𝟐𝟕. 𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 | Einsamkeit
Meine Zähne schlugen klappernd aufeinander.
Ich spürte meine Fußsohlen mittlerweile nicht mehr, so kalt war mir.
Juliens Jacke hatte ich so fest es ging um meinen Körper gezogen, aber da ich darunter quasi nichts trug, reichte die Jacke nicht aus, um die Kälte abzuhalten.
Mittlerweile war es dunkel geworden, Straßenlaternen erhellten die Straße, auf der ich ging. Vielmehr lief ich auf dem schmalen Bürgersteig.
Ich wusste immer noch nicht, wo ich mich befand. Die Straßennamen auf den Schildern, an denen ich vorbei lief, sagten mir absolut gar nichts.
Mittlerweile knurrte mein Magen, ich zitterte am ganzen Körper und wollte nur noch in ein Bett. Ich hatte kein Geld dabei, also konnte ich mir kein Zimmer in einem Hotel nehmen.
Davon mal ganz abgesehen, schien es in dem Kaff hier keine Hotels zu geben. Ein Handy besaß ich auch nicht, um irgendjemanden anzurufen. Verbissen lief ich weiter.
Wen sollte ich auch anrufen?
Ich war einige Monate weg gewesen, spurlos verschwunden. Die Polizei hatte mich bestimmt mittlerweile für tot erklärt. Ich hatte keine Familie, keine Angehörigen, die mir helfen würden.
Mit jedem Schritt den ich zurück legte, wurde mir das mehr und mehr bewusst.
Vielleicht hätte ich doch einfach bei Julien bleiben sollen. Dann wäre ich wenigstens nicht alleine. Zwar wäre ich eingesperrt und nicht an der Freiheit, aber ich wäre nicht alleine. Von der Freiheit hatte ich nichts. Was sollte ich tun?
Ich wusste noch nicht mal, wo ich diese Nacht schlafen sollte. Außer unter irgendeiner Brücke, wo ich mir wortwörtlich den Arsch abfrieren würde.
Eine junge Familie kam mir entgegen. Kurz schöpfte ich Hoffnung und blieb im Licht einer Straßenlaterne stehen. Die Frau schob ihre kleine Tochter zwischen sich und ihren Mann, als sie näher kamen.
„Entschuldigung...", setzte ich an, brach aber entmutigt ab. Der Mann legte beschützend einen Arm um seine Frau und sein Kind, während mich die Frau angewidert ansah und einen kleinen Bogen um mich machte.
Mit offenem Mund starrte ich ihnen hinterher. Schnell schluckte ich den Kloß in meinem Hals herunter. So würde mir niemand helfen.
Natürlich wusste ich, dass ich einen ziemlich erbärmlichen Eindruck machte, aber ich war doch keine Massenmörderin! Der Mörder war eindeutig Julien. Unbehaglich sah ich den Weg zurück, den ich gekommen war. Ich hatte das unangenehme Gefühl, dass er mir im Nacken sitzen würde. Aber das konnte nicht sein.
Er war angeschossen gewesen und bewusstlos. Vielleicht sogar mittlerweile tot. Er hätte es niemals schaffen können, mir zu folgen. Dazu war er zu schwach.
Andererseits war ich auch schwach und hatte mich in der atemberaubenden Geschwindigkeit einer Schnecke fortbewegt. Also wäre es möglich, dass er mir tatsächlich gefolgt wäre.
Wütend trat ich gegen einen Maulwurfhaufen direkt neben mir. Die feuchte Erde flog durch die Luft und gab ein leises, prasselndes Geräusch von sich, als sie auf ein paar Blätter fiel. An meinen Zehen klebte die Erde, aber ich machte mir nicht die Mühe, sie wegzumachen. Ich war so dumm. Ich war einfach nur dumm gewesen.
Warum hatte ich Julien nicht wirklich erschossen? Dann müsste ich jetzt keine Angst haben, dass er mir folgen würde. Dann müsste ich nie wieder Angst vor ihm haben. Wieso hatte ich noch versucht, ihn zu retten? Er hätte mich umgebracht, wenn ich nicht rechtzeitig geflohen wäre. Und was machte ich?
Ich versuchte ihn zu retten. Gewissensbisse plagten mich, meine Knie gaben unter mir nach und ich setzte mich kraftlos auf den Boden. Mit dem Rücken lehnte ich mich gegen die Straßenlaterne.
Ein kleiner Teil von mir wusste, warum ich ihn nicht getötet hatte. Es war meine Schwäche dafür, den Menschen hinter ihre Fassade blicken zu wollen. Insgeheim hatte ich immer gehofft, mal den echten Julien anzutreffen. Er spielte Rollen, die kalte, unantastbare Rolle, dann wieder die nette, zuvorkommende.
Aber einmal war er auch er selbst gewesen. Als ich ihn mit der Waffe bedroht hatte. Die schockierende Erkenntnis für ihn, dass ich keine Kinder mehr bekommen könnte. Diese Reaktion von ihm war nicht gespielt gewesen, sie war ehrlich. Das war der wahre, der echte Julien gewesen.
Er war gebrochen, hinter seine Fassade, die er sich aufgebaut hatte, gab es nichts anderes als Scherben. Ich habe mich in ihm wiedererkannt in gewisser Weise. Er tat mir leid, er musste eine schreckliche Vergangenheit gehabt haben. Es musste irgendetwas schlimmes passiert sein, sonst hätte er nicht diesen Hass gegen andere Menschen entwickelt.
Zitternd schlang ich meine Arme um meine Beine und vergrub den Kopf zwischen den Knien. Ich machte mich so klein wie es ging, versuchte, mich irgendwie noch zu wärmen. In diesem Moment verstand ich ihn.
Ich hatte den Ekel, die Abscheu mir gegenüber noch vor ein paar Minuten in dem Gesicht der jungen Frau gesehen. Sie hat mich abstoßend gefunden, sie hatte sogar ihr Kind vor mir in Sicherheit gebracht. Das traf mich hart, löste ein dumpfes Gefühl in meinem Magen aus.
Warum war ich geflohen? Für wen? Auf mich wartete niemand. Verdammt nochmal, einfach niemand.
Ich brach in Tränen aus und ärgerte mich selbst darüber. Aber ich konnte sie nicht mehr zurück halten, ich konnte nichts mehr dagegen tun. Sie rannen meine Wangen hinunter, ich schluchzte laut auf. Mein Körper bebte. Ich war alleine.
Wie sehr würde ich mir jemanden wünschen, der mir seine Hand auf die Schulter legen würde, der mir eine Decke geben würde und einfach nur sagen würde, dass er für mich da sein wird. Wieso kam dieser jemand nicht?
In diesem Augenblick hätte ich mich sogar über Juliens Anwesenheit gefreut.
Wenn er wirklich in dem Keller gestorben war, würde er vermisst werden? Hätte er jemanden hier draußen, der ihn vermissen würde? Oder wäre er einfach nur weg, als ob es ihn nie gegeben hätte?
Ich öffnete meine Augen und sah hoch in das Licht der Straßenlaterne. Zweifelnd überlegte ich, ob es dort oben im Himmel jemanden gab. Ob es Gott war, wusste ich nicht. Vielleicht waren dort oben meine Eltern und sahen gerade in diesem Moment auf mich herunter. Könnten sie mir nicht irgendwie helfen? Wie konnten sie es ertragen, ihre Tochter so leiden zu sehen?
„Miss?" Erschrocken richtete ich meinen Blick nach vorne. Vor meinen Augen tanzten schwarze Flecken, weil ich die ganze Zeit in das Licht der Laterne geschaut hatte.
„Kann ich Ihnen helfen?" Die Stimme klang unbekannt, leicht kratzig, aber liebevoll. Ich spürte eine warme Hand auf meinem Knie.
Blinzelnd erkannte ich, dass diese Hand alt aussah, sie war von Falten überzogen. Die Hand gehörte zu einer alten Dame, mit grauen Haaren und einer Regenhaube auf dem Kopf. Ihr Gesicht war rund, die Haut mit Falten überzogen. Aber ihre Augen blickten mich leuchtend und besorgt an.
Ich öffnete den Mund, um ihr zu antworten, aber es kam kein Ton heraus. Die Frau beugte sich zu mir herunter und sah mich durchdringen an.
„Geht es Ihnen gut?", vergewisserte sie sich besorgt. Meine Unterlippe fing an zu zittern und ich brach wieder in Tränen aus. Nein, mir ging es ganz und gar nicht gut.
Ich spürte meine Beine nicht mehr, sie waren steif und irgendwie eingefroren. Meine Fingerspitzen taub vor Kälte und in meinem Kopf herrschte einfach nur Leere.
„Schhhht", sagte die Frau beruhigend und ergriff meine kalten Hände. Sie drückte sie beruhigend und ich versuchte, ruhig durchzuatmen. Es dauerte einige Minuten, in denen sie nur meine Hände hielt, aber das reichte mir. Ich schaffte es, wieder ruhig zu atmen und sah zu ihr herauf.
„Ja, Sie könnten mir helfen." Meine Stimme klang seltsam hohl und fremd, aber das störte sie nicht. Sie hielt noch immer meine Hände.
„Was kann ich denn für Sie tun?", fragte sie und sah mich neugierig an. Ich überlegte und sah hoch zum Himmel. War da doch jemand, der mir diese Frau geschickt hatte? War da oben doch jemand, der auf mich aufpasste?
Neue Hoffnung keimte in mir auf. Mit festem Blick sah ich die Frau an und fasste einen Entschluss.
„Rufen Sie die Polizei."
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