Kapitel 3 ~ Conscius animus
Still funkelten die Sterne in der mondlosen Nacht und bildeten die einzigen Lichtquellen der ewigen Stadt. Als ihr Licht zu verblassen begann, verließen vier junge Männer eine zwielichtige Taverne in der Suburba und schlugen ihren Weg nach Hause ein. Drei von ihnen redeten wild aufeinander ein und ihr leises Lachen füllte die verlassenen Straßen. Nur einer war zu sehr in Gedanken versunken, um Interesse für ihr Gespräch zu heucheln. Denn er war der Einzige, der es verwerflich fand für den Körper einer Frau zu bezahlen und auch wenn er wie die anderen seine Zeit mit der Prostituierten nicht missen wollte, hatten diese neuen Erfahrungen für ihn bereits einen bitteren Beigeschmack. So haderte er mit sich selbst und der Welt, in die sie hineingeboren waren und blendete seine betrunkenen Freunde vollkommen aus. Keiner der jungen Männer bemerkte die Gestalten, die ihnen in sicherem Abstand folgten.
Auf dem Forum des Augustus bogen sie in eine Seitenstraße ab und schlugen über die kleineren Nebenstraßen den Weg zum Haus des Princeps ein. Wenn sie einfach der Straße gefolgt wären, hätten sie den deutlich kürzeren Weg über das Forum Romanum wählen können. Aber auch wenn die Sterne noch nicht vollkommen verschwunden waren und Aurora den neuen Tag noch nicht in die Stadt der sieben Hügel geführt hatte, waren die großen Straßen voller Menschen und Karren. Das Risiko entdeckt zu werden war auf der von ihnen gewählten Route deutlich geringer.
Entdeckt zu werden war das Letzte, was Britannicus wollte. Noch immer hatte er die Gerüche des Mädchens in der Nase und ihr Geschmack lag ihm schwer auf der Zunge. Seltsamerweise fühlte er sich irgendwie schmutzig und wenn doch einmal das Lachen seiner Freunde zu ihm durchdrang, fragte er sich, was mit ihm nicht stimmte, dass er nun nicht ebenso ausgelassen war wie sie.
Doch immer wieder musste er daran denken, wie verloren sie ausgesehen hatte, als er sie nach ihrer Unterweisung gebeten hatte ihm mehr über sich zu erzählen. Sie hatte ihn verführt und gelehrt, wie er sich mit einer Frau zu verhalten hatte. Aber jedes ihrer Worte und jede ihrer Handgriffe riefen Zweifel in ihm hervor, die von der Reaktion seines Körpers nur bedingt in den Hintergrund gerückt werden konnten.
Als er schwer atmend neben ihr zur Besinnung kam, konnte er sich einfach nicht vorstellen, dass sein Vater seine Mutter jemals so behandeln würde. Denn auch wenn Vater und Mutter in der Öffentlichkeit stets eine gewisse Distanz zueinander wahrten, so hatte Britannicus sie oft genug beobachten können, wenn sie einfach nur sie selbst sein konnten und dem Volk nichts vorspielen mussten. Vater respektierte Mutter zu sehr, als dass er mit ihr im Bett so grob und rücksichtslos umgehen könnte.
Mit diesem griechischen Mädchen, das vor ihm so gern die Hetäre gespielt hatte, um zu vertuschen, dass sie in Rom nicht mehr als eine billige Hure in einem zwielichtigen Bordell war, hatte er durchaus Spaß gehabt. Aber als er sie geküsst hatte oder während er sich in ihren Armen fallen ließ, hatte er nichts gefühlt. So etwas wollte er nie wieder erleben. Seine Eltern waren nun schon so viele Jahre verheiratet und ihre große Zahl an Kindern bewies, dass sie nach all den Jahren noch immer das Bett miteinander teilten. Zwischen seinen Eltern musste es einfach anderes sein, sonst wären sie niemals zusammengeblieben. Aber was machte den Unterschied? Was verband seine Eltern so unwiderruflich miteinander? Was hatte er übersehen?
„Hast du immer noch Angst von Mami erwischt zu werden?", zog Lucius ihn auf, als sie in den Geheimgang schlüpften. Britannicus warf ihm nur einen finsteren Blick zu und stapfte an seinem Cousin vorbei. Hinter sich hörte er, wie Titus Lucius vorwarf von Britannicus' Mutter besessen zu sein. Auch das ignorierte Britannicus geflissentlich. Erst als er den Wandteppich zur Seite schob, verstummten seine Freunde.
