1. Kapitel✔
Schreie, von überall kommen Schreie. Mir ist alles zu laut und ich halte mir meine Ohren zu.
Es war mal wieder eine dieser Nächte gewesen, bei der ich von meinen eigenen Schreien aufwachte. Diese Nächte waren seltener geworden, aber sie waren noch immer da. Meine Wunden waren noch nicht ganz verheilt und wer weiß, wann sie es würden. Ich war völlig durchgeschwitzt, mein Herz raste, ich zitterte am ganzen Körper und meine Kehle war trocken.
Mein Zwillingsbruder saß neben mir auf dem Bett und strich mir über die, vom Schweiß bedeckte, Stirn.
"Schhhh, Schhhh, ich bin bei dir. Du bist in Sicherheit."
Wie immer. Er streckte mir ein Glas Wasser entgegen, welches ich dankbar annahm. Jedoch zitterte meine Hand so sehr, dass ich Mühe hatte es nicht zu verschütten. Als das kalte Wasser meine Kehle hinunter floss, stöhnte ich auf, weil es so gut tat. Ich stürzte das Wasser hinunter.
Dann rückte ich zur Seite, damit Alec sich neben mich legen konnte. Bevor er neben mir Platz nahm, hob er meine Decke auf, die ich von mir gestrampelt hatte. Das Fenster stand offen und es war angenehm kühl im Zimmer.
"Es tut mir so leid", wisperte ich, dabei flossen mir Tränen über die sowieso schon nassen Wangen. Es war nicht die erste Nacht, die ich Alec um seinen Schlaf gebracht hatte.
"Hör endlich auf, dich jedes Mal zu entschuldigen, hätte ich dir damals geglaubt, was dir unser Vater und seine kranken Freunde angetan haben, würdest du jetzt nicht so hier liegen. Ich war einfach zu blind, das Ganze zu erkennen, ich wollte es damals einfach nicht wahrhaben. MIR tut es leid, dass ich nicht für dich da gewesen bin. Ich war so ein Idiot. Ich hatte zu der Zeit einfach nicht glauben können, das dieser ekelerregende Mann Rowan, der sich unser Vater nennt, zu so etwas imstande sein konnte. Bis ich es dann am eigenen Leib erfuhr. Es tut mir alles so leid, Abby..", flüsterte er mit erstickter Stimme. Ich kuschelte mich enger an ihn.
"Hör auf dir die Schuld zu geben, wenn überhaupt jemand Schuld ist, dann bin ich es. Wichtig ist doch nur, das wir noch leben, fliehen konnten und, dass er uns noch nicht gefunden hat."
"Ja und jetzt jetzt reden wir mal über etwas anderes, denn das Thema sollten wir ab sofort in Ruhe lassen. Außerdem müssen wir endlich mal schlafen, sonst sehen wir morgen aus wie wandelnde Leichen."
Er lachte ein bisschen, was mich auch dazu brachte leicht zu grinsen. Abgesehen davon, dass ich, egal wie lange ich schlief, früh immer schrecklich aussah, hatte er recht.
"Ok einverstanden. Ich hab dich lieb. Gute Nacht."
Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange und drehte mich auf meine Seite.
"Ich dich auch.", erwiderte er.
Ich war so müde, sodass ich kurze Zeit später auch schon wieder einschlief.
Mein Wecker ließ uns beide die Augen öffnen. Ich stand sofort auf. Im Gegensatz zu Alec, meinem Zwilling, war ich kein Morgenmuffel. Demzufolge war ich fast immer die erste im Bad. Ich nahm mir meine Sachen und ging mich fertig machen. Ich zog mir meinen Lieblingspulli an. Dieser reichte mir bis zu den Knien. Er war weinrot und auf der Vorderseite stand Adidas. Ich hatte ihn einmal von meiner Freundin Summer bekommen, weil ihr der Pullover nicht mehr gepasst, aber mir so gut gefallen hatte. Ich hatte keine Marken Klamotten, denn wir hatten nicht viel Geld, aber mir fehlte es an Nichts. Dazu kombinierte ich meine schwarze Leggings. Ich machte mir einen lockeren Dutt, schminkte mich etwas und putzte meine Zähne.
Nun ging ich gerade zurück in mein Zimmer, um die Schlafmütze zu wecken. Inzwischen schlief Alec nämlich schon wieder...
"Aufstehen, mein Schnuckiputzi!" Ich lachte. Alec murmelt irgendetwas Unverständliches und drehte sich von mir weg.
Also ging ich auf mein Bett zu und setze mich auf ihn drauf. Ich kniff ihn in seine Wangen und sagte: "Gutschi, gutschi, gu. Aufstehen!"
