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Kapitel 12 ~ Der Preis der Wahrheit

Mit einem Mal erstarb der seichte Wind und für einen Augenblick hörte Tyra nichts als das hämmernde Pochen ihres Herzens. Die Blätter über ihren Köpfen raschelten nicht mehr, die Tiere des Waldes waren verstummt und die versammelten Männer wagten vor Anspannung keinen Laut von sich zu geben. Die ganze Welt schien den Atem anzuhalten bis Brun schließlich vor ihrem Vater den Kopf senkte. Der Anblick ließ ihr Herz einen Schlag aussetzen. Denn obwohl diese Geste signalisieren sollte, dass er sich den Wünschen ihres Vaters zu beugen bereit war, mangelte ihr an der nötigen Ergebenheit. So wirkte sie beinahe spöttisch. Ruckartig richtete er sich auf und seinen goldenen Augen erwiderten kalt und gefühllos den Blick ihres Vaters. Wortlos machte Brun auf dem Absatz kehrt und verließ strammen Schrittes die Lichtung. Plötzlich kehrte der Wind zurück und seine eisige Kälte stach auf ihrer Haut. Tyras Blut rauschte vor Wut und Angst. Wie konnte ihr Vater es wagen Brun so zu hintergehen, nachdem dieser so viel für sie getan hatte? Ihre Familie stand so tief in Bruns Schuld. Hatte er wirklich nicht etwas Besseres verdient?
Am liebsten wäre sie von ihrem Platz aufgesprungen und ihm gefolgt, doch sie wagte es nicht ihrem Vater öffentlich zu demütigen, indem sie ihm jetzt den Gehorsam verweigerte. Sie war eine Fürstentocher. Wenn sie seine Autorität in Frage zu stellen wagte, würden andere ihrem Beispiel folgen. Zum Wohl ihrer Familie und ihres Stammes musste sie sich seinen Wünschen und Gesetzen beugen. Zumindest außerhalb ihrer Hütte musste sie ihre Stellung wahren. So blieb sie still sitzen und beobachtete, wie Brun gefolgt von Tato und Marbod in Richtung ihres Lagers davonstürmte.
Eine bösartige Stimme in ihrem Kopf flüsterte ihr zu, dass er nur ein Lügner war, der eine Lüge lebte. Kein Sohn eines Schmieds würde es wagen den Erben eines Stammesfürsten und einen Stammesfürsten derart zurechtzuweisen. Kein Sohn eines Schmiedes hätte jemals so effektiv dieses Gespräch leiten können. Aber Tyra wollte dieser Stimme keine Beachtung schenken. Denn ihr Herz kannte die Wahrheit. Brun war vielleicht nicht ehrlich zu ihr, was seine wahre Identität betraf, aber mittlerweile kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, dass er einen guten Grund für seine Geheimniskrämerei haben musste. Zumal sie selbst auch nie den richtigen Moment gefunden hatte, um ihm die Wahrheit über sich selbst zu erzählen. Wieso sollten für sie in dieser Sache andere Maßstäbe gelten als für ihn?
Um die Stimme zum Schweigen zu bringen, konzentrierte sich Tyra wieder auf das Gespräch und war überrascht, dass ihr Vater die Versammlung für beendet erklärte. Wie in Trance stand sie auf und folgte ihrem Vater zurück ins Dorf. Gerade als sie sich in den Wald schleichen wollte, ergriff er unauffällig ihren Arm und zog sie mit sich zurück in ihre Hütte. Er ließ sie erst los, als die Tür hinter ihnen schloss und sie von den neugierigen Blicken ihres Stammes sicher waren.