Als sein Blick den von Lucius kreuzte, war sein Cousin nicht schnell genug, um seine Überraschung vor ihm zu verbergen. Was hatte Lucius denn erwartet? Dass Britannicus nicht wusste, wie er sein eigenes Zuhause verlassen konnte? Nun, Britannicus hatte dieses Wissen nie zu seinem eigenen Vergnügen missbraucht.
Bis jetzt jedenfalls nicht, wisperte eine spöttische Stimme in seinem Kopf und Britannicus setzte sich wieder in Bewegung. Als er den schmalen Streifen Rot am Horizont erblickte, entschlüpfte ein kleiner Seufzer seine Lippen. Es war sein erstes Geräusch, seit er das Zimmer des griechischen Mädchens verlassen hatte. Doch der Rückweg hatte mehr Zeit in Anspruch genommen, als er gedacht hatte und nun hatte er die Wahl: schlafen oder trainieren. Beides würde er unmöglich miteinander verbinden können.
Mit einem Schlag war er unendlich müde und er wollte nur noch endlich in sein eigenes Bett. Ohne seine Freunde eines Blickes zu würdigen machte Britannicus auf dem Absatz kehrt und marschierte in sein Zimmer. Kaum fiel die Tür hinter ihm mit einem kleinen Klicken ins Schloss, fielen seine Maske und seine Anspannung von ihm ab. Erschöpft sank er gegen das massive Eichenholz und schloss die Augen. Die Ruhe in seinem Zimmer konnte seine lärmenden Gedanken nicht zum Schweigen bringen. Frustriert fuhr er sich durchs Haar und erstarrte. Jemand war in seinem Zimmer.
Starr vor Entsetzen riss er die Augen und auf und begegnete dem kühlen Blick seiner Mutter.
„Hattest du eine schöne Nacht?", wollte sie leise wissen und ihr beißender Sarkasmus ließ ihn getroffen zusammenfahren. Unter ihren Augen lagen tiefe Schatten, so als hätte sie seit Wochen keine Nacht mehr durchgeschlafen. Besorgt blinzelte er sie an und nur langsam begriff er, dass es seine Schuld war. Sie hatte nur darauf gewartet, dass er direkt in Lucius' Falle tappte. Es zu leugnen war vollkommen sinnlos. Denn in diesem Moment trat sein Vater geräuschlos neben sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie schwer die Konsequenzen seines Handelns ausfallen würden. Der Blick seiner Eltern sprach Bände.
„Sie war aufschlussreich", erwiderte er bedacht und seine Mutter schüttelte nur den Kopf. Bevor sie ihm erneut ihre Predigt über die Bedeutung von sittlich und moralisch richtigem Verhalten in ihrer Position als führende Familie halten konnte, versuchte Britannicus sich lahm zu verteidigen: „Lucius meinte, dass Vater hunderte Frauen vor dir hatte. Weshalb darf ich nicht die gleichen Erfahrungen sammeln? Ich habe nicht vor mich in meiner Hochzeitsnacht vor meiner Braut zu blamieren, nur weil ihr mich nicht angemessen auf diesen Moment vorbereitet habt!"
Schlagartig fielen die Temperaturen im Raum. Starr vor Entsetzen starrte Mutter ihn an, während ihr das Blut in die Wangen schoss. Blinder Zorn funkelte in ihren Augen auf und für einen Herzschlag war sich Britannicus sicher, dass sie ihn schlagen würde. Aber Mutter hatte andere Mittel, um ihn zu verletzen. Denn im Gegensatz zu Lucius und ihm kannte sie die volle Wahrheit.
