso er sich nicht einen längeren Moment mit Jimin erlaubt hatte.
Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, fühlte er tief in sich die Gewissheit, dass er ihn dann womöglich gar nicht mehr hätte gehen lassen.
In diesen Momenten seufzte Yoongi still in die Nachtluft, löste sich von allem Weltlichen, raffte seinen Umhang, packte seine Sense und erfüllte danach erneut gewissenhaft seine Pflicht.
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