„Kein Wort!", meinte ihr Vater bestimmt und Tyra schloss schnell ihren Mund. Ihren Vater hatte sie bis jetzt nur einmal so erlebt. Daher wusste sie, dass es nun besser war ihm zu gehorchen und sich mit gesenktem Blick auf ihr Lager zurückzuziehen. Als sie sich raschelnd auf das Stroh setzte, befahl Vater ihr die Hütte erst zu verlassen, wenn der Kampf unmittelbar bevorstand. Fassungslos hob Tyra ihren Kopf. Doch ihr Vater hatte ihre kleine Hütte bereits wieder verlassen. Automatisch sprang Tyra auf ihre Füße und wollte ihr Zuhause verlassen, da fiel ihr Blick auf ihre Mutter, die an der Feuerstelle das Abendessen zubereitete. Normalerweise hatte ihr Familie zwei Mädchen, die sich um die Zubereitung ihrer Mahlzeiten kümmerten. Immerhin war ihr Vater der Fürst dieses Stammes und genoss gewisse Privilegien. Doch einmal im Monat gestattete Mutter den Mädchen einen freien Tag, den sie mit ihren eigenen Familien verbringen durften. An diesen Tagen mussten sie selbst kochen.
Gelassen erwiderte Mutter ihren Blick und Tyra konnte einen Fluch gerade noch unterdrücken, bevor er über ihre Lippen kommen und ihre wahren Absichten enthüllen konnte. Warum mussten die Mädchen ausgerechnet heute ihren freien Tag haben? Die Mädchen mussten ihren Befehlen bedingungslos gehorchen. Schnell wog Tyra ihre Chancen gegen ihre Mutter ab und statt ihr Glück in der Flucht zu suchen, zwang sich Tyra zu einem sorglosen Lächeln und schritt zu ihrer Mutter. Schweigend arbeiteten sie nebeneinander und während Tyra diese einfachen Handgriffe erledigte, formte sich in ihrem Geist ein Plan.

Pünktlich zum Abendessen stapfte Vater in die Hütte und setzte sich an den gedeckten Tisch. Während des Essens sagte niemand ein Wort. Obwohl sie ihrem Vater gern ihre Ansichten an den Kopf geworfen hätte, schluckte Tyra ihre Vorwürfe hinunter und versuchte wie eine gehorsame, demütige Tochter zu erscheinen.
Kaum war das Essen beendet, verschwand Vater hinaus in die Nacht. Noch eine Weile half Tyra ihrer Mutter beim Aufräumen. Doch gerade als ihre Mutter nicht auf sie achtete, schnappte sie sich schnell einen Eimer und verließ die Hütte.
Die Dämmerung war bereits hereingebrochen und so zog Tyra rasch die Kapuze ihres dunklen Umhangs über ihr helles Haar. Dann verschmolz sie mit den Schatten und schlich durch die verlassenen Wege ihres Dorfes. Lautlos wie ein Geist mied sie die spärlichen Lichter der Hütten und lauschte aufmerksam, ob ihre Mutter ihr Fehlen bemerkt hatte. Doch alles blieb still. Nur ihr Herz hämmerte wie verrückt in ihrer Brust.
Als sie endlich die Lichter in der Senke schimmern sah, atmete sie erleichtert auf. Plötzlich schlossen sich kalte Finger schmerzhaft fest um ihren Unterarm. Verzweifelt versuchte sie sich aus dem eisernen Griff zu befreien, aber sie war nicht stark genug. Frustriert fuhr sie herum und blickte in die vorwurfsvollen Augen ihrer Mutter. Herausfordernd funkelte sie ihre Mutter an, doch diese presste nur streng die Lippen aufeinander, wirbelte herum und zerrte sie mit sich durch die Schatten des Dorfes zurück zu ihrer Hütte. Mit jedem Schritt schmolz Tyras Widerstand immer weiter dahin. Ihre Mutter schaffte es immer wieder, dass sie sich in Situationen wie diesen wie ein kleines, dummes Kind vorkam.
Nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, registrierte Tyra erleichtert, dass Vater noch nicht zurückgekehrt war. Immerhin blieb ihr somit seine Wut über ihre Missachtung seiner Befehle und die damit verbundene Bestrafung erspart - zumindest vorerst. Denn irgendetwas an der Haltung ihrer Mutter verriet ihr, dass diese noch nicht entschieden hatte, ob sie ihren Gemahl über die neueste Verfehlung ihrer Tochter in Kenntnis setzen sollte.
„Ich wollte doch nur...", fing sie an, doch ihre Mutter brachte sie sofort mit einem eisigen Blick zum Schweigen. Ein Teil von Tyra war sogar dankbar über diese Unterbrechung, denn sie traute den Worten nicht, die über ihre Lippen in die Welt hinausgelassen werden wollten, um gehört zu werden. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie dieses unbändige Bedürfnis verspürte in seiner Nähe zu sein und erst recht wolle sie ihrer Mutter nicht gestehen, wie weit sie für ihn zu gehen bereit war.