„Hat Lucius dir das erzählt? Gott, wie naiv bist du eigentlich! Dein Vater hatte hunderte von Frauen vor mir, weil er nur so unter Tiberius überleben konnte!", schleuderte sie ihm trocken entgegen und er taumelte entsetzt zurück. Ungläubig suchte er in Vaters Augen nach einem Anzeichen, dass Mutters Worte nicht der Wahrheit entsprachen. Aber er fand keine. Vollkommen ruhig hob Vater die Hand und augenblicklich kehrte Stille ein. Mit seltsam monotoner Stimme griff Vater Mutters Erzählung auf: „Deine Mutter und ich haben euch bewusst über gewisse Aspekte meiner Vergangenheit im Unklaren gelassen, weil wir der Ansicht waren, dass ihr für die ganze Wahrheit noch zu jung seid. Aber vielleicht war dies ein Fehler. Ja, ich habe mit viel zu vielen Frauen geschlafen, bevor ich deine Mutter geheiratet habe. Aber im Gegensatz zu dir heute hatte ich damals keine Wahl. Indem ich nach Capri ging, lieferte ich mich Tiberius auf Gedeih und Verderben aus. Für ihn war ich nur ein weiteres Spielzeug und weil er meine Eltern so sehr hasste, war ich zwar ein besonders spannendes Spielzeug, aber ich war nicht mehr wert als die Huren, die in seine Villa gerufen wurden. Ein falsches Wort, eine falsche Geste, eine falsche Mimik hätten meinen sofortigen Tod bedeutet. Also habe ich mich gefügt und ihm vorgespielt, als würde er mir mit seinen ekelhaften Fantasien einen Gefallen tun. Vor ein paar Jahren hast du mich einmal gefragt, warum ich euch auf die Insel nicht begleitet habe, als ihr meinen Vetter Gemellus und seine Familie dort besucht habt. Die Wahrheit, mein Sohn, ist, dass ich auf dieser Insel sehr viele Dinge getan habe, auf die ich nicht stolz bin. Capri war das Schlimmste, was mir jemals widerfahren ist und ich will... ich kann nie wieder dorthin zurück. Diese Insel hätte mich beinahe zerstört. Tiberius hat mir gezeigt, wie ich seiner Meinung nach ficken soll. Aber durch deine Mutter lernte ich zu lieben und glaube mir, ohne sie wäre ich schon viele Jahre tot."
Mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen ergriff Vater Mutters Hand und Mutter begann unsichtbare Muster auf seinen Handrücken zu zeichnen. Unzählige Male hatte Britannicus seine Eltern im Privaten bei dieser kleinen Geste beobachtet.
Lieben, das Wort hallte in seinem Inneren nach und er versuchte krampfhaft eine Verbindung herzustellen. Sofort huschte sein Geist zu den verschiedensten Gedichten, von Sappho über Catull zu Horaz und Ovid. Aber keines dieser Gedichte beschrieb auch nur ansatzweise, wie seine Eltern sich ansahen, sich berührten oder miteinander sprachen. War Liebe mehr als eine unerfüllte Sehnsucht Catulls oder ein hinterhältiges Werben des Ovids? Er wusste es nicht. Aber wenn er seine Eltern so ansah, dann spürte er, dass Liebe viel mehr sein musste, als die Dichter ihm mit ihren Versen weismachen wollten. Auf jeden Fall war Liebe viel mehr, als er in dieser Nacht mit dem griechischen Mädchen erlebt hatte. Ob er eines Tages verstehen würde, was seine Eltern füreinander empfanden?
„Deine Mutter und ich haben entschieden, dass es das Beste sein wird, wenn du dich eine Weile nicht in Rom aufhältst und die Zeit sinnvoll nutzt", fuhr Vater fort und riss Britannicus aus seinen Gedanken. Verständnislos starrte er seine Eltern an. Fern von Rom seine Zeit sinnvoll nutzen? Weshalb sollten sie ihn ausgerechnet jetzt nach Griechenland schicken, wenn sie ihr Leben lang dafür gekämpft hatten aus Rom das einzig wahre Zentrum von Bildung zu machen? Denn auf einem ihrer Landgüter würden er seine Zeit wohl kaum sinnvoll nutzen können. Freie Zeit in Würde hatte Cicero diese Beschäftigung mit Literatur genannt. Aber Lernen und Lesen konnte er auch in Rom.
„Ich habe meinem Cousin geschrieben", erklärte Mutter mit kraftloser Stimme und zum ersten Mal wirkten ihre großen, blauen Augen seltsam verloren und unsicher. Britannicus verstand noch immer nicht. Mit einem Seufzen ergänzte sie: „Es ist an der Zeit, dass du unserem Land wirklich dienst, Britannicus. Du bist siebzehn und damit alt genug dich den Adlern anzuschließen. Dein Onkel Sabinus wird in drei Monaten drei neue Tribunen benötigen, weil sie ihre vier Jahre abgedient haben und sich auf den Heimweg machen können. Dein Vater und ich haben bis jetzt gezögert diese Posten neu zu besetzen und jetzt wirst du einer von ihnen sein."
Knapp nickte sie in Vaters Richtung, der eine dünne Schriftrolle aus einer Falte seiner Toga zog. Stumm nahm Britannicus das Schriftstück entgegen und rollte es auseinander. Es war sein offizieller Marschbefehl. In drei Monaten musste er sich bei seinem Onkel Sabinus im befestigten Lager Novaesium melden. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er seinen Dienstrang las. Tribun mit breiten Streifen. Normalerweise waren solche Tribune ein paar Jahre älter als er, weil sie eine größere Verantwortung trugen als die Tribunen mit schmalen Streifen. Allerdings stellten die alten, patrizischen Familien wie seine eigene immer die Tribunen mit breiten Streifen, während die schmalen Streifen aus dem Ritterstand gestellt wurden. Aus diesem Grund hatte Britannicus nie damit gerechnet so schnell in die Legion einzutreten. Ihm war, als würde er mit einem Mal die gigantische Last der Verantwortung schon spüren, die er in wenigen Wochen mit Würde tragen musste.
Betreten schluckte Britannicus seine Gefühle hinunter und blickte seine Eltern an. Niemals würden sie ihm diese Last aufbürden, wenn sie sich nicht sicher waren, dass er sie bewältigen konnte.
„Ich werde euch stolz machen", versprach er und lauschte aufmerksam Vaters Worten, der ihm das weitere Vorgehen erklärte.
Als Britannicus kurz darauf aus seinem Zimmer trat, lehnte Lucius lässig gegen die Mauer und grinste ihm höhnisch ins Gesicht. Sofort vergaß er, dass seine Eltern sich noch immer in seinem Zimmer hinter ihm befanden. Sein ganzes Denken begrenzte sich auf seinen Cousin.
„Na, hat Mami dir eine Strafpredigt gehalten, weil ihr kleiner Goldjunge unartig gewesen ist?", lästerte Lucius' Stimme und Wut vernebelte Britannicus' Denken. In dieser Nacht hatte er zu oft mitanhören müssen, wie sein Cousin diese feine Grenze zwischen ihnen überschritt, indem er seine Mutter beleidigte. Was hatte Britannicus nun noch zu verlieren? Sein Marschbefehl war amtlich und schon bald musste er sich nicht mehr mit Lucius' janusartigen Visage auseinandersetzen.
Mit einem Satz sprang Britannicus nach vorn und schmetterte seine geballte Faust in das Gesicht seines Cousins. Lucius hatte weder die Zeit noch das Training seine Attacke abzuwehren oder ihr wenigstens auszuweichen und so registrierte Britannicus mit großer Genugtuung, wie die Nase seines Cousins augenblicklich brach.
Doch als er zum nächsten Schlag ausholen wollte, legte sich eine Hand um seine geballte Faust und hielt ihn vehement zurück. Ertappt drehte er den Kopf und erwartete in die Augen seines Vaters zu schauen. Aber stattdessen bohrte sich Mutters strenger Blick in ihn. Augenblicklich verpuffte seine Wut und Scham durchflutete ihn.
„Du wirst dich bei ihm entschuldigen!", befahl Mutter und ihre Stimme war schärfer als jedes Schwert. Ungläubig blinzelte er auf sie herab. Ihre Hand hielt seine Faust noch immer im Zaum. Obwohl er wusste, wie hart sie trainierte, überraschte ihn ihre Kraft. Aus dem Augenwinkel registrierte er, wie Lucius sich langsam erhob und versuchte die Blutung mit dem Saum seiner seidenen Tunika zu stillen.
„Gaius Julius Caesar Britannicus, du wirst sehr viele Jahre keine Gelegenheit haben deinen Cousin zu sehen", fuhr sie kalt fort. „Entschuldige dich! Sofort."
Ein Teil von Britannicus wollte ihr widersprechen, wollte sie anschreien und ihr erklären, weshalb er auf Lucius losgegangen war. Aber er konnte es nicht. In ihren Augen blitzte ihn die Emotion entgegen, von der er nie gedacht hatte, sie einmal dort zu lesen. Aber in ihren Augen war nichts als bodenlose Enttäuschung. Sein Herz zersprang in tausend Teilchen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro