Kapitel 2
"Hey, pass doch auf!" Manuel zuckte so heftig zusammen, als er unvermutet angefahren wurde, dass er fast sein Handy fallen ließ. Er sah hoch, direkt in das verschwitzte Gesicht eines stark übergewichtigen Joggers.
"Entschuldigung." Sagte Manuel, um einem Konflikt zu entgehen, ohne dass er überhaupt wusste, wofür er sich entschuldigte. Der Jogger nickte scheinbar zufrieden und ließ wieder von ihm ab.
Manuel sah ihm noch einige Momente lang nach, dann hob er wieder sein Handy und löschte die Nachricht, die er getippt hatte.
Obwohl Anika sich mit Sicherheit dafür interessiert hätte, dass Patrick wieder da war, entschied er sich, ihr gar nichts zu schreiben. Nur weil seine Mutter Patrick getroffen hatte, hieß das noch nichts. Patrick hatte sich die letzten beiden Tage nicht gemeldet, wer sagte, dass er es überhaupt tat?
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"Manu!" Ein vertrauter Pfiff ließ ihn ein zweites Mal innerhalb eines Spaziergangs aus seinen Gedanken auffahren. Hektisch blickte er sich um, bereute gleichzeitig sein gammeliges Outfit und fragte sich, ob er Patrick überhaupt wiedererkennen würde.
"Huhu." Patrick hatte sich kaum verändert. Klar, auf der Stirn hatte er vielleicht eine Falte bekommen und auch das Gesicht war etwas voller geworden. Er hatte augenscheinlich ein paar Kilo zugenommen und trug die Haare etwas kürzer, aber er war immer noch Patrick. Sogar das orangene Shirt kam Manuel bekannt vor.
"Hey." Manuel musste automatisch lächeln, als Patrick die Straße überquerte und zu ihm gelaufen kam. Kurz überlegte er, ob er Patrick zur Begrüßung die Hand geben sollte, dann zog der ihn aber auch schon in seine Arme. So, als ob nie etwas gewesen wäre, als wären sie gestern noch gemeinsam zur Schule gegangen.
"Was für ein Zufall, dass wir uns jetzt treffen." Patrick lachte als Reaktion auf Manuel's Worte auf und ließ ihn wieder los. Manuel strich sich verlegen das dreckige Shirt glatt und sah zu Boden, als Patrick antwortete. "Ja, ein richtiger Zufall. Ich könnte aber auch einfach so ehrlich sein und sagen, dass ich seit fast einer halben Stunde die Straße hoch und runter laufe, weil du nicht Zuhause warst."
"Was hättest du gemacht, wenn ich zum Beispiel arbeiten gewesen wäre?" Manuel vergrub die Hände in den Taschen und tastete nach dem Schlüssel seiner Wohnungstür. "Weiter gewartet, denke ich. Aber es ist gut, dass du endlich da bist, ich muss mal dringend pinkeln." Nein, Patrick hatte sich augenscheinlich wirklich kaum verändert.
"Komm rein." Manuel drückte die Haustür auf und trat ins Treppenhaus. Patrick folgte ihm. "Ich hab aber nicht aufgeräumt." Es war ihm ein bisschen unangenehm, aber er konnte den anderen ja schlecht vor der Tür stehen lassen. "Kein Problem."
Patrick folgte Manuel bis in seine Wohnung. "Wo ist das Bad?" Wortlos wies Manuel auf die richtige Tür und sah zu, wie Patrick im Bad verschwand. Einige Momente lang stand er einfach nur da, dann ging er rüber in die Küche und machte die Kaffeemaschine an. Er brauchte jetzt dringend etwas zum Trinken.
"Schön hast du es hier." Sagte Patrick, als er zu ihm in die Küche trat und setzte sich ungefragt auf den freien Stuhl. Manuel nickte und nahm einen Schluck Kaffee. "Trinkst du immer noch so viel Kaffee?" Manuel nickte erneut und sagte nicht, dass er sogar noch mehr von dem 'Höllenzeug', wie Patrick es damals genannt hatte, trank als früher.