„Was du willst, spielt im Moment keine Rolle!", fuhr ihre Mutter sie unwirsch an. „Es gibt schon genügend Gerüchte um dich, seit du mit ihm zurückgekehrt bist. Du musst endlich die Augen aufmachen, mein Mädchen! Heute Nacht geht es weder darum, was du willst, noch was du brauchst, sondern nur um ihn! Im Moment ist er der Einzige, der sich für dich verbürgt und wenn er Lando morgen unterliegt, werden all seine Aussagen als Lügen ausgelegt werden. Denk nach, Tyra, was bedeutet das dann für dich?"
Mit großen Augen starrte sie ihre Mutter an und versuchte verzweifelt ihren Worten zu folgen. Aber die in ihr aufkeimende Angst lähmte ihren Geist und hinderte ihn daran die nötigen Schlüsse zu ziehen. Sanfter fuhr ihre Mutter fort: „Wenn er morgen versagt, werden die Sachsen ihren Anspruch auf dich erneuern und dann wirst du keine andere Wahl haben als mit ihnen zu gehen. Vermutlich werden sie dich dann mit irgendeinem Verwandten vermählen, um das Bündnis mit uns zu erzwingen und wenn dieser Verwandter behauptet, dass du keine Jungfrau mehr gewesen bist, wirst du vor allen Stämmen als Hure eines toten Jungen gebrandmarkt, der es gewagt hat freien Fürsten Lügen aufzutischen!"
„Aber ich bin doch Jungfrau!", widersprach Tyra und merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Mitleidig blickte ihre Mutter sie an, ehe sie Tyra in ihre Arme zog und ihr behutsam über das Haar strich.
„Du bist wochenlang mit ihm gereist", wisperte Mutter ihr eindringlich ins Ohr. „Ihr wart oft genug allein und du wärst nicht die erste Frau, deren Ruf man aus politischen Gründen ruiniert."
Sofort tauchte vor Tyras innerem Auge Gerdas Gesicht auf. Gerda wäre niemals die Geliebte ihres Vaters geworden, wenn dieser ihr nicht ein ehrbares Leben durch eine Heirat in Aussicht gestellt hatte. Doch stattdessen hatte sich Vater dem Willen seines Vaters beugen und Tyras Mutter heiraten müssen, wozu er Gerda und ihre gemeinsame Tochter Alwina zu einem Leben in Schande verdammt hatte.
„Habt ihr mir deshalb verboten zu ihm zu gehen?", fragte sie erschöpft und spürte, wie sich ihre Mutter verkrampfte. Bestimmt wich Tyra von ihr zurück und blickte ihr forschend ins Gesicht.
„Auch", gab Mutter ernst zu. „Aber der morgige Tag ist zu wichtig für uns alle und er ist noch sehr jung. Wir können es uns nicht leisten, dass er von irgendetwas abgelenkt wird."
Mit einem Schlag wurde Tyra bewusst, dass sie im Unrecht war. Natürlich verstand sie die Sorgen ihrer Eltern, denn sie kannte die Erwartungen, die an ihre Stellung als einzig eheliche Tochter des Stammesfürsten geknüpft waren. Stammesfürsten wurden gewählt. Sie brauchten die Liebe, das Vertrauen und die Unterstützung ihres Stammes. Seit sie denken konnte, war sie ein wichtiger Bestandteil dieser stillen Akzeptanz, welche die Herrschaft ihres Vaters ermöglichte. Denn dafür musste sie perfekt sein. Die perfekte Tochter, zu der die anderen Kinder aufsehen konnten, wenn ihre Eltern im Vorbeigehen mit einem wohlwollenden Nicken auf Tyra zeigten, damit sich die anderen Kinder auch wirklich ein Beispiel an ihr nehmen würden. Aber bis zu diesem Moment war ihr nicht bewusst gewesen, dass Brun sie in dieser Nacht nicht brauchte. Was sollte es ihm bringen, wenn sie sich für ihren Vater rechtfertigte? Kämpfen würde er am nächsten Morgen trotzdem. Für ihn gab es kein Zurück und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, gab es dies auch nicht für sie. Sie waren nicht mehr unterwegs, sie schliefen nicht mehr unter freiem Himmel. Er hatte sein Versprechen erfüllt und sie wohlbehalten nach Hause gebracht. Doch diese wunderbare Freundschaft, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte und an die sie so verzweifelt geklammert hatte, war nun den Regeln und dem Wohlwollen ihres Stammes unterworfen.
