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Ziemlich fertig rapple ich mich auf. Warum nimmt mich das so mit? Ich könnte auf seine Meinung scheißen. Die Antwort kann ich mir selbst geben: Weil er mein Stiefbruder, mein Seelenverwandter ist. Seine Meinung ist alles andere als egal. Erneut kommen mir die Tränen und dieses Mal halte ich sie nicht zurück, sondern presse mein Kissen gegen meinen Bauch und heule, bis ich mein Gesicht nicht mehr spüre. Es ist ja nicht nur er. Es sind ja auch Mum und Travis. Gemma und Dad. Was werden sie sagen, wenn ich mein Coming Out habe? Lange halte ich es jedenfalls nicht mehr aus und ich glaube auch nicht, dass Louis es lange für sich behalten wird.
Immer noch schniefend fummle ich mein Handy aus der Hosentasche und wähle Nialls Nummer. Ihn habe ich auf meiner Seite. Kaum dass er abgehoben hat, weine ich schon wieder. „Harry? Was ist los?", fragt er besorgt.
„Können... können wir uns treffen?"
„Natürlich. Unser Café?"
„Ja, bis gleich. Und danke."
„Kein Problem! Bis dann!"
Kurz darauf trete ich durch die Glastür des Cafés, wo Niall uns bereits einen Tisch gesucht hat. „Gott sei Dank hattest du Zeit!" Ermüdet falle ich ihm in die Arme. Beruhigend streicht er mir über den Rücken. „Ich hab dir einen Latte Machiatto mitbestellt, ich hoffe, das war okay." Wir lösen uns voneinander und ich nicke lächelnd. „Also. Wo drückt der Schuh?" Seufzend lasse ich mich auf den Stuhl fallen und raufe mir meine langen Locken. „Louis war da und wollte mit mir reden, aber ich habe ihn rausgeschmissen." „Warum?" „Er wird doch sowieso nur über mich herziehen. Das brauche ich mir nicht anhören." Er runzelt die Stirn. „Meinst du nicht, dass du vielleicht auch ein bisschen zu hart zu ihm bist? Er ist dein Stiefbruder. Traust du ihm wirklich zu, dass er dich nicht akzeptiert?" Ich zucke mit den Schultern.
Die Bedienung kommt und stellt vor jeden von uns ein großes Glas, weshalb ich erst einen großen Schluck der heißen Flüssigkeit nehme, bevor ich antworte: „Keine Ahnung. Eigentlich nicht. Aber er hat ziemlich krass reagiert. Er war richtig angewidert." „Na ja, bis jetzt weiß er auch nur, dass du einen Jungen auf der Schule oral befriedigt hast", zischt er mit gedämpfter Stimme. Prompt werde ich rot. Am liebsten würde ich dieses Ereignis komplett aus meinem Gedächtnis und dem der anderen streichen. „Ich wette, er hätte auch so reagiert, wenn es ein Mädchen gewesen wäre. Es ist halt überhaupt nicht deine Art, so etwas in der Öffentlichkeit zu tun. Ich meine mit deinen Exfreundinnen, die du nach dem Vorfall hattest, bist du sehr vorsichtig umgegangen. Wahrscheinlich war es überhaupt ein Schock für ihn, zu erfahren, dass du so was intimes einfach so machst. Egal mit wem." Ich wünsche mir inständig, dass sich ein Spalt auftut, um mich zu verschlucken, so peinlich ist mir das Ganze. Wenn ich mich nicht täusche, gucken sogar schon die anderen Gäste belustigt zu uns hinüber. „Ich würde es ja auch nicht tun!", empöre ich mich flüsternd, woraufhin Niall nickt und meine Hand berührt. „Ich weiß Harry. Aber all die Dinge, die ich weiß, hast du Louis noch nicht erzählt. Vielleicht solltest du das zuerst tun." Niedergeschlagen fahre ich mir durch die Haare. „Keine Ahnung. Im Moment brauche ich generell ein bisschen Abstand. Du und Louis wissen nun mehr oder weniger Bescheid. Ich befürchte, auch bald Mum und so einweihen zu müssen. Ich kann ja nicht ewig so tun, als sei ich hetero."
