19. Kapitel✔
Irritiert sahen mich die beiden an.
"Ok und woher willst du das wissen?", fragte Summer kritisch.
"Wir haben uns mit Pierce durch das Projekt sehr viel unterhalten.", sagte ich nur, dabei waren es für mich so viel mehr als nur ein Projekt oder Gespräche gewesen.
Es bedeutete mir viel, dass Pierce mir ein Stück seiner Vergangenheit anvertraut hatte. Ich wusste, dass da noch mehr war, aber ich würde nie jemanden dazu drängen mir etwas zu erzählen, worüber er nicht reden wollte.
"Wisst ihr, es wird viel erzählt und man sollte besser nicht immer jeden alles glauben, was er erzählt und das ist genau der Fehler, den viele Menschen begehen. Sie hören nie richtig zu. Sie erzählen einfach das weiter, was ihnen gesagt wird, egal ob es richtig oder falsch ist. Habt ihr mal darüber nachgedacht, dass das einen Menschen wirklich verletzen kann. Gerade wenn es darum geht, dass Pierce am Tod seiner eigenen Schwester schuld sein soll.", sagte ich. "Pierce ist nicht so grausam, wie die meißten hier denken."
Als ich noch in die Grundschule gegangen war, hatten mich meine Freundinnen und manchmal auch Lehrer gefragt, woher ich die blauen Flecken oder die aufgeschürften Handgelenke her hatte. Ich hatte immer gesagt, dass ich hingefallen wäre oder mich gestoßen hätte. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie einmal mehr nachgefragt hätten. Nein, sie hatten es mir einfach geglaubt und gesagt, was für ein Tollpatsch ich doch sei. Doch hätten sie einmal genauer hingesehen, hätten sie gewusst, dass so keine unabsichtliche Verletzung aussah. Die Blutergüsse wurden blasser und sobald sie anfingen zu verheilen, kamen neue hinzu.
Ich hatte mich nie vor anderen umziehen können. Jedes Mal war ich mit meinen Sportsachen in die Toilette gegangen und hatte mich dort umgezogen. Ich hatte Angst gehabt, dass jemand meine Verletzungen sehen könnte, die manchmal meinen ganzen Körper übersät hatten. Ob es die blauen Flecken, an den Armen gewesen waren, die ich immer mit einem langärmligen Shirt verdeckt hatte, die Striemen, die meinen Rücken, Po und Bauch bedeckten oder die Blutergüsse an meinen Beinen. Sie hatten über mich gelästert, weil sie nicht verstehen konnten, was für ein Problem ich hatte. Die Mädchen hatten hinter meinem Rücken darüber geredet, wie dünn ich doch sei und dass ich doch mehr essen sollte, da ich nur noch aus Haut und Knochen bestand. Sie hatten mich als hässlich bezeichnet, doch nie nachgefragt, warum ich so wenig aß oder warum ich nicht zu nahm. Der Grund, den keiner wissen durfte, wäre Graham gewesen, der Verlust meiner Mum, mein Dad, der innerliche Stress und die Angst, die dazu führten, dass ich nur noch in meinem Essen herumgestochert hatte und mich beim kleinsten Bissen übergeben musste. Ich hatte so lange nichts gegessen, bis mein Vater mir irgendwann damit gedroht hatte, mich zu füttern. Er hätte mich nicht ins Krankenhaus schaffen können, weil die Ärzte dann mitbekommen hätten, was Graham und mein Vater mit mir angestellt hatten. Außerdem war da noch Alec, der sich ständig Gedanken gemacht hatte.
"Hat er jemals den Eindruck gemacht, ein schlechtes Verhältnis zu seiner Schwester zu haben?", fragte ich die beiden, da sie mich bis jetzt nur angestarrt und nichts gesagt hatten. Und ich wusste auch warum.
Es kam nicht oft vor, dass ich meinen Standpunkt so klar deutlich machte, denn ich hatte früher nie gelernt, dass es nicht die Meinung meines Vaters war, die zählte, sondern meine eigene.
Ich alleine hatte mein Leben in der Hand und das war mir spätestens damals klar geworden, als wir von zu Hause geflohen waren. Ich tanzte nicht mehr nach den Noten anderer, nein, ich komponierte meine ganz eigene Melodie des Lebens.
"Nein, eigentlich waren die 3 Geschwister immer zusammen.", entschloss sich Sky, mir schließlich zu antworten.
"Seht ihr, da habt ihr die Antwort.", sagte ich, "Er hätte seine Schwester gar nicht umbringen können, und wenn er es wirklich gewesen sein sollte, dann hätte ich überhaupt keine Menschenkenntnisse."
"Du hast recht Abby, auch wir haben es nur von jemanden erzählt bekommen, den wir nicht einmal richtig kannten. Vielleicht hat er sie ja wirklich nichts damit zu tun.", antwortete nun auch Summer.
"Im Nachhinein tut es mir so leid, dass wir Pierce seit Lou's Tod gemieden haben, wir haben uns früher sogar ganz gut verstanden. Gott, sind wir dumm gewesen, diese Geschichte zu glauben.", schloss sich auch Sky ihr an, dabei hörte man deutlich die Reue, die sie bei diesem Satz empfand, heraus.
"Das Problem ist nur, wir können es nicht mehr rückgängig machen.", entgegnete Summer.
"Menschen machen Fehler, wichtig ist nur, dass sie sie einsehen und daraus lernen.", sagte ich, "ich muss jetzt zum Bus, also bis morgen.", wir umarmen uns, eh ich auch schon im Bus saß.
Alec war heute schon früher nach Hause gegangen, da es ihm nicht so gut ging. Leise schloss ich die Tür hinter mir, um Alec, falls er schlief nicht aufzuwecken.
Ich nahm mir vor die Wäsche raus zu suchen, um diese später zu Mrs. Lessing schaffen zu können, normalerweise machte das immer Alex, aber ich bekam das auch alleine hin.
Ich schlich in Alecs Zimmer und schnappte mir seinen Wäschehaufen, während er friedlich schlief. Anschließend ging ich auch meinen holen und letztendlich begann ich die Hosentaschen von Taschentüchern zu entleeren, bis ich auf ein kleines Tütchen stieß. Es war aus Plastik und enthielt ein weißes Pulver, was mich etwas an zerriebenen Traubenzucker erinnerte. Ich schüttelte es etwas hin und her und legte die Tüte zur Seite, doch es dauerte nicht lange, bis ich auch schon auf die nächsten zwei traf und letztendlich hielt ich sechs von ihnen in der Hand. Warum, in Gottes Namen, sollte Alec Traubenzucker in Tütchen mit sich herumschleppen?
Ich formte meine Augen zu Schlitzen, das war kein Traubenzucker.
Nachdem mir klar geworden war, dass sich in den Tüten Drogen befanden, stürmte ich in Alec's Zimmer, mir war nun egal, ob er noch schlief oder nicht.
Als ich die Tür aufknallte, fuhr Alex erschrocken zusammen und schaute mich vollkommen überrumpelt an.
"Was ist das, Alec?", fragte ich ihn aufgebracht und hielt ihm die Tüten so nah vor das Gesicht, das er etwas zurückweichen musste um überhaupt irgendetwas zu erkennen. Doch er starrte einfach nur das weiße Pulver darin an.
"Verdammt Alec, was ist das?!", schrie ich nun fast.
Er schaute mich kühl an.
"Das geht dich nichts an.", sagte er in einem beunruhigend emotionslosen Ton.
"Natürlich geht es das, ich bin deine Schwester!"
"Aber nicht meine Mutter Abigail, ich bin dir zu nichts verpflichtet."
"Was ist bloß los mit dir?", fragte ich traurig. Meine Augen füllten sich mit Tränen.
"Du würdest es sowieso nicht verstehen.", entgegnete er.
"Habe ich dir jemals das Gefühl gegeben, nicht verstanden zu werden? Habe ich das?! Aber du hast recht, ich verstehe nicht, wie ich in den Hosentaschen meines Bruders Drogen finden kann!"
"Ohne mich würden wir schon lange auf der Straße leben Abby! Ich musste es tun." Enttäuscht fuhr er sich durch die Haare.
"Du musst damit aufhören.", flüsterte ich.
Freudenlos lachte er auf.
"So einfach geht das leider nicht, Schwesterherz."
"Natürlich kannst du das, du musst es nur wollen. Hast du.. also nimmst du...", fing ich an zu stottern.
Nach einer langen Pause antwortete er mir schließlich.
"Ja, habe ich. Anfangs, als wir hier hergezogen sind, war es sehr schlimm. Aber es ging nicht anders, ohne diese Dinger hätte ich es nicht geschafft, ständig habe ich an Mum gedacht und habe deine Schreie gehört, sie haben mich verfolgt, wo ich auch hinging. Ob du es glaubst oder nicht, dieses weiße Zeug hatte wirklich Wirkung, es hat mir geholfen und anfangs wollte ich auch nur probieren, aber es wurde von Tag zu Tag immer mehr und mehr und ich konnte nicht mehr aufhören. Die anderen Dealer, hatten mich schließlich gefragt, ob ich nicht bei ihnen einsteigen will, für eine Menge Geld. Natürlich habe ich sofort zugesagt, ich wusste, dass uns das Geld helfen würde. Also fing ich an zu verkaufen und zu kaufen. Doch meine Lage wurde immer schlimmer, ich war manchmal nicht mal mehr aufnahmefähig, hatte Anfälle und schließlich bekam ich Angst. Durch meinen starken Willen und eine Menge Kraft habe ich es schließlich geschafft. Ich habe immer daran gedacht, was Mum und du dazu sagen würden und bin schließlich von dem Zeug weggekommen. Ich hätte niemals dort einsteigen dürfen.", erzählte er und es schien, als wäre das noch nicht einmal die ganze Geschichte.
Ich umarmte ihn und weinte. Ich weinte, weil ich wusste, wie schlecht es ihm eigentlich ging. Weil ich wusste, dass ich der Grund war, warum er sich in so einer Verfassung befand.
"Du musst nicht immer stark sein Alec.", wisperte ich, "Wir werden das zusammen schaffen, aber du musst den ersten Schritt machen, indem du kündigst."
"Sie werden mich umbringen", flüsterte er mit erstickter Stimme und mein Herz setzte kurz aus zu schlagen, ich presste ihn noch fester an mich.
Eins wusste ich ganz genau, ich würde niemals zulassen, dass sie Alec etwas antaten.
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