Dies könnte seine letzte Nacht sein. Mit welchem Recht konnte sie sich ihm in dieser Situation aufdrängen? Wollte sie nicht viel mehr nur aus diesem einen Grund bei ihm sein, damit es ihr besser ging? Spielten seine Gefühle und Bedürfnisse nicht eine größere Rolle? Immerhin hatte er eingewilligt sein Leben für sie zu riskieren. Schon wieder. Gewiss, sie war für ihn nicht mehr eine Fremde, der er im Wald zu Hilfe eilte. Aber dennoch kämpfte er für sie, für ihren Ruf, für ihre Wahrheit. So deutlich wie noch nie zuvor wurde Tyra nun bewusst, wie tief sie in seiner Schuld stand.
Wortlos löste sie ihren Umhang und warf ihn achtlos über einen Stuhl. Dann kroch sie auf ihr Lager und tat so, als würde sie schlafen. Nach einer Weile hörte sie, wie ihre Mutter die Kerze ausblies und sich schlafen legte. Bald schon gingen ihre Atemzüge gleichmäßig. Doch vermutlich lag sie ebenso schlaflos da wie Tyra, in Gedanken an Morgen.
Weit nach Mitternacht erst kehrte Vater zurück. Kurz blieb er vor Tyras Lager stehen und sie achtete darauf noch überzeugender Schlaf vorzutäuschen. Erleichtert atmete er aus und strich ihr behutsam übers Haar. Dann schlich er zu ihrer Mutter und legte sich wortlos neben sie.

Als die Dämmerung bereits eingesetzt hatte, legte sich die warme Hand ihrer Mutter auf Tyras Schulter und riss sie aus ihren Gedanken. Der Morgen war angebrochen. Nun war es an der Zeit still ihre Rolle zu spielen.
Wortlos schlüpfte Tyra in ein frisches Kleid, welches Mutter ihr stumm reichte. Das tiefe Grün betonte ihre helle Haut und einen Augenblick zögerte sie, strich den feinen Stoff ein letztes Mal zurecht, ehe sie es unter ihrem warmen Umhang verbarg. Rasch fuhr Mutter mit einem Kamm durch Tyras langes Haar und obwohl ihr diese morgendliche Routine sonst ein Gefühl von Frieden verschaffte, fühlte Tyra nichts als Unruhe. Angst hatte sie keine, denn sie ließ den Gedanken nicht zu, dass er scheitern könnte. Eine Welt ohne ihn konnte und wollte sie sich nicht vorstellen und so vermied sie jeden Gedanken an das bevorstehende Duell, wodurch sich ihre Gedanken immer wieder unweigerlich in diese gefährliche Richtung bewegten.
Wie in Trance folgte sie ihren Eltern zu einem Feld außerhalb des Dorfes, auf dem noch vor ein paar Monden das Getreide bis an ihre Hüfte gereicht hatte. Die meisten Bewohner ihres Dorfes hatten sich bereits versammelt und einige der Mädchen, mit denen sie als Kind manchmal gespielt hatte, drängten sich zu ihr, um sie wortlos zu berühren, als ob diese unpersönliche Geste ihr Trost und neuen Mut spenden könnte. Sie brauchte weder Mut noch Trost. Nur Kraft, die kommenden Stunden zu ertragen.
