𝟑𝟎. 𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 | Freundschaft
Abrupt wurde die Tür geöffnet und ich zuckte vor Schreck zusammen.
Ein Mann betrat den Raum und mein Atem stockte. Erst als ich ein zweites Mal hinsah, erkannte ich dass es nicht Amberson war, sondern irgendein anderer Polizist. Und er hielt eine Jacke in der Hand. Meine Jacke, um genau zu sein.
Die, die ich aus Juliens Haus mitgenommen hatte. Die Polizisten hatten sie mir weggenommen, um sie auf Spuren zu untersuchen. Wie zum Beispiel Haare von Julien, mit denen sie ihn identifizieren und somit finden konnten.
Ein Teil von mir hoffte, dass sie etwas gefunden hatten, was ihnen dabei half, ihn hinter Gitter zu bringen. Aber ein anderer Teil wünschte sich genau das Gegenteil. Wenn ich meine Augen schloss, sah ich Julien verletzt und blutend auf dem Boden seines Kellers liegen.
Lebte er in diesem Moment überhaupt noch? Oder war er schon verblutet?
Mir traten Tränen in die Augen. Absurderweise machte ich mir Gedanken darüber, ob ich ihn ermordet hatte. Ob sein Tod meine Schuld war.
Julien war selbst nicht harmlos gewesen, er hatte Mädchen gefangen gehalten, gefoltert und misshandelt. Warum also wünschte sich dieser kleine Teil von mir, dass er noch lebte? Und dass die Polizei ihn nicht finden würde?
„Wir wissen, wer er ist. Und wo er wohnt. Es sind schon Leute zu dem Haus unterwegs", erklärte der Polizist mit ruhiger Stimme und sah dann zu mir. Katy kniete immer noch neben mir und ließ mich langsam los.
„Wenn wir ihn finden, dann haben Sie recht. Aber wenn wir in diesem Haus nichts finden, was auf eine Gefangenschaft und Misshandlung hindeutet..."
Er zuckte mit den Schultern.
Ich schluckte und schloss meine Augen. Er glaubte mir also auch nicht. Warum dachten eigentlich alle, dass ich mir das Geschehene nur ausdachte?
„Naja, wir werden sehen. Sie müssten sich gleich melden", schloss er seine Ausführung schulterzuckend, legte Juliens Jacke auf den Schreibtisch und verließ den Raum wieder.
Die Polizistin folgte ihm. Ich war mit Katy alleine im Raum. Mein Herz schlug automatisch schneller. Ich bekam Angst, wusste aber nicht wieso.
Katy sah die Panik in meinen Augen und rutschte ein Stück zurück.
„Leyla, ich...", setzte sie an, brach dann aber ab. Deutlich überfordert sah sie mich an und das konnte ich sehr gut verstehen. Ich verstand mich ja selbst nicht mehr.
Umständlich stand ich auf und stützte mich auf dem Schreibtisch ab. Ganz dumpf spürte ich noch einen pochenden Schmerz in meinem Unterleib, da, wo der Polizist mich getroffen hatte.
Meine Beine zitterten und ich kniff die Augen zusammen, um das Schwindelgefühl zu verdrängen. Als ich meine Augen langsam wieder öffnete, sah ich direkt auf Juliens Jacke. Sie lag einsam und verloren auf dem großen Schreibtisch. Da gehörte sie nicht hin.
Eigentlich müsste er sie tragen. Sie dürfte nicht auf dem Polizeirevier liegen und als Beweisstück gebraucht werden. Das war falsch.
Entschlossen griff ich nach der Jacke und ließ die Decke auf den Boden fallen. Sie wickelte sich um meine Füße, als sie auf dem Boden landete. Aber das war mir egal.
Der Stoff der Jacke fühlte sich vertraut an. Als ich die Jacke ganz angezogen hatte, roch die Luft um mich herum nach Julien. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, ihn umgebracht zu haben. Egal was er mir angetan hatte.
Schließlich hatte ich ihn mal geliebt. Ich spürte in mich hinein, ob ich ihn immer noch liebte. Das tat ich nicht. Ich hatte Angst vor ihm. Warum also wünschte ich mir, dass er noch lebte?
Katy tauchte neben mir auf und riss mich aus meinen Gedanken, in dem sie mir eine Hand auf den Arm legte.
„Hast du die Anzeige aufgegeben?", fragte ich sie geradeheraus und sie blinzelte mich überrumpelt an.
„Welche Anzeige?", hakte sie verwirrt nach.
„Die Vermisstenanzeige. Die aus der Zeitung", erklärte ich ihr ungeduldig. Sie bekam große Augen.
„Woher weißt du denn von der Anzeige?"
„Er hat sie mir gezeigt und mich aufgefordert einen Brief zu schreiben, in dem ich der Polizei mitteile, dass es mir gut geht und ich nur kurzfristig bei Verwandten bin. Aber ich habe diesen Brief nie geschrieben...also, hast du die Anzeige aufgegeben?" Meine Stimme war am Ende nur noch ein Krächzen, so viel hatte ich seit Wochen nicht mehr an einem Stück gesagt. Genauer gesagt, hatte ich zwischendurch sogar ganz aufgehört zu sprechen...
