Teil 9
Die eigenen Beine nicht bewegen zu können war grauenvoll. Es fühlte sich, als wäre ich in meinem eigenen Körper gefangen. Ich starrte meine leblosen Glieder an und beschwor sie mit aller Kraft mir ein Zeichen zu geben. Nichts geschah. Ich könnte genauso gut versuchen die Tasse auf meinem Nachttisch allein durch die Kraft meiner Gedanken zu bewegen. Vermutlich würde die Tasse noch eher auf mich hören, als meine Beine.
Jäh wurde ich durch ein Poltern an der Zimmertür aus meinem Selbstmitleidsbad gerissen. Ohne auf ein Herein zu warten huschten Simon und Robin neben mein Bett. Die Zwillinge trugen wie immer identische Outfits - heute waren es eine schwarze Cargohose und ein dunkelrotes Langarmshirt. „Was wollt ihr?", fragte ich entnervt. Es war noch sehr früh, trotzdem lag ich schon seit über einer Stunde wach, weil mir mein Rücken schmerzte. „Mum sagt du sollst heute zur Schule.", entgegnete Robin. Ich starrte ihn entgeistert an. „Das ist ein Scherz." Das musste ein Scherz sein. „Nein das hat Mum wirklich gesagt.", stimmte nun auch Simon seinem Zwilling zu. „Kommt überhaupt nicht ihn Frage."
In dem Moment kam Mum ins Zimmer und verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Oh doch. Du wirst heute zur Schule gehen, ob es dir passt oder nicht." Ihr fiel nicht auf, dass sie das Wort „gehen" verwendet hatte. „Wieso soll ich zur Schule? Damit alle sehen was für ein Scheiß Krüppel ich bin?", feuerte ich zornig zurück. „Sprich nicht in diesem Ton!" Sie nahm die Strenge aus ihrem Blick und setzte sich an die Bettkante. Die Zwillinge waren längst geflüchtet. „Noa bitte. Ich möchte dich nicht ärgern. Hör zu, du liegst seit einer Woche in deinem Bett. Du kommst bloß raus um auf die Toilette zu gehen oder einmal am Tag mit uns zu essen. Du verkriechst dich hier und ziehst dich sozial völlig zurück."
„Das stimmt doch gar...", wollte ich einwerfen, doch Mum unterbrach mich sofort.
„Das stimmt Noa und das weißt du. Du willst keinen Besuch mehr hier haben. Aber ich möchte nicht, dass meine Tochter so lebt. Du wirst von nun an wieder in die Schule gehen. Deine Lehrer wissen Bescheid. Ich hab jemanden eingestellt, der dir dort hilft. Und falls es nicht funktioniert, gibt es immer noch Einrichtungen, die extra für Fälle wie dich gebaut wurden." Mum machte eine Atempause. Ich dachte über das nach, was sie gesagt hatte. Mir wurde bewusst wie viel Mühe sie sich gab. Tief in mir dran verspürte ich eine große Dankbarkeit, dass sie mir helfen wollte. Dass sie versuchte, mich wie einen normalen Teenager zu behandeln. Und, dass sie das erste mal seit sechs Wochen etwas tat, was mir gegen den Strich ging, so absurd das auch klingen mochte. „Wen hast du eingestellt?", wollte ich mit belegter Stimme wissen. „Einen Pfleger namens Bob. Er wird dich immer begleiten."
„Muss das sein? Kann mir nicht jemand aus der Schule helfen? Sonst kriegt ja jeder mit, dass etwas mit mir nicht stimmt."
„Noa du sitzt im Rollstuhl, das kriegt sowieso jeder mit", schmunzelte sie. Ich starrte sie an. „Oh tut mir leid, war das zu früh?", fragte sie entsetzt. „Nein schon gut. Dann soll der mal kommen und mir helfen mich fertig zu machen.."
Wie sich herausstellte, war der Pfleger Bob bereits da und hatte nur auf seinen Einsatz gewartet. Er war groß und kräftig. Seine Statur erinnerte eher an einen Bodyguard, als einen Krankenpfleger. Ich schätzte ihn auf etwa fünfunddreißig. Sein blondes Haar färbte sich am Ansatz schon leicht gräulich. Er trug eine große, runde Brille. Insgesamt sah er eigentlich ziemlich normal aus. Tshirt und Jeans. Nicht so eine feminine Uniform wie Daniel aus dem Krankenhaus. Trotzdem würde mir niemand abkaufen, dass das bloß ein Austauschschüler oder ein Cousin von weit her ist, dafür war Bob leider zu alt.
Der Mann versuchte mich wieder ansehbar zu machen. Er half mir im Bad meine Haare zu waschen, zu fönen und mich anzuziehen. Das Ergebnis war gar nicht so schlecht, wie mir ein blick in den Spiegel verriet.
Vor dem Auto hielt ich meinen Rollstuhl an. Er hob mich hoch und setzte mich auf den Beifahrersitz. Meine zweite Hälfte klappte er zusammen und verstaute sie im Kofferraum. Dann fuhren wir los. Nervös spielte ich mit einer langen Haarsträhne und biss auf meiner Unterlippe herum. Die Aufregung ließ mich von innen erschaudern. Wir waren ein bisschen spät dran, weil meine Morgenwäsche natürlich länger gedauert hatte als normalerweise. Dementsprechend wenig Schüler waren auf dem Hof vor der Schule zu sehen. Anscheinend saßen bereits alle in den Klassen. Na toll.
Bob verfrachtete mich wieder in meinem Zweirad. Dann schob er mich über die Pflastersteine in Richtung Haupteingang. Zitternd schickte ich ein Stoßgebet gen Himmel und flehte Gott an, er möge mich doch bitte schleunigst im Erdboden versinken lassen.
Er tat es nicht.
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