Abends komme ich wieder heim. Nachdem wir unseren Kaffee ausgetrunken haben, haben wir uns noch spontan dazu entschlossen, ins Kino zu gehen uns jetzt ist es kurz nach zehn. Mum und Travis sitzen mit ein paar Freunden in der Küche, weshalb ich direkt in meinem Zimmer verschwinde. Auf meinem Schreibtisch liegt immer noch ein Haufen Papierkram, den ich allerdings einfach beiseite schiebe und stattdessen meinen Laptop anmache. Ich rufe Google auf und tippe in das Suchfenster 'Coming Out' ein. Die Suchmaschine spuckt eine Reihe von Tumblrblogs, die teilweise ziemlich anzüglich sind, aus, aber auch ein paar Youtubevideos, in denen Youtuber wie Troye Sivan oder Connor Franta über ihr persönliches Coming Out sprechen. Auch finde ich zahlreiche Foren, in denen sich junge Teenager darüber austauschen, welche Schwierigkeiten man als Schwuler oder Lesbe hat. Begierig sauge ich alles in mir auf, bis mir die Augen weh tun. Okay. Viele warnen davor, dass man sein Coming Out auf gar keinen Fall zu früh haben darf und sich ganz sicher sein muss, um anschließend auch mit den Konsequenzen umgehen zu können, sofern es welche gibt. Mir wird schlecht. Seit fünf Jahren hüte ich nun dieses Geheimnis, aber ich habe keinen blassen Schimmer, ob ich in der Lage wäre, mit Konsequenzen umzugehen. Momentan bezweifle ich das noch. Weil ich total müde bin und morgen früh aufstehen muss, springe ich noch kurz unter die Dusche, bevor ich in einen unruhigen Schlaf falle.
Am nächsten Morgen werde ich von dem Vibrieren meines Handys geweckt. Louis ruft an. Stöhnend vergrabe ich meinen Kopf unter meinem Kissen, wodurch ich dennoch immer noch das Vibrieren höre. Zu allem Überfluss klingelt in diesem Moment auch noch mein Wecker. Genervt stelle ich ihn ab und würge auch Louis ab, was allerdings zur Folge hat, dass keine Minute später unser Festnetztelefon klingelt. Wütend boxe ich in die Matratze, dann rapple ich mich auf. Wie erwartet schneit Mum herein, das Telefon in der Hand. „Guten Morgen Harry! Louis will dich sprechen." „Ich will ihn aber nicht sprechen", erwidere ich pampig und zwänge mich an ihr vorbei ins Bad. Beim Blick in den Spiegel will ich direkt wieder in mein Bett zurück. Ich habe tiefe Augenringe, meine Haare sehen fettig aus, obwohl ich sie gestern frisch gewaschen habe und meine Haut leicht gräulich. Trotzdem versuche ich, mir ein Lächeln zu schenken, schlüpfe in meine Jeans und ein Shirt, danach laufe ich runter in die Küche, wo Mum und Travis bereits frühstücken.
Mir wird mulmig bei der Vorstellung, ihnen in absehbarer Zeit zu gestehen, dass ich schwul bin. Werden sie dann immer noch so unbeschwert sein? Ich hoffe es. „Warum wolltest du nicht mit Louis telefonieren?", erkundigt sich Mum, als ich mich mit einer Tasse Kaffee zu ihn geselle. Ich zucke bloß mit den Schultern, was sie aber nicht abhält, mich weiter mit Fragen zu durchbohren. „Hattet ihr Streit?" Meine Augen weiten sich. Hat Louis etwa gepetzt? Obwohl, auch wenn er es nicht getan hat, ist es offensichtlich, dass irgendetwas im Busch ist, weil wir sonst immer ein Herz und eine Seele sind. „Indirekt ja." Sie hebt eine Augenbraue. „Willst du mir auch sagen, warum?" Darauf schüttle ich den Kopf, was sie seufzend zur Kenntnis nimmt. Nachdem ich aufgestanden bin, kann ich noch hören, wie Travis sie daran erinnert, dass wir schon erwachsen sind und unsere Probleme allein lösen können. Nur leider beeinflussen diese Probleme auch andere.
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