4. Neue Feinde
I don't know who to trust, no surprise
Everyone feels so far away from me
Heavy thoughts sift through dust and the lies
- Linkin Park, From the Inside
Schwer atmend folgte Nicolas Darnovey vor die Tür. Sein Kopf summte vor den schlechten und fadenscheinigen Argumenten, die er den anderen Kartell-Oberhäuptern vorgetragen hatte, doch er hatte immer an Hector Stanraers Worte in der Kutsche denken müssen. Er hat immer einen Hintergedanken, der seine eigenen Ziele verfolgt, selbst wenn sie im ersten Moment auch für einen selbst nützlich erscheinen, werden sie ihm am meisten nützen. Gegen Darnoveys Vorschlag Widerstand zu leisten, ohne diesen Satz laut zu sagen, war schwer gewesen. Aber wie hätte er seinen Verdacht laut äußern können, ohne zu verraten, dass Hector ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte? Das hätte den anderen nicht gefallen. Vielleicht wussten die anderen schon von Darnoveys doppeltem Spiel, aber die Aussicht auf Reichtum und Gold war verlockender als all ihr Misstrauen.
Aber was sollte jetzt diese Sache, dass Darnovey ihn vor die Tür bat? Wütend verschränkte er die Arme und sah ihm in die Augen. „Mr Darnovey, wenn Ihr mir bitte erklären könntet, was das soll?", fauchte er aufgebracht.
Der Anführer des Virrey-Kartells war nur ein Schemen im dunklen Gang, seine Zähne blitzten hell, als er Nicolas fröhlich zulächelte. „Mr de Oro, Ihr habt mir soeben das Leben gerettet."
Nicolas schien sich verhört zu haben. „Wie bitte? Wie das?"
„Ich hätte es keine zwei Sekunden länger mit diesen elenden Streithähnen ausgehalten. Vielen Dank dafür, das Ihr eingewilligt habt, mich hierher zu begleiten."
Nicolas konnte Darnovey nur angewidert anstarren. „Ist das der einzige Grund, weswegen ich hier in einem dunklen Gang stehen und kann jetzt wieder zu diesen elenden Streithähnen gehen, wie Ihr es so wunderschön ausgedrückt habt?", fragte er nach einem Moment.
„Natürlich nicht." Darnovey legte Nicolas den Arm um die Schultern, der sich zusammenreißen musste, ihn nicht abzuschütteln, aber seine Neugier zeigte sich wieder und er wollte hören, was Darnovey zu sagen hatte. Diese Eigenschaft wird mich eines Tages umbringen.
„Erst einmal möchte ich Euch dazu gratulieren, dass Ihr Salvatore Falcony beleidigt habt. Das macht nicht jeder, und das Ihr es getan habt, ist umso beeindruckender."
Nicolas bedachte ihn mit einem skeptischen Blick. „Was soll das heißen?"
Darnovey seufzte. „Man sieht es Euch nicht an, was in Euch steckt. Interessant. Außerdem", fuhr er fort, „ich habe eine Antwort auf Eure Frage. Nehmt sie als Entschädigung dafür, dass ich Euch hierher zitiert habe."
Nicolas zog interessiert und misstrauisch eine Augenbraue hoch. „Welche von meinen Fragen?"
„Was mit der kleinen Blackheart passiert ist."
„Ja. Was ist mit ihr passiert?"
„Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt, und der Kastellan nahm sie als Tochter auf. Benedict Gray hieß er, glaube ich", begann Darnovey.
„Den Namen Gray habe ich noch nie gehört", warf Nicolas ein.
„Er gehört nicht der Bruderschaft an, sondern ist ein gewöhnlicher Mensch. Aurays Tochter wuchs bei gewöhnlichen Menschen auf, bis sie fünf war. Gray kümmerte sich gut um sie, eines Tages schickten die Kartell-Oberhäupter auf sein Ansinnen hin fünf Kinder auf die Dunkelwacht, um festzustellen, ob sie eine Gefahr darstellt. Außerdem sollten sie sich mit ihr anfreunden, denn es ist immer noch schwerer, gegen seine Freunde zu kämpfen als gegen jemanden, den man gar nicht kennt. Schließlich saß Miss Blackheart auf der Festung, fünf Gören um sie herum, und sie wusste nicht mal, dass sie eine Schwester des Lykaon war."
„Hat man ihr nicht von ihrem Erbe erzählt?", fragte Nicolas.
„Doch, natürlich. Sie wusste von dem, was ihr Vater getan hat, wer ihre Mutter war, warum sie sich nicht darauf freuen konnte, ein Kartell zu leiten, und warum sie nur ein paar Quadratkilometer Berge und eine Festung ihr Eigen nennen konnte anstatt ein halbes Land. Aber Gray hat ihr nie von den Wölfen erzählt."
„Warum nicht?"
„Das weiß wohl nur er. Mr de Oro, könnt Ihr mir ebenfalls eine Frage beantworten?", fragte Darnovey unvermittelt.
„Muss ich?" Nicolas lächelte halb.
„Nein, aber ich würde es gern wissen." Seine Stimme ließ jedoch keinen Widerstand zu.
„Worum geht es?"
Darnovey sah ihm in die Augen. „Es geht um die Ratssitzung. Es ist in der Tat interessant, dass die anderen, Maura und Stanraer und Sal, so versessen auf das Gold der Krieger sind. Und ich bin mir sicher, dass Ihr ebenfalls danach giert. Also, warum blockt Ihr meinen Vorschlag so rigoros ab, wenn Ihr eigentlich keinen Grund habt? Und jetzt sagt nicht, dass es ethisch falsch ist. Wir sind die Bruderschaft des Lykaon, wir haben keine Moral, wir sind auf Geld und Reichtum aus und auf sonst nichts. Was ist der eigentliche Grund?"
Ich habe Moralvorstellungen, und die werde ich nicht brechen. Außerdem bin ich nicht wie die anderen, und will auch nicht so sein wie sie. Ich will kein Tier und auch niemals so skrupellos sein. Doch das konnte er Darnovey nicht sagen, sonst hätte er jegliches Ansehen bei ihm verloren. „Ihr habt es schon gehört. Es ist Wahnsinn. Und wir würden vernichtet werden, wenn ans Licht kommen würde, dass wir dahinter stecken", wiederholte er einen der Gründe, der trotz seiner Glaubhaftigkeit der unwichtigste war.
Darnovey schüttelte den Kopf. „Mr de Oro, das hattet Ihr schon gesagt. Mit dem richtigen Attentäter, den wir danach ebenfalls aus dem Weg räumen könnten, wäre das kein Problem mehr. Nichts hätte zu uns zurückgeführt. Wenn Ihr das bedacht hättet, wärt Ihr dann immer noch gegen den Vorschlag?"
Nicolas erwog eine Lüge, aber dann hätte Darnovey gewonnen, und das musste er verhindern. „Ja", sagte er so entschieden, wie es ihm möglich war.
„Was ist es dann?", drängte Darnovey.
Nicolas erstarrte. Er konnte ihm nicht von Hector erzählen, schließlich waren Virrey und Crusader erbitterte Feinde. Und würde es ihm gut bekommen, wenn er bekannt machte, dass er der Geschichte eines ehemaligen Oberhauptes glaubte, selbst wenn sie noch so glaubwürdig wäre? Das durfte er auf gar keinem Fall verraten. Es musste geheim bleiben, sonst wäre er dem Untergang geweiht.
Was den Tod des Königs anging... Ja, er war auf Geld aus, aber nicht so, dass er dafür über Leichen gehen würde. Natürlich war es verlockend, und den Tod eines einzigen Mannes wäre auch nicht allzu schlimm, aber was Darnovey vorschlug... das war Völkermord. Er nahm tausende Tode in Kauf, nur um an Gold zu kommen. Wenn es stimmte, was Hector ihm erzählt hatte, dass Darnovey immer einen Hintergedanken hatte, der auf Eigennutz aus war, und dass am Ende nur er, Darnovey, etwas von scheinbar guten Plänen hätte... Wenn die anderen Oberhäupter das doch nicht wussten... Dann musste er ihn aufhalten, koste es was es wolle, denn dann stand er als einziger im Rat der Bruderschaft zwischen Ravan Darnovey und einem weiteren Kartellkrieg.
Plötzlich wurde er sich seiner Situation bewusst, und wo er gerade war. Ich muss etwas sagen, wir stehen hier auf einem Gang und starren uns an, und er wird mit jeder Sekunde misstrauischer. Mehrmals setzte er zu einem Satz an, nur um sich wieder zu unterbrechen, während Darnovey ihn mit seinen dunklen Augen anstarrte, die ihm in diesem Moment wie Mackerel Stanraers Eisaugen vorkamen. Er fühlte sich, als könnte der Anführer der Virreys direkt in seine Seele starren.
Ein abfälliger Ausdruck huschte über Darnoveys Gesicht, als er Nicolas' Sprachlosigkeit bemerkte. „Mr de Oro, ich höre", sagte er kalt.
Weitere Sekunden verstrichen, doch Nicolas brachte keinen Ton heraus, während sein Herz im Gleichtakt mit seinen Gedanken galoppierte, um einen Ausweg aus seiner Situation zu finden, ohne von Hector erzählen zu müssen, und ohne seine Schwächen zu enthüllen.
„Hat es etwas mit Hector Stanraer zu tun?", raunte Darnovey plötzlich.
Nicolas überlief es eiskalt. Woher... „Woher wusstet Ihr das?", flüsterte er ängstlich.
Darnovey zog abfällig seine Oberlippe nach oben. „Mein Vorschlag war großartig und durchdacht, und niemand, der nicht mit ganzem Herzen auf Gold und Macht aus ist, würde ihn ausschlagen. Zwar hatte Blackheart recht, und Zafiro hat Skrupel, die in einem Vorhaben voll Intrigen und Blutvergießen nur im Weg sind, und es war klar, dass Ihr etwas dagegen haben würdet, aber dieser Widerstand, wie Ihr dagegen gehalten habt, selbst als Euch die Argumente ausgingen... Das war etwas zu hart, als dass es nur Skrupel waren. Als würdet Ihr um alles in der Welt gegen meinen Vorschlag halten. Und ich denke, wenn er von Maura oder Mackerel oder gar von Sal gekommen wäre, obwohl er niemals auf so etwas gekommen wäre, er ist zu sehr damit beschäftigt, zu jammern und zu saufen, hättet Ihr Euch nicht so sehr gewehrt.
Ich bin sicher, dass Ihr Eurem Kartell ein guter Anführer sein wollt. Ich bin sicher, dass Ihr es auch könntet, wenn", Darnovey hob beide Zeigefinger, „aber auch nur wenn Ihr Eure Skrupel beiseite lasst und an das denkt, was am besten für euer Kartell ist. Ich musste das auch lernen, aber mir sind meine Skrupel nie im Weg gestanden. Nicht nach all dem, was mir passiert ist. Was ich getan habe."
Nicolas zuckte zurück, als er diese Worte mit Hectors Verdacht verknüpfte. „Also ist es wahr", sagte er und staunte über die Ruhe in seiner Stimme.
„Was ist wahr?", hakte Darnovey interessiert und belustigt nach.
„Ihr habt Euren Bruder und meinen Vater umgebracht", spuckte Nicolas ihm Hectors Verdacht und seine Überzeugung vor die Füße.
Darauf hatte er einiges als Reaktion erwartet, aber nicht das, was Darnovey wirklich tat.
Er lachte laut auf, dann wandte er den Blick ab und lachte weiter.
„Was ist daran bitte so lustig?", fauchte Nicolas, verärgert darüber, dass Darnovey ihn anscheinend nicht ernst nahm.
Darnovey fuhr sich durch die Haare und stellte sein Gelächter ein. „Es tut mir leid, aber es ist lustig. Diesen Verdacht habe ich in den vier Jahren, in denen ich Anführer des Virrey-Kartells bin, schon hunderte Male gehört. Hector Stanraer wird nie müde, ihn mir vorzuwerfen. Ich habe viele schreckliche Dinge getan, und habe viele Menschen getötet, aber mein Bruder und Euer Vater sind nicht darunter. Das kann ich Euch versichern.
