44. Hexenmeister
This is the start of how it all ever ends
They used to shout my name, now they whisper it
I'm speeding up and this is the
Red, orange, yellow flicker beat sparking up my heart
We're at the start, the colors disappear
I never watch the stars, there's so much down here
So I just try to keep up with them
Red, orange, yellow flicker beat sparking up my heart
- Lorde, Yellow Flicker Beat
„Steig in das Boot."
Die Anweisungen der dunkelhäutigen Frau waren so kurz angebunden, als wäre es für sie eine Qual, das Wort an Marie zu richten. Ihr Satz über den Ort, an den sie Marie brachte, waren die meisten Worte gewesen, die sie zu ihr gesagt hatte.
Marie hasste es, nicht genau zu wissen, wohin es ging. Und vor allem, warum ihr Ziel dieses war und nicht ein anderes. Seit sie Amostown verlassen hatte, hatte es zu viele unsichere Ziele gegeben, und sie verlangte nach einer eindeutigen Antwort. Der Palast der Nemesis, die Festung der Herrscherin über die Racheinseln. Was soll ich da? Was tut der alte Mann im Palast der Königin über diesen stinkenden Haufen Abschaum?
„Wenn du mir Erklärungen lieferst, steige ich sofort in dein Boot." Marie bleib auf dem Steg stehen und verschränkte die Arme. Bei den Geistern, ich komme mir vor wie ein trotziges Kind.
Die Frau lächelte flüchtig. „Ich erkläre dir alles, sobald du im Boot sitzt."
Marie wollte ihr widersprechen, doch der alte Mann flüsterte in ihrem Kopf. Geh mit ihr. Ich weiß, wie wütend du bist, aber je schneller wir aufeinandertreffen, desto eher wirst du deinen Weg finden.
Frustriert biss sie die Zähne zusammen und fügte sich. Vorsichtig ließ sie sich gegenüber der Frau in dem schaukelnden Boot nieder und zog den Mantel enger um ihren Körper. Wenn sie mich angreift, töte ich sie.
Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee wäre. Sie... hat etwas an sich, das wir nicht besiegen können. Die Unruhe der Wölfin machte Marie nervös, und sie musterte verstohlen die Frau, die sie durch die Schluchten zwischen den Schiffswänden hindurch manövrierte.
Sie wusste, dass die Wölfin recht hatte. Die Frau erschien ihr so finster und wild, dass selbst Brego sie nicht besiegen könnte. Nein, sie hatte sogar das Gefühl, dass nicht mal ein Dämon sie töten könnte. Das flackernde Licht einer Fackel ließ die weißen Striche auf ihrer Haut aufleuchten und verliehen ihr das Aussehen eines lebendigen Skeletts in der Dunkelheit. Für einen Moment kroch Angst durch ihre Adern, und selbst die warme Berührung der Wölfin konnte nicht verhindern, dass sie schauderte.
Schließlich nahm sie ihren Mut zusammen. „Du wolltest mir Erklärungen geben." Sie schaffte es nicht ganz, allen Vorwurf aus ihrer Stimme zu treiben.
Die Frau lächelte, ihre Zähne waren scharfkantig wie die eines Wolfes und ebenso schwarz wie ihre Haut, aber nicht zerfressen wie die Schiffe um sie herum. Eher wie die eines Drachen, wie Dolche aus Onyx. „Frag. Du hast viele Fragen. Gerechtfertigt."
Ihre Stimme erinnerte Marie an das Wasser um sie herum. Dunkel, mysteriös und tödlich. Sie sprach mit einem Akzent, den Marie von den Santacanern aus der Skorpionswüste kannte. Ob sie eine Selketien ist? Sie hatte schon viel gehört über die religiösen Krieger aus dem Süden. Angeblich badeten sie im Gift der Skorpionseinhörner, die sie ritten. Doch ein Selketien war nie ohne sein Tier anzutreffen. Sie musterte die Frau genauer, die sie nun aufreizend ruhig ansah.
„Wer bist du?", fragte sie schließlich.
„Mein Name ist Nayrakka." Die Frau flüsterte etwas zu sich selbst, das Marie nicht verstehen konnte, und sah dann zu ihr. „Und ich kenne deinen Namen nicht. Alles, was ich bekam, war eine Beschreibung. Eine blonde Lykanerin, die mit ihrer Wolfsgestalt meisterhafter umgeht als jeder andere Wandling, der jemals lebte." Ihre Stimme veränderte sich leicht und wurde eine Spur dunkler. Fast animalisch.