"Jaha, man. Ich komme ja schon.", kam seine genervte Antwort endlich.
"Also ich sehe noch nichts davon.", erwiderte ich. Daraufhin gähnte er mir mitten ins Gesicht.
"Iiiiihhhhh..!", quiekte ich und kletterte von ihm hinunter. Alec lachte und quälte sich schließlich auch aus dem Bett.
Nachdem wir gefrühstückt hatten, waren wir nun auf dem Weg zur Schule. Wir liefen, denn ein Auto war zu teuer und unsere Fahrräder wurden geklaut. So viel Pech, wie wir musste man ersteinmal haben.
Gerade als wir auf den Gehweg, der neben der Hauptstraße lag, abbogen hielt ein Auto neben uns, welches von einem schwarzen Motorrad überholt wurde.
Ein Fenster wurde heruntergelassen, woraufhin Sky und Summer zum Vorscheinen kamen.
"Hey, steigt ein!", rief Summer.
Darf ich vorstellen: Sky und Summer, meine besten und einzigen Freundinnen. Sie waren einfach perfekt und sahen aus wie Models. Wenn ich meine Ruhe brauchte, dann ließen sie mir diese. Wenn ich mal nicht so gut gelaunt war, weil ich an das Vergangene dachte, dann munterten sie mich auf. Auch wenn ich ihnen nicht sagen durfte, warum ich so oft traurig war. Sie sahen ein, dass ich nicht darüber reden wollte und bedrängten mich nicht weiter. Aber jedes Mal aufs Neue versicherten sie mir, dass, wenn ich bereit dazu wäre mich ihnen anzuvertrauen, sie immer für mich da wären. Wir machten in der Schule wirklich viel zusammen. Leider konnten wir in der Freizeit fast nichts zusammen erledigen, denn es bestand immer das Risiko, dass uns Männer, die für unseren Vater arbeiteten, fanden. Es war gefährlich genug jeden Tag nach der Schule arbeiten zu gehen. Ich und Alec waren froh, dass wir auf überhaupt auf eine Schule gehen durften. Noch dazu hatten wir das Glück gehabt, dass wir von einer älteren Dame, Mrs. Lessing aufgenommen worden waren. Sie hatte selbst Enkelkinder und war wirklich eine nette, taffe Frau. Sie war wie eine Art Ersatz-Oma für uns. Dadurch, dass Alec und ich arbeiten gingen, konnten wir einen Teil der Miete an sie bezahlen. Der Rest ging für die Schule und das Essen drauf.
"Hey!", sagten Alec und ich im Chor.
"Na, alles klar bei euch?", fragten sie uns.
"Ja alles supi und bei euch?", antwortete ich. Was sollten wir denn auch sagen? Dass ich Berührungsängste, wir Angst von unseren Vater gefunden zu werden und ich jede Nacht Albträume hatte und demzufolge von meinen eigenen Schreien aufwachte. Dass ich oft weinte, weil mich mein früheres Leben mal wieder einholte. Oder auch, dass Alec nicht oft redete, nicht deshalb, weil er schüchtern war, sondern wegen unseres Vaters, der immer gewollt hatte, dass wie still waren. Er blieb lieber leiser und unauffällig, so wie es uns immer befohlen wurde. Gewohnheiten konnte man nicht so schnell ablegen. Sobald er aber wusste, dass jemand in Gefahr war, beziehungsweise etwas ahnte, war er wie ausgewechselt. In solchen Situationen konnte er ziemlich laut und bedrohlich werden. Er hat mich schon immer beschützt und sein Leben für mich riskiert. Ich hatte damals große Angst um ihn gehabt.
Das alles wollten wir aber nicht, dass sie es wussten. Auch Alec's Freunde erfuhren dies nicht.
Erstens, weil wir nicht bemitleidet werden wollten.
Zweitens, wir mussten mit unseren Problemen allein klarkommen.
Und drittens, weil wir Angst hatten, dass uns jemand an unseren Vater ausliefern könnte. Schließlich wussten wir nie genau, wer da gerade vor uns stand. Die Menschen offenbarten immer nur das, was sie zeigen wollten. Alles andere hielten sie in den Tiefen ihrer Seele verborgen und hüteten es wie einen wertvollen Schatz.
Es tat mir trotzdem leid, meine Freunde immer anlügen zu müssen. Ich wollte es nicht, aber es gab leider leider keine andere Möglichkeit. Irgendwann, würden sie es erfahren. Irgendwann, wenn alles vorbei wäre...
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