Was war falsch gelaufen, dass sie jetzt hier saßen und Smalltalk hielten? Konnte das wirklich sein? Früher hatten sie Nächtelang durch gequatscht und jetzt schafften sie es beim Reden kaum, sich in die Augen zu sehen.
"Was machst du hier?" Fragte er, als ihm die Stille zu erdrückend wurde. Patrick senkte den Kopf und kratzte sich scheinbar verlegen am Hinterkopf. "Naja... Wenn wir nicht in einer Klasse gewesen wären, dann könnte ich sagen, dass ich hier für ein Klassentreffen wäre. Oder ich könnte sagen, dass eine Verwandte gestorben ist. Aber das wäre auch gelogen." Patrick seufzte leise. "Die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, warum ich hier bin. Ich hab es in München nicht mehr aushalten."
Patricks Hand senkte sich auf den Tisch, so dass Manuel sie greifen könnte, wenn er es wollte. Er wollte, aber er hielt sich zurück. Löste das Haargummi aus seinen Haaren und band sie zu einem neuen Zopf zusammen.
"Warum hast du es Zuhause nicht mehr ausgehalten?" Fragte Manuel, weil er sich dazu verpflichtet fühlte. Patrick zuckte mit den Schultern und stützte das Kinn in die Rechte. Die Linke blieb auf dem Tisch, fast als wolle er, dass Manuel sie nahm. Er tat das trotzdem nicht.
"Und? Was machst du so den lieben langen Tag?" Patrick bemühte sich weiter um das Gespräch. "Ich habe eine Ausbildung zum Altenpfleger gemacht." Gab Manuel zu.
"Also kein Star-Regisseur, hm?" Patrick lachte leise und rieb sich übers Kinn. Manuel schüttelte den Kopf. "Und du? Was hast du gemacht?" Patrick zuckte mit den Schultern. "Ach, so dies und das. Ich habe mein Architektur Studium kurz vor dem Bachelor abgebrochen und dann erstmal Physik studiert. Bin wegen Chemie durchgefallen und habe dann eine Ausbildung in einem Hotel gemacht."
Manuel nickte, bevor er doch seine Hand über den Tisch streckte und Patricks Hand drückte. Ohne verschränkte Finger, so wie man es bei einem Freund machte.
"Und? Wie ist die Situation sonst so? Du hast von Zuhause geredet, willst du mir davon erzählen?" Manuel übernahm die weitere Leitung des Gespräches. "Ich hatte- ich bin vor ein paar Monaten umgezogen. In eine kleine Wohnung, die Miete ist natürlich trotzdem absurd hoch. Ansonsten läuft da nicht viel. Ich arbeite im Hotel und mache manchmal kleinere Dinge für Bekannte, um mir was dazu zu verdienen." Das war nicht die Situation, die Manuel gemeint hatte. Aber obwohl es ihn brennend interessierte ob bei Patrick zu Hause jemand wartete, fragte er nicht weiter, sondern ließ Patricks Hand einfach wieder los, um noch einen Schluck Kaffee zu trinken.
"Und bei dir so?" Manuel wusste nicht, was er auf Patricks Frage antworten sollte, deswegen schwieg er einige Momente und ließ den Blick durch die kleine Küche wandern.
"Die Arbeit ist ziemlich fordernd." Antwortete er dann ausweichend. Er wollte nicht sein ganzes Privatleben vor einem mittlerweile fast Fremden ausbreiten, wenn Patrick kaum etwas über seins gesagt hatte.
"Das stimmt wohl." Patrick schien es ihm nicht übel zu nehmen, sondern lächelte nur. Er lächelte das Lächeln, das Manuel wieder in die Zeit zurück versetzte. Patricks Lächeln war noch genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Und das bewegte ihn dazu, etwas sehr dummes zu machen.
"Erinnerst du dich noch an die Abschlussfeier?" Patrick nickte zaghaft. "Was ist passiert, nachdem du dein Jackett holen gegangen bist?" Patrick runzelte verwirrt die Stirn, dann zuckte er mit den Schultern.
"Naja, was soll schon groß passiert sein? Das habe ich dir doch schon mal gesagt. Ich bin mein Jackett holen gegangen und dann ging es zu dir nach Hause."
"Ich weiß. Aber ich will wissen, was genau passiert ist. Alles." Manuel sah den anderen so lange an, bis dieser seufzte.
"Ich bin wieder zurück zu dir gekommen, nachdem ich es hatte. Es waren noch beide Handys da, aber meins war leer. Weil ich zu betrunken zum Fahren war, habe ich von deinem Handy aus deine Mutter angerufen und ihr die Situation geschildert. Sie hat gesagt, dass sie sich auf den Weg macht, um dich abzuholen, aber noch eine Weile braucht."
Manuel forschte tief in seinem Gedächtnis, doch das kam ihm nicht einmal mehr vage bekannt vor." Wie ging es weiter?"
"Ich hab realisiert, dass du weder allein, noch mit mir auf der Party bleiben kannst, deswegen habe ich mich dann doch dazu entschieden, mit dir gemeinsam frühzeitig abzuhauen. Wir sind gemeinsam raus und über den Pausenhof. Es war schon dunkel draußen und man konnte die Sterne sehen. War wirklich schön."
Auch daran hatte Manuel keine Erinnerung mehr. Doch da war etwas anders. Etwas, was in dem Kontext viel mehr Sinn ergab. "Du hast mir dein Jackett gegeben, nicht wahr?" Patrick nickte und erzählte weiter.
"Wir wollten deiner Mutter entgegen gehen, aber dir war kalt und du konntest kaum laufen. Deswegen habe ich dir das Jackett gegeben. Damit du dich nicht erkältest. Ich hab mich dann bei dir eingehakt und dich mit mir gezogen, zumindest bis du angefangen hast zu weinen."
Patrick lachte leise auf, offensichtlich in Erinnerungen schwelgend. Manuel war von der Geschichte zu gebannt, als dass es ihn peinlich sein könnte.
"Ich habe es probiert, aber du warst nicht zum Weitergehen zu bewegen und du wolltest mir auch nicht sagen, was los war. Als deine Mutter kam, war mir das unfassbar peinlich, immerhin hatte ich ihr versprochen, dass ich auf dich aufpassen würde."
Das hatte Patrick wirklich. Manuel war noch oben im Bad gewesen und hatte irgendwie versucht, die lächerlichen drei Barthaare abzurasieren und gleichzeitig seine Haare zu richten.
Unten im Flur hatte seine Mutter Patrick die Tür geöffnet, er hatte ihr einen Strauß Rosen geschenkt und mit ihr geredet und gescherzt. Manuels Mutter bestand bis heute darauf, dass die Rosen für Manuel gewesen wären und Patrick einfach vergessen hatte, dass er dagegen allergisch war. Manuel konnte sich das nicht vorstellen.
"Ich glaube, mir war das noch unangenehmer als dir. Auf jeden Fall haben wir dich irgendwie ins Auto bekommen und du hast noch viel mehr geweint. Du hast dich ziemlich viel entschuldigt. Dafür, dass du mir die Party ruiniert hast und dafür, dass du so viel getrunken hast. Du hast dich richtig geschämt und deine Mutter sogar gefragt, ob sie enttäuscht von dir wäre und dich noch lieben würde."
Jetzt war es Manuel doch peinlich.
"Bei dir Zuhause wollte ich eigentlich aussteigen und zu mir laufen, weil deine Mutter dich nicht allein lassen wollte, aber das wolltest du nicht. Deswegen bin ich mit rein gekommen und wollte dich noch ins Bett bringen. Deine Mutter hat vorgeschlagen, dass ich bei dir schlafen könnte. Damit warst du sehr zufrieden. Ich bin mit dir hoch, wir haben Zähne geputzt und ich hab dir die Haare zurück gebunden. Deine Mutter hat uns noch einen Eimer gebracht und dann sind wir ins Bett."
Manuel runzelte die Augenbrauen. "In ein Bett?" Er hatte es damals schon nicht leiden können, wenn andere Leute mit ihm in einem Bett schliefen.
"In ein Bett. Ich hätte auch die Matratze genommen, aber das wolltest du nicht. Im Endeffekt war es auch besser so, du hast dich noch zweimal übergeben und so war ich zumindest rechtzeitig da, um dir die Haare zu halten."
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