Erst als sie sich neben ihre Mutter stellte, registrierte sie, dass sich die Sachsen bereits auf der rechten Seite des Feldes befanden. Etwas abseits von ihnen führte Lando gezielte Bewegungen durch, die sowohl seinen Körper als auch seinen Geist auf den Kampf vorbereiteten. Sein Schwert hing locker an seiner Seite herab. Unauffällig sah sie sich nach Brun um, doch von ihm fehlte jede Spur. Unter den Versammelten konnte sie keinen seiner Männer ausmachen. Waren sie durch etwas aufgehalten worden? Dachten die anderen bereits, dass er sich im Schutz der Nacht wie ein Dieb davongeschlichen und Tyra ihrem Schicksal überlassen hatte? Eine Welle der Verzweiflung durchflutete sie und mit einem Mal kam sie sich so unendlich schwach vor. Für sie gab es keinen Ausweg. Brun musste für sie kämpfen und gewinnen, ansonsten war sie verloren. Denn Tyra hatte nie gelernt ein Schwert zu führen, weshalb sie nun dazu verdammt war, andere ihre Schlachten führen zu lassen.
Als ihr vor Angst schwindelte, schloss Tyra die Augen und zwang sich ihre Gefühle an den Rand ihres Bewusstseins zu schieben. In ihrem Herzen wusste sie, dass Brun sie niemals im Stich lassen würde. Er mochte einen falschen Namen benutzen, aber er war ein Mann von Ehre und gestern waren vor allem seine Ehre und sein Stolz verletzt worden. Die Nornen hatten ihre Schicksalsfäden eng mit den seinen verknüpft.
Plötzlich erfasste ein nervöses Raunen die Menge. Blinzelnd schlug sie die Augen auf und schaute sich verwirrt nach der Ursache dieser Unruhe um. Der Anblick, welcher sich ihr bot, verschlug ihr den Atem. Ihr Geist war unfähig zu begreifen, was ihr Herz sofort verstand. Aus der Richtung der Senke, in welcher Brun mit seinen Männern ihr Lager aufgeschlagen hatte, kam eine Ansammlung von Kriegern. Im ersten Moment wirkten sie auf bizarre Weise absolut identisch - ihre Kleidung, ihre Bewegungen, sie waren fremdartig und seltsam vertraut zugleich. Aber es war nicht das Marschieren in absolutem Gleichschritt, was sie so irritierte, sondern ihre Kleidung. Eine solche Kampfkleidung hatte sie noch nie gesehen. Die Männer trugen kurze Kleider unter ihren silbernen Rüstungen. Bei jedem Schritt klirrten ihre Schwerter gegen das Metall ihrer Rüstungen. Auf ihren Köpfen trugen sie seltsame Helme. Kurz darauf fiel ihr auf, dass drei dieser Helme mit weißen Federn verziert waren. Der Anblick dieser Krieger müsste sie in Schrecken versetzen. Stattdessen fühlte sie eine Welle von Bewunderung in sich aufsteigen, während sich ein Gefühl von Sicherheit in ihr ausbreitete.
Unmerklich verkrampfte sich Mutter neben ihr und schnappte leise nach Luft. Dieses kleine Geräusch riss Tyra aus ihrer Starre. Fragend blickte sie in das Gesicht ihrer Mutter. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet. Ihr Atem ging stoßweise. Ihre Finger bohrten sich so fest in Vaters Arm, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
„Römer!", wisperte Mutter atemlos vor Entsetzen und Tyra begriff. Automatisch glitt ihr Blick zu den herannahenden Kriegern und plötzlich ergab alles einen Sinn. Die seltsame Kleidung, die Gleichförmigkeit der Bewegungen, die gewaltige Erhabenheit. Dies waren die Krieger einer anderen Welt. Sie wirkten fremd und fehl am Platz, weil sie nicht hierhergehörten. Dies war das freie Germanien, das Gebiet der Suever. Noch nie war ein Römer in diesen Teil der Welt vorgedrungen. Von ihnen hatte ihr Stamm nur Geschichten gehört, als wären sie nichts anderes als ein böses Wesen, welches Loki zu Diensten war, um die Welt zu erschüttern und den Untergang aller Welten einzuläuten. Tyras Mutter hatte einst einem Stamm angehört, den diese Krieger zu erobern versucht hatten, um freien Menschen ihre Sicht der Welt aufzupressen. Noch vor Mutters Geburt hatten ein Heer aus Kriegern aller betroffenen Stämme diese Eindringlinge auf die andere Seite des großen Flusses gedrängt. Als Kind hatte Mutter ihr abscheuliche Geschichten über die Römer erzählt. Niemals hatte Tyra es für möglich gehalten eines Tages auch nur einem von ihnen zu begegnen. Wieso waren sie nun hier?