„Ich bin Marie de Tracy. Vom Kartell der Crusader." Die Wölfin knurrte leise bei der Erwähnung ihres Rudels, und Marie konnte nicht verhindern, dass es ihre Kehle ebenfalls erreichte. „Wo ist dieser Palast der Nemesis?", stellte sie ihre nächste Frage, die erstbeste, die bei den hunderten, die in ihrem Kopf herumschwirrten, zu fassen war.
„Sieh nach oben."
Langsam drehte Marie den Kopf und sah in die Richtung, die Nayrakka ihr wies.
Er stand auf einer Klippe, die aus den Bergen der Insel, in deren Schatten Port Vengeance lag, hervorstand wie ein gigantisches Horn. Selbst aus der Ferne konnte Marie sehen, wie prächtig er war. Er bedeckte die gesamte Felsnase und die umliegenden Berghänge wie Drachenschuppen. Pagodendächer im Stil der Halong-Inseln glühten rot unter dem Schein des Mondes, sichtbar trotz des Nebels. Fackeln brannten und ließen den Palast zusätzlich wie ein Leuchtfeuer erscheinen, einen Funken der Pracht und des Wohlstandes, wie eine Königin des Lichts über dem dunklen Elendssumpf der Stadt Auf Dem Meer.
Marie merkte, dass ihr der Mund offen stand, und schloss ihn rasch. Nayrakka lachte leise. „Alle sehen gleich aus, wenn sie den Palast zum ersten Mal sehen. Ein Halong-Drache hat ihn gebaut. Er war einer der wenigen, dem mehrere Elemente gehorchten. Huang Shan, der Herr über Stein und Feuer, so nannten sie ihn, und angeblich hat er den Palast innerhalb einer Nacht aus den Bergen von Gantega gesungen."
Nayrakka wurde immer gesprächiger, fiel Marie auf. Doch der leise missbilligende Unterton in ihrer Stimme entging ihr nicht. „Wie sollen wir da hoch kommen?"
Die dunkelhäutige Frau zischte ein Wort, und eine schwarze Flüssigkeit floss von ihrem Körper wie Teer. Die Flüssigkeit sickerte in das Holz des Schiffes und entblößte Nayrakkas wahre Gestalt. Ihr Kopf blieb der gleiche, ihr Oberkörper ebenfalls, doch von der Hüfte abwärts hatte sie den Körper eines Drachen, wie ein grausamer Zentaur. Vier Flügel, die eines Drachen und die eines gigantischen Vogels, lösten sich schmatzend aus der schwarzen Masse, aus der sich ihr Körper formte. Lange Dornen wuchsen aus ihrem Rücken, Hörner aus ihrem Kopf, und der Schwanz ihres Drachenkörpers endete mit dem Stachel eines Mantikors.
Marie spürte, wie die Wölfin sie ansprang, doch sie beherrschte sich. Zu fasziniert war sie von Nayrakkas Verwandlung. Die Drachenfrau knurrte ein weiteres Wort, und mit einem unwilligen Zischen erhob sich das Boot von den Wellen und schwebte auf die Felsnase mit dem Palast darauf zu, immer dem Schein der Fackeln hinterher. Marie sah nach unten. Schiffe, verwahrloste Lebewesen und brackiges Wasser schwanden unter ihr dahin, als hätten sie nie existiert. Kleiner und kleiner wurden sie, wie kaputte Spielzeuge in einer Pfütze.
Der Rumpf des Bootes war nun umschlossen von schwarzem, pulsierendem Schleim, seine Ausläufer verbanden sich mit Nayrakkas knochigen Pranken. Wie eine schreckliche Göttin, stolz und sich ihrer Macht bewusst, stand sie vor Marie, der Wind spielte mit ihren schwarzen Haarsträhnen.
„Was bist du?", fragte Marie misstrauisch, als sie Nayrakkas wahre Gestalt verarbeitet hatte.
Die Stimme der Frau war dunkler und melodischer als die, die sie als Mensch gehabt hatte. „Ich bin eine Hexenmeisterin. Eine von dreien, die die Nemesis bewachen. Sie ist die einzige Person, die das Wissen und die Macht hat, die Racheinseln zusammenzuhalten und zu beschützen, vor dem, was hinter der Grausamen See liegt, und was der mächtige Westen plant. Es gibt viele, die sie töten wollen. Deswegen bewahren wir sie, vor allem, was ihr schaden will."