Wisst Ihr, ihn und mich verbinden eine tiefe und vom Herzen kommende Feindschaft. Er hat diesen Verdacht. Seit er ihn hat, bin ich für jeden Tod innerhalb der Bruderschaft verantwortlich. Er versucht nun, mir zu schaden, egal wie. Aber niemals offen, sonst würde er einen neuen Krieg auslösen, und er will das nicht. Er sucht sich den neuesten Anführer aus und versucht dann, alles, was ich vorhabe, zu verhindern. Er würde seinen Sohn dafür benutzen, aber Mackerel ist weniger der Mann für Intrigen, sondern eher für offene Auseinandersetzungen. Und er hat auch versucht, Maura zu beeinflussen, aber sie ist zu gerissen, als dass sie sich von irgendjemanden etwas sagen lässt. Salvatore mag mich und er stand auf der falschen Seite des Krieges, deswegen fällt der alte Säufer nicht unter das, was er sucht. Aber Ihr... Ihr seid perfekt für ihn. Unerfahren, aufgebracht durch einen Todesfall, den er nur zu gut für seine Zwecke benutzen kann.
Er hat Euch manipuliert, Mr de Oro. Ich kann Euch nur vor ihm warnen und hoffen, dass die Reihe der Anführer, die seinen Lügen nicht verfallen, nicht abreißt. Er hat immer eine Idee im Hinterkopf, mit der er Euch schaden kann. Ihr könnt Hector Stanraer nicht trauen."
Nicolas starrte ihn verwirrt an. Was soll das jetzt werden? Erst soll ich Darnovey nicht trauen, und jetzt auch nicht Hector? Wem denn dann? „Ach ja, und was soll ich stattdessen tun?"
Darnovey lächelte einladend. „Traut mir. Ich unterstütze Euch. Aber fallt nicht Hector in die Hände. Verschließt euch gegen seine Pläne, sie werden Euch nur Probleme bringen, denn er ist immer nur auf sich und seinen eigenen Nutzen bedacht."
Einer von ihnen lügt, und ich muss herausfinden, wer. Meine Wahl wird mein Leben verändern. Einer von ihnen wird mein Todfeind sein, und der andere wird mich unterstützen. Wenn ich davon ausgehe, was am besten für mein Kartell ist... Nein. Es war ein weiser Ratschlag, aber hier muss ich mein Herz entscheiden lassen. Hat Darnovey meinen Vater getötet oder nicht? Nicolas sah Ravan in die Augen. Doch es war nichts zu erkennen, kein Funke eines kaltblütigen Mörders in der Hülle des Kartell-Oberhauptes. Kein Zeichen, ich muss mich entscheiden. Er ging jedes einzelne Argument durch, das Hector im vorgetragen hatte. Sie machen Sinn. Seine Argumente machen Sinn. Darnoveys sind nur ein Versuch, mich von seinem Erzfeind abzubringen. Er versucht Hectors Verdacht, nein, meinen Verdacht, von sich abzulenken. Er ist ein Mörder. Und ein Lügner.
Entschlossen trat er einen Schritt näher an Darnovey heran, sein Herz beschleunigte, wie in dem Moment, als er sich zur Ruhe gezwungen und dann Salvatore Falcony beleidigt hatte. Es hatte Mut erfordert, aber danach hatte er ihn in Ruhe gelassen, selbst wenn Nicolas wusste, dass er sich damit einen Feind gemacht hatte.
Das hier war identisch. „Er hat mir vor kaum zwei Stunden genau das Gleiche gesagt, über Euch. Glaubt Ihr allen Ernstes, ich würde dem Mörder meines Vaters auch nur ein Wort glauben?"
Ravan lächelte abschätzig. „Ihr habt eine Wahl getroffen. Ich hoffe für Euch, dass Ihr die Falsche getroffen habt, nur um zu sehen, wie viel besser es Euch mit meinen Plänen ergangen wäre." Damit drehte er sich um und marschierte davon.
Nicolas blieb zum zweiten Mal an diesem Tag allein in der Dunkelheit zurück, seine Gedanken aufgepeitscht wie die See bei Sturm, und fragte sich, ob er richtig gewählt hatte.
Dann sah er sie, und die Frage, wem er glauben sollte, was passieren würde, und was die Konsequenzen seines Handelns waren, lösten sich in Luft auf. Sie war das Einzige, das noch existierte.
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