Katy musterte mich und nickte dann langsam. „Ja, ich habe die Anzeige aufgegeben. Ich bin zur Polizei gegangen und habe dich als vermisst gemeldet. Aber...die Idee kam nicht von mir."
Schuldbewusst sah sie mich an. Meine Knie fingen an zu zittern und ich lehnte mich an dem Schreibtisch an und klammerte mich mit den Händen an der Tischplatte fest.
Was sollte das jetzt bedeuten? Sie hatte nicht die Idee gehabt? Also hatte sie mich gar nicht wirklich vermisst, sondern mich nur im Auftrag eines anderen als vermisst gemeldet?
Ich war völlig verwirrt. Katy bemerkte das und seufzte.
„Erinnerst du dich noch an den Typen? Der bei uns im Café stand? Mit den leuchtend grünen Augen und den Grübchen in den Wangen?" Begeistert sah sie mich an, während mir bei jedem weiteren Wort, was sie sagte, nur schlecht wurde.
„Der war jeden Morgen da, er wollte dich sehen. Aber du warst ja nicht mehr da.
Also hat er sich nach dir erkundigt, hat aber nichts herausgefunden. Dann kam er auf die Idee, zur Polizei zu gehen und dich als vermisst zu melden. Die Idee fand ich gut, deswegen habe ich es direkt nach Feierabend gemacht.
Danach kam er nur noch ein paar mal, irgendwann kam er gar nicht mehr. Scheint wohl aufgegeben zu haben, dich jemals nochmal wieder zu sehen. Gott Leyla, der Typ hat sich wirklich in dich verknallt!", lachte sie belustigt.
Ich stand wie erstarrt da. Meine Gedanken überschlugen sich. Es war der reinste Wahnsinn, was Katy mir da gerade erzählt hatte. Wie krank war Julien wirklich gewesen?!
Schließlich war er derjenige, der mich entführt hatte und mich jeden Tag sehen konnte. Warum spielte er dann bei Katy den armen, verliebten Kerl, dem jemand seine Traumfrau geklaut hatte? Er war es selber gewesen!
„Leyla?", fragte Katy vorsichtig, die anscheinend auch schon bemerkt hatte, dass ich ihre Begeisterung nicht teilte. Aus weit aufgerissenen Augen sah ich sie an.
„Katy, das ist der Kerl! Der hatte mich bei sich im Keller eingesperrt!" Den Tränen nahe rutschte ich am Schreibtisch herunter, bis ich auf dem Boden hockte.
Dort schlang ich mir die Arme um die Knie und zog sie so nah wie es ging an mich heran. Katy war sprachlos und starrte mich mit offenem Mund an.
„Nein. Da...das kann doch nicht sein...das kann einfach nicht sein...", stotterte sie vor sich hin, aber ich nickte nur. Sie brauchte noch einen Moment um das zu realisieren, dann setzte sie sich neben mich. „Der ist doch krank", murmelte sie vor sich hin.
„Leyla...du bist ja ganz blass... das ist bestimmt die Aufregung...soll ich dir was zu trinken holen?", hörte ich Katy besorgt fragen. Ich steigerte mich langsam aber sicher in eine Panikattacke hinein.
„Leyla? Was ist los?" Ich rieb mir mit einer Hand über die Stirn und sah Katy an.
„Ich hab Angst", brach es aus mir heraus, dicht gefolgt von einem Schwall Tränen. Ich schlug mir verzweifelt die Hände vor das Gesicht. Mein Körper wurde durchschüttelt, ich fühlte mich, als ob ich keine Luft mehr bekommen würde, so sehr weinte ich.
„Ich weiß nicht, was ich machen soll. Wo ich hin soll, ich habe nichts mehr. Die anderen Menschen verachten mich, nehmen mich nicht ernst. Sie halte mich für eine Nutte, die es nicht besser verdient hat", schluchzte ich völlig aufgelöst und klammerte mich an Katy fest, als sie mich wieder in den Arm nahm.
Sie strich mir beruhigend über den Rücken.
„Du schaffst das. Du bist stark. Und du bist nicht mehr alleine. Ich werde dir helfen. Ich hätte dir schon viel eher helfen müssen. Es hätte meine Idee sein müssen, zur Polizei zu gehen und dich zu suchen. Es war meine Schuld."
Sie löste sich von mir und legte mir ihre Hände an die Wangen und zwang mich somit, sie direkt anzusehen.
„Hör zu, wir schaffen das zusammen. Ich mache nicht noch einmal den Fehler und lasse eine Freundin im Stich. Du kannst bei mir wohnen." Ermutigend sah sie mich an und wartete, bis ich kurz nickte.
Erst dann ließ sie mich los.
Ich lehnte mich mit geschlossenen Augen an dem Tisch an. Ich fühlte mich besser. Ich glaubte Katy, dass sie mir wirklich helfen würde. Ich würde es irgendwie schaffen, mir wieder ein Leben aufzubauen. Mit ihrer Hilfe.
Auch wenn ich die Geschehnisse mit Julien nie vergessen könnte. Oder ihn selbst. Aber vielleicht ist das gar nicht so schlimm.
Ein Mensch sollte nie ganz in Vergessenheit geraten.
Egal, was er getan hatte.
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