„Drei Hexenmeister beschützen die Nemesis, sagtest du. Drei wie... du?"
Sie lachte. „Nein. Seit sich die Abtrünnigen Völker auf den Racheinseln niederließen, die Herrschaft der Halong endete und die der Nemesi begann, haben die drei Orden der Drei Materien beschlossen, ihre besten mit dem Schutz der Herrscherin zu beauftragen. Drei Hexenmeister sind die Wache: Schwarz wie Dämonen. Rot wie Blut an der Klinge. Weiß wie der Schmerz. Wir stehen hinter ihr, egal was passiert."
Marie starrte Nayrakka an. Sie hatte viel über die legendären Hexenmeister gehört, über das was sie konnten, und über das, was sie taten. Die Festung der Schwarzen, Valysar, stand am nordwestlichen Ende des Kontinents Santaca, auf dem Schattenhorn, nur wenige Meilen von Crusadia entfernt. „In Crusadia erzählt man sich, dass die Schwarzen Hexenmeister Menschen kaufen und an ihnen Experimente durchführen."
„Es ist wahr. Wir fangen Menschen, Krieger und Wandler und flößen ihnen Dämonen ein. Mit dem Wissen, das wir gewinnen, erfinden wir uns."
„Erfindet euch", echote Marie. Das verstehe ich nicht. Wie soll man sich erfinden?
Nayrakka schien ihre Gedanken lesen zu können. „Wir beschwören Dämonen, um uns ihre Stärke anzueignen. Wir suchen lange nach dem richtigen Dämon, mit der Menge an Macht, die uns stärker macht, aber uns nicht zerreißt. Sobald einer meines Ordens einen Dämon beschworen hat, nimmt er ihn in seinem Körper auf, unterwirft ihn und erreicht damit etwas mehr Macht und Stärke. Aber damit der Dämon seine volle Kraft entfalten kann, braucht er einen Wirtskörper, der der wahren Gestalt des Dämons gleicht. Sie sehen meistens aus wie eine Mischung aus mehreren Kreaturen, Menschen mit zu vielen Armen, Flügeln, Hörnern, Krieger mit Einhornköpfen... Und so sammelt der Beschwörer die notwendigen Teile, tötet Drachen, weil er ihre Flügel braucht, Krieger für den Torso und Pferde für den Kopf. Dann näht er sie zusammen und überträgt seine Seele zusammen mit dem Dämon auf den Körper.
Das hier", sie hob eine krallenbewehrte Hand, an der schwarzer Schleim hing und träge auf das Holz des Boots tropfte, wo er versickerte wie Wasser im Sand, „ist die Substanz eines Dämons. Wir können weitere Dämonen bändigen und uns ihre Eigenschaften aneignen. So werden wir noch mächtiger."
Marie konnte ihr Neugierde nur schwer verbergen. „Über wie viele Dämonen bist du die Herrin?"
„Vierundzwanzig. Ich kann sie ohne Hilfsmittel im Zaum halten." Stolz und Hochmut färbte ihre Stimme.
So viele. Ich könnte sie niemals besiegen... Ich war dumm, es jemals zu glauben.
Die Selbstzufriedenheit der Wölfin in ihren Gedanken war überwältigend. Ich sagte dir doch, dass mit ihr etwas nicht stimmt.
Marie lächelte und sah zur Seite. Dann wandte sie sich wieder zu Nayrakka. Jede Frage, die sie beantwortete, warf hunderte neue auf. „Was ist mit deinem Körper passiert, nachdem du ihn... verlassen hast?"
„Eine seelenlose Hülle, nichts weiter. Wir verfüttern sie an die Tiere."
„Wie fühlt es sich an? Seine Seele zu übertragen? In einem neuen Körper aufzuwachen?"
Nayrakkas Gesicht bekam einen versonnenen Gesichtsausdruck. „Als könnte man die Welt beherrschen."
Die Wölfin strich über Maries Geist, und das Gefühl der Unbesiegbarkeit ihrer Halbwolfsgestalt durchströmte sie wie flüssiges Feuer. Sie schauderte wohlig. Ich verstehe, was sie meint. Die Wölfin kicherte. „Was ist mit den anderen? Was können sie? Bändigen sie auch Dämonen?"
Nayrakkas Skorpionsschwanz peitschte durch die Luft. „Nein. Die Roten beherrschen die Materie dieser Welt. Allein mit ihren Gedanken können sie jeden Gegenstand bewegen, den sie wollen. Manche von ihnen sind faul und bewegen sich nicht mehr. Viel einfacher ist es, alles zu sich zu rufen und zu Orten zu schweben, statt zu gehen." Sie fauchte voll Verachtung. „Die meisten aber wissen, wie viel intelligenter es ist, ihre Mächte für den Kampf zu nutzen. Sie lieben Waffen. Sie schicken sie mit ihren Kräften in den Krieg, ohne, dass sich auch nur eine einzige Hand um einen Schwertgriff legt. Canto, der Rote, der neben mir und dem Weißen die Nemesis beschützt, kann die Waffen einer ganzen Armee kämpfen lassen."
„Was können die Weißen?" In den Geschichten, die Marie gehört hatte, waren die Weißen Hexenmeister stets die Guten gewesen. Aber es gibt kein gut und böse. Man kämpft nur um sein Überleben.
„Die Weißen sind die Meister der Gedanken. Sie sind das Bindeglied zwischen den Mächten von Schwarz und rot: sie beherrschen nicht diese Welt, aber auch keine andere. Sie sind dazwischen. Denn die Gedanken eines jeden Lebewesens sind nicht ganz von dieser, aber auch nicht aus einer anderen."
Marie kniff die Augen zusammen. „Wie sollen Gedanken, die ein Lebewesen hier denkt, nicht von dieser Welt sein?"
„Sind die Geschichten und Sagen, die man sich erzählt, von dieser Welt? Die Sage vom Seewolf? Die Ballade von der Traurigen Lady, die Perlen für ihren Geliebten weinte? Der Sänger der Toten und die Harfe des Windes? Sind Ideen, die die Welt verändern, von dieser Welt? Sie sind ein Teil dieser Welt, doch die Kraft der Fantasie und der Gedanken hat Macht, eine Macht, die nicht von dieser Welt ist. Gedanken bringen Veränderungen und können die Welt zerbrechen lassen. Nur ein einziger Traum, Träume von einer anderen Welt, einer besseren... Die Macht der Gedanken, der Gedanke an Freiheit ließ vor über vierhundert Jahren die Menschen gegen die Elfen rebellieren. Und der Glaube an diese Idee hielt das Feuer am brennen, sodass es heute nicht einen einzigen Elfen auf der ganzen Welt gibt. Denkst du wirklich, dass diese Macht nur aus dieser Welt stammt?"
Marie senkte den Blick. Gedanken haben Macht, oh ja. Die Wölfin flüsterte in ihrem Hinterkopf. Schließlich sah sie wieder zu Nayrakka auf. „Was sind die Fähigkeiten der Weißen?"
„Die Weißen Hexenmeister nutzen diese Macht aus. Sie können Gedanken beeinflussen, durch sie sprechen, ja, sogar in das Bewusstsein von anderen springen und sie beherrschen."
Marie schwieg. Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Ich kann andere beherrschen, mit ihnen sprechen, sie beeinflussen. Seit ich zum ersten Mal das Herzen eines Menschen gegessen habe. Nur mit meinen Gedanken.
Die Wölfin strich um ihr Bewusstsein wie schwarze Seide. Ich bin du, und du bist ich. Wir sind eins. Du kannst nur dich selbst beherrschen. Wie die meisten Lykaner auch.
Du hast aber ein Bewusstsein, ein Wissen. Eine zweite Natur in mir.
Dass du mich in Zaum halten kannst, macht eine Menge Stärke aus. Du hast mir meine Fesseln erlassen und mir Freiheiten gegeben, aber wir wissen, dass du mir sie genauso leicht wieder anlegen kannst. Die Wölfin drängte gegen ihre Kontrolle, und Marie verstärkte ihren Griff um die Macht des Wolfes. Siehst du? Aber trotzdem beherrschst du immer nur einen Teil von dir.
Sie sah zu Nayrakka, die mit einem gezischten Wort das schwebende Boot auf Kurs brachte, und ließ ihren Blick dann zu dem glühenden Palast wandern. Die Frage, was sie dort sollte, konnte sie sich beinahe selbst beantworten. Nur eine blieb. Kann ich so etwas?
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