Verwirrt blickte sie zu ihrem Vater und registrierte die wütenden Gesichter der Sachsen. Die meisten Mitglieder ihres Stammes wirkten eher verwirrt.
Mit undurchdringlicher Miene beobachtete Vater, wie ein junger Mann mit einer langen, weißen Feder auf dem Helm auf das freie Feld trat und ruckartig seine rechte Hand im rechten Winkel auf Kopfhöhe schnellen ließ. Augenblicklich blieben die anderen Krieger stehen. Dies musste der Anführer sein. Neugierig musterte ihn Tyra eingehender und ignorierte das Gefühl von Vertrautheit, welches in ihr aufsteigen wollte. Am Saum seines weißen, knielangen Kleides war ein breiter, tiefroter Streifen angebracht. Darunter trug er eine rote Hose, die in braunen Stiefeln steckten.
Ohne auf die Rufe der Sachsen zu achten, schritt der junge Anführer aufrecht und selbstbewusst wie ein junger Gott in die Mitte des Feldes und kam mit einem Ruck zum Stehen. Der junge Krieger schien in vollkommener Reglosigkeit zu erstarren und Tyra stellte erleichtert fest, dass er im Profil zu ihnen stand, sodass sie sein Gesicht sehen könnte, wenn er den Helm abnahm.
Stille senkte sich über die freie Fläche. Sacht spielte der Wind mit den Blättern der umstehenden Bäume und brachte sie zum Rascheln. Tyras Herz hämmerte heftig in ihrer Brust. Ihre Gedanken rasten, aber sie weigerte sich die Wahrheit anzuerkennen.
Zögerlich trat Lando auf den reglosen Krieger zu und musterte ihn eingehend. Seine Miene spiegelte seine grenzenlose Verwirrung.
„Wer bist du?", wollte der Sachse zögerlich wissen und der junge Anführer zog seinen weiß gefiederten Helm vom Kopf. Fragend studierte der Ältere dessen Gesicht und Tyra beugte sich unmerklich nach vorn, um ihn ebenfalls besser sehen zu können. Der Mann schien mehr Junge als Mann, denn sein Kinn war vollkommen glatt. Seine Züge waren fein und edel. Das Licht der aufgehenden Sonne ließ sein kurzes Haar golden glühen. Ihr Blick wanderte von seinem Haar zurück zu seinem Gesicht und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie konnte sich nicht länger selbst belügen. Denn vor ihnen stand niemand anderes als Brun. Er hatte sie nicht im Stich gelassen. Er war gekommen. Aber er war ihr noch nie so unerreichbar fern erschienen wie in diesem Augenblick.
„Ich bin Gaius Caesar Britannicus. Sohn von Gaius Caesar Augustus Germanicus und Aurelia Vespasia. Ich bin ein wahrer Sohn Roms", verkündete der junge Mann mit klarer, fester Stimme, damit jeder ihn hören konnte. Seine Worte waren für Tyra wie ein Schlag ins Gesicht. Das Atmen fiel ihr schwer und ihr Magen drohte zu rebellieren.
„Also bist du in der Tat ein Lügner", erwiderte Lando überrascht und legte den Kopf schief. Brun, der Römer zuckte nicht mal mit der Wimper.
„Meinen Namen musste ich geheim halten", widersprach der Römersohn sofort. „Alles andere ist wahr."
Schlagartig wurde ihr ganzer Körper taub. Ihr Inneres verwandelte sich zu Eis. Kalte Wut durchströmte ihre Adern. Ihr Leben lag in den Händen eines Römers. Eines Lügners. Eines Betrügers. Ihres Feindes. Am liebsten wäre sie einen Schritt nach vorn getreten und hätte in das Geschehen eingegriffen. Doch in diesem Augenblick dröhnte die Stimme ihres Vaters: „Die Zeit des Redens ist vorbei. Es spielt keine Rolle, wer er ist. Die Götter kennen die Wahrheit. Kämpft, damit wir Sterblichen sie erkennen können!"
Nur Tyra und ihre Mutter hatten den Hauch von Ungeduld wahrgenommen, welcher unmerklich die Worte ihres Vaters gefärbt hatte.
Die beiden Krieger blickten sich wortlos in die Augen. Der Römer stellte eine Frage, die Tyra durch die Distanz nicht verstehen konnte und Lando schüttelte als Antwort nur den Kopf. Stumm nickte der Römer, blickte zu den beiden anderen Männern mit gefiederten Helmen und warf ihnen kurzerhand einfach seinen Helm zu. Einer von ihnen trat blitzschnell nach vorn und fing ihn behutsam auf, bevor die weiße Feder germanischen Boden berühren konnte. Tyra ertappte sich bei der Frage, wie der Name dieses Mannes wohl in Wahrheit lautete.
Die beiden Anführer verneigten sich respektvoll voreinander, dann traten sie ein paar Schritte zurück, um Abstand zwischen sich zu gewinnen.
„Müssen sie nicht noch ihre Waffen festlegen?", hörte Tyra sich leise fragen. Mutter schüttelte nur den Kopf. Anscheinend war die Zeit des Redens wirklich vorbei.
Mit klopfendem Herzen konzentrierte sich Tyra auf die beiden Männer, die sich umkreisten wie zwei Wölfe, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Im Vergleich zum Römer wirkte Lando wie ein großer, starker Mann. Doch seine einfache Stoffkleidung erschien Tyra mit einem Mal für einen Kampf vollkommen ungeeignet. Sie konnte es sich nicht erklären, aber ein Teil von ihr schämte sich dafür, dass man in ihrer Welt den Körper nicht besser schützte.
Eine Weile umkreisten sie einander geduldig und warteten darauf, dass der Anderen zum ersten Schlag ausholte. Mit wachsender Ungeduld beobachtete Tyra das Geschehen.
Ruckartig schoss Lando nach vorn und hieb mit immenser Wucht auf den Römer ein, dessen Schwertarm sofort nach oben schoss, um den Schlag abzublocken. Mit einem ohrenbetäubenden Klirren traf Metall auf Metall. Es war, als hätte jemand dem Römer ein Startsignal erteilt. Immer schneller wirbelten Lando und der Römer umeinander, Lando schlug zu, der Römer blockte ihn. Aber der Römer griff nicht an.
Plötzlich war der Römer zu langsam und Landos Schwert prallte auf dessen Brust. Doch das Eisen rutschte an Bruns Metallbrust ab. Scharf sog Tyra die Luft ein, als der Römer einen Schritt zurücktaumelte. Einen Wimpernschlag hoffte sie, dass er sie hörte und zu ihr blickte. Doch seine Welt war vollkommen auf den Sachsen vor ihn zusammengeschrumpft. Auf seinem makellos weißen Ärmel bildete sich ein kleiner roter Punkt, der sich langsam ausbreitete. Landos Schwert war zwar von seiner Brust abgeglitten, doch seinen linken Oberarm hatte es getroffen.
Dieses kleine Zeichen von Schwäche reichte aus, um den Kampfgeist des Römers zu wecken. Mit einem kleinen Schrei stürzte er sich auf den Germanen und innerhalb weniger Augenblicke lag Lando schwer atmend auf dem Rücken, während sich sein Schwert außerhalb seiner Reichweite hinter ihm auf der kalten Erde des Feldes befand. Mit großen Augen starrte er ungläubig zu dem jungen Römer hinauf, den er vollkommen unterschätzt hatte.
„Mein Bruder hat also tatsächlich...", hörte Tyra Lando wispern und der Römer nickte ernst. Er stand mit dem Rücken zu ihnen, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Aber etwas an seiner Haltung ließ sie den Atem anhalten. Langsam wandte er den Kopf ihrem Vater zu und blickte ihm fest in die Augen.
„Die Götter haben gesprochen", meinte Vater bedächtig. „Meine Tochter war niemals Gunnars Frau. Die Sachsen haben meinem Stamm ein großes Unrecht zugefügt, welches nun bestraft worden ist. Dieser Tag hat unseren Völkern Gewissheit und neuen Frieden gebracