27. Punto Alegre
In the wild they see no roses,
In the wild they feel no pain,
I'm alive but i am broken,
I'm alive but i'm a shame
- Johnossi, Into the Wild
„Hey, Mädchen. Wir sind da."
Müde hob Marie den Kopf und sah sich nach der Stimme um. Ein junger Seemann stand an den Gittern ihrer Zelle und zückte gerade einen Schlüssel. Sein Blick wanderte scheu und etwas abgestoßen, aber dennoch interessiert über ihren Körper.
Marie rappelte sich von ihrem Lager aus dünnem Stroh auf und klopfte sich den Dreck aus dem schmutzigen Mantel, den sie über der nackten Haut trug. Mit einem verlegenen Blick auf den Mann schüttelte sie sich die Haare aus und merkte, wie schrecklich sie sich anfühlten. Ich muss furchtbar aussehen. Fettige Haare, der Körper voll Dreck nach fast eineinhalb Monaten auf See und überall schmutziges Stroh.
Haben wir nicht schlimmere Sorgen als deine Eitelkeit?, meldete sich die Wölfin zu Wort. Sie war all die Zeit der einzige Grund gewesen, der sie am Leben gehalten hatte. Unermüdlich hatte der Abgrund ihr ins Ohr geflüstert, dass sie nicht aufgeben sollte, Roxane zuliebe. Wenn sie es nicht getan hätte, hätte Marie wahrscheinlich irgendwann ihrer imaginären Hoffnungslosigkeit nachgegeben. Aber die Wölfin hatte sie immer wieder mit ihrer Vernunft auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht. Du bist eine Crusader, und Crusaders geben nicht auf. Sie kämpfen, bis sie zur Strecke gebracht werden, und lassen sich niemals aufhalten, hatte der Abgrund dem Mädchen eingebläut.
Der Seemann legte Marie Handschellen an und führte sie durch das Schiff an Deck. Während der gesamten Überfahrt hatte Marie kein Sonnenlicht gesehen, nur die dünnen Streifen, die durch die Schlitze zwischen den schlecht abgedichteten Planken hereinfielen. Während eines Sturmes war durch sie das Wasser hereingeschwappt, und Marie war nass, frierend und seekrank in der Dunkelheit gesessen und sich den Tod gewünscht. Damals hatte selbst die Wölfin geschwiegen, und Marie hatte schreckliche Angst gehabt, dass sie nun für immer weg war. Aber kaum, dass der Sturm abflaute, war das vertraute Summen in ihrem Unterbewusstsein zurück.
Die Erinnerung daran ließ Maries Eingeweide vor Angst beben. Sie war beinahe blind, als das Sonnenlicht in ihre Augen fiel, heiß und grell. Die stickige Hitze im Laderaum wurde abgelöst von einer schweren, schwülen Wärme, die Marie nur zu gut kannte. In Santa Cruz ist es genauso. Sie sog Luft ein, frische, nach Salz und Hitze riechende Luft und es erinnerte sie so sehr an ihr Zuhause, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Es wäre zu schön, wenn wir es wären. Zuhause in Port East, in dem weißen Herrenhaus der Familie de Tracy. Mit Jean und den Bediensteten, die mir kalten Getränke auf die Veranda bringen. Ich könnte im Meer, in der Bucht mit dem blauen Wasser schwimmen gehen und abends würden wir die teuren Sachen essen, die unser Koch im Hafen gekauft hat. Fisch und Früchte und Fleisch... Irgendwann wären die Jagdfeste und wir würden ein paar Menschen fangen... Ich war nie lange in Port East, aber ich habe es geliebt. Wie gerne würde ich Roxane die Insel zeigen, aber das werden die anderen Kartell-Oberhäupter nie zulassen.
Doch sie wusste, sie war nicht zuhause. Sie waren keine eineinhalb Monate lang gesegelt, nur um schließlich in Santa Cruz zu landen. Nervös blinzelte sie, bis sich ihre Augen an die Sonne gewöhnt hatten, und sah sich dann um.
Das Schiff hatte an einem langen Steg angelegt. Türkisfarbenes Wasser umgab es, gesäumt von einem weißen Strand und sich im Wind wiegenden Palmen. Der leichte Wind brachte die Takelage zum Knarren und wehte einen Duft von gebratenem Fleisch und Rum aufs Meer, bei dem Marie das Wasser im Mund zusammenlief.
Doch der paradiesische Eindruck wurde durch die Bewohner der Küste zerstört. Menschen und Krieger in allen Farben, Rassen und Größen liefen zwischen grob gezimmerten Holzhäusern umher, chaotisch und unzivilisiert. Am Strand kämpften ein Minotaurus und ein Sobekkrieger mit bloßen Fäusten gegeneinander, Blut tropfte in den weißen Sand. Um sie herum hatte sich ein Pulk gebildet, der seine Kämpfer lauthals anfeuerte. Geld wechselte des Besitzer, Alkohol floss in Strömen.
Es ist, wie Ikaria gesagt hat. Wir sind auf den Racheinseln. Maries erster Gedanke war, wie barbarisch es hier zuging. Niemand verhinderte, dass der Minotaurus den Sobekkrieger schließlich auf die Hörner nahm und seine Leiche ins flacher Wasser warf. Niemand hielt einen betrunkenen Mann davon ab, dem Toten alles zu stehlen, was er am Leibe trug. Sie spürte einen panischen Kloß im Hals, und wenn irgendjemand sie ansprechen würde, dann würde sie in Tränen ausbrechen, das wusste sie.
Ich werde sterben, ich werde sterben, oh Geister, ich werde hier, an diesem schrecklichen Flecken Erde umgebracht werden, von irgendeinem Widerling, der mich nicht hübsch genug findet, um mich als lebenswert zu erachten...
Reiß dich zusammen! Crusaders weinen nicht. Marie hörte das Grollen der Wölfin in ihrem Kopf, ein tiefes, vibrierendes Summen. Sie schluckte heftig.
Ängstlich sah sie zu, wie die anderen Gefangenen aus dem Schiffsbauch gezerrt und auf den Steg geführt wurden. Sie fing Ikarias Blick auf, und die goldenen Augen der Horuskriegerin blitzten hasserfüllt. Hoffentlich treffen wir uns wieder, und dann verpasse ich ihr eine Abreibung, die sich gewaschen hat. Sie soll es nicht wieder wagen, die Bruderschaft zu beleidigen.
Die Wölfin grollte anerkennend. Eine wahre Crusader. Marie erlaubte sich ein kleines, stolzes Lächeln.
Der Mann, der Maries Handschellen hielt, gab ihr einen kleinen Stoß. „Los, vorwärts", befahl er halbherzig. Sie betrat den Steg, das Holz unter ihren nackten Füßen fühlte sich heiß an.
Es waren nur wenige Minuten, als sie den Steg entlangging, doch es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Die Männer der anderen Schiffe, die angelegt hatten, betrachteten sie gierig, manche machten Witze oder leckten sich die Lippen. Krampfhaft suchte Marie nach ihrer schlagfertigen Seite, für die sie in Amostown bekannt gewesen war, doch die Angst hatte sie ausgelöscht. Sie beschränkte sich auf einen hochmütigen Blick und hoffte, der Mantel würde ihre Blöße wenigstens etwas verdecken. Doch die Blicke der Männer machten ihre Hoffnungen zunichte.
Als sie das Ende des Stegs erreicht hatte, wusste sie nicht, ob sie erleichtert aufatmen oder weiter verzweifeln sollte. Zwei Arbeiter, ein muskelbepackter Mann mit bräunlicher, narbenübersäter Haut und eine dürre, mürrische Kriegerpferdstute mit fleckigem grauem Fell, standen vor zwei Wägen. Der der Stute war ein gewöhnlicher Planwagen, mit schmutziger Segeltuchplane, während der des Mannes aus einem stählernen Käfig bestand, gezogen von zwei kräftigen Zugpferden.
Mann und Kriegerpferd begutachteten jeden einzelnen der Gefangenen. Die Stute betastete gerade die Haare einer zitternden jungen Frau, mit einem Ruck hob sie das Kinn an, um der Frau in die Augen zu sehen. Sie stellte ein Frage, die Marie nicht verstehen konnte, und das Mädchen antwortete verschüchtert. Knapp wies die Stute auf ihren Wagen, und die Frau gesellte sich zu den anderen ängstlichen Männern und Frauen. Der Mann dagegen stach mit seinen Fingern in Oberarme und stellte Fragen, um die Ausgewählten, meist kräftige Männer und grobschlächtige Frauen, auf seinen Wagen zu schicken. Wer nicht gehorchte, wurde von den umstehenden Soldaten von dem crusadianischen Schiff auf seinen Wagen getrieben.
Auch Ikaria wurde in den Käfig gestoßen. Ihre Federn sträubten sich, als einer der umstehenden Männer, ein Dusker, eine abfällige Bemerkung machte. Marie hörte, wie die Horuskriegerin eine wütende Antwort gab und das dreckige Lachen des Soldaten.
„Warum werden die Gefangenen sortiert?", fragte Marie den Mann, der ihre Fesseln hielt.
„Brego, der Kerl neben dem Käfig, ist der Helfer des reichsten Sklavenhändlers von den gesamten Racheinseln. Er verkauft sie weiter, an die Arenen und Sklavenmärkte von Zephyr, Cancuga und Gantega. Aber nicht alle sind geeignet als Sklaven. Deswegen kauft Hassila alle auf, die Brego nicht gebrauchen kann."
„Und... was passiert dann mit denen, die Hassila kauft?" Maries Stimme versagte beinahe vor Angst, während die Wölfin in ihrem Inneren hämisch knurrte. Du weißt es ganz genau. Du willst es nur nicht wahrhaben. Unwissenheit schützt nicht vor Schaden, begreife es endlich. Marie ignorierte die Stimme, obwohl sie wusste, dass sie die Wahrheit sagte.
Der Mann wand sich unbehaglich, bevor er sagte: „Hassila ist die Mistress des bekanntesten Bordells in ganz Punto Alegre."
„Ich soll... ich werde... als Hure verkauft?", stammelte Marie.
„Ja. Oder als Sklavin." Sein wütender Tonfall machte ihr klar, nicht weiter auf das Thema einzugehen.
Marie traten die Tränen in die Augen. „Bitte nicht. Bitte tu was. Lass das nicht zu, bitte", schluchzte sie.
„Ich kann nicht", war seine Antwort. „Und jetzt sei still."
Die Schlange der Gefangenen vor ihr schien endlos lang zu sein, und Marie trat ängstlich von einem Fuß auf den anderen. Das Warten zerrte an ihren Nerven, und die Hitze setzte ihr zu. Schon nach wenigen Minuten brannte die Haut in ihrem Gesicht, und unter ihrem Mantel lief ihr der Schweiß den Rücken hinab. Wie gerne würde sie einfach ins Meer springen und in den kalten Fluten verschwinden. Sehnsüchtig sah sie zum Strand, wo ein anderer Mann den Minotaurus herausgefordert hatte, und machte einen Schritt in die Richtung des kühlen Nasses.
Mit einem Ruck an den Ketten um ihre Handgelenke wurde sie daran erinnert wo sie war. Trotz wallte in ihr auf, und für eine Sekunde erwog sie, zum Wolf zu werden, doch sie wurde mit einem harschen Knurren davon abgehalten.
Du wirst dich nicht verwandeln! Wenn du das jetzt tust, haben sie dich schneller erschossen, als du in den Wald rennen kannst. Jeder hier hat eine Waffe, und niemand wird zögern, sie einzusetzen.
In der ganzen Geschichte der Bruderschaft wurde wahrscheinlich noch nie jemand von seinem Abgrund von der Verwandlung abgeraten.
Wir sind nicht so wie alle anderen.
Nein. Alle anderen hätten sich einfach in den Abgrund gestürzt.
Die Wölfin lachte, ein Bellen hinter Maries Stirn. Alle anderen hätten hätten gar nicht erst erwogen, sich hier zu verwandeln. Sie hätten auf den geeigneten Augenblick gewartet, ohne Soldaten und Waffen und Publikum in der Nähe, und wären dann geflohen.
Aber ein solcher Moment, wird er denn kommen? Ich bin eine Schwester des Lykaon, ich gehöre der Bruderschaft an, man wird mich bewachen!
Das Kichern der Wölfin wurde spöttisch. Glaubst du wirklich, du hast auch nur irgendeinen Wert hier? Du bist nur ein weiteres Mädchen, das der Bruderschaft in die Krallen gefallen ist. Selbst wenn jemand bemerkt, wer du wirklich bist, und Geld von der Bruderschaft fordert, wird niemand kommen und dich auslösen. Maura Ithakea kontrolliert Crusadia. Wer soll nach dir fordern? Dein Bruder? Er wird nichts tun, solange Mackerel es ihm nicht befiehlt. Stanraer tötet, während Falcony trinkt, Darnovey will Geld und Ruhm verdienen und Nicolas muss Roxane finden. Wir sind auf uns gestellt. Aber das bedeutet auch gleichzeitig, dass wir frei sind. Wir können tun, was wir wollen, wir dürfen uns nur nicht dabei erwischen lassen.
Denkst du, dass uns diese dürre Pferdevogelscheuche unbewacht lässt? Oder der Minotaurus ohne Hörner?
Irgendwann, früher oder später, werden sie es tun.
Der letzte Mann vor Marie wurde auf den Wagen mit dem Käfig geladen, mit einem Kreischen wurde die metallenen Tür geschlossen. Der Mann, den Maries Bewacher Brego genant hatte, stieg auf den Kutschbock neben den Kutscher, und rumpelnd fuhr der Wagen davon.
Sie scheinen sich sicher zu sein, dass ich nicht als Sklavin gedacht bin, dachte Marie. Sie wusste nicht, ob es gut oder schlecht war, im Vergleich zu dem, was die Männer und Frauen auf dem Wagen der grauen Stute erwartete.
Der Seemann führte sie auf Hassila zu. Von Nahem sah ihr Gesicht aus wie ein Pferdeschädel, über das fahles graues Pergament gespannt worden war. Das wenige Weiße, das in ihren dunklen Augen zu sehen war, war gelblich, und sie roch unangenehm nach Rauch und Alkohol. Ihre Mähne war strähnig und zu einem dünnen Zopf geflochten, der ihr über die Schulter fiel. Sie war dünn, ohne jede Oberweite, und ihr schmutziges bläuliches Kleid hing an ihr wie ein Sack Kartoffeln, das nur um ihre Taille mit einem Korsett gehalten wurde.
Sie musterte Marie von oben bis unten, ihr Blick glitten geübt über ihr ängstliches Gesicht, ihre Brüste, über denen sich der Mantel spannte, und ihre breiten Hüften. Knochige Finger fuhren durch Maries fettige Haare, streiften die Haut ihrer Beine und rieb ihr etwas Dreck aus dem Gesicht. „Mit einer ordentlichen Wäsche ist sie wie neu", knurrte die Stute. „Bist du noch Jungfrau?"
Marie versucht krampfhaft, das Zittern in ihrem Körper abzustellen. „J... ja", flüsterte sie.
Hassila nickte langsam. „Ist das die, von der mir Lady Maura geschrieben hat? Du hast sie gesondert hergeführt, deswegen vermute ich, dass sie was Besonderes ist."
Der Seemann nickte. „Das ist sie. Am Anfang unserer Überfahrt wollte die anderen sie umbringen. Deswegen haben wir sie in eine Einzelzelle gesteckt."
Über das Gesicht der Stute huschte etwas, was man mit viel gutem Willen ein Lächeln nennen konnte. „Brav. Jungfrauen sind selten heutzutage. Wenn du Lady Maura über den Weg läufst, dann sag ihr 'nen schönen Gruß von mir und dass ich mich sehr geehrt fühle, dass von allen Hurenhäusern, die sie besitzt, gerade das meine für dieses Prachtstück", sie wickelte sich eine von Maries Haarsträhnen um den Finger und zog leicht daran, „das neue Zuhause sein soll." Marie wich zurück und Hassila lachte. „Keine Angst, meine Kleine, dir wird nichts passieren. Nichts Schlimmes zumindest. Auf den Wagen mit dir!"
Der Seemann nahm ihr die Handschellen ab, und Marie stieg folgsam zu den anderen. Hassila redete noch kurz mit einem Mann, der der Kapitän des Schiffes zu sein schien, das Marie nach Punto Alegre gebracht hatte. Ein letztes Händeschütteln, und die graue Stute stieg wie zuvor Brego auf den Bock der Kutsche. Mit einem Ruck fuhr sie an, weg vom Strand, in die Eingeweide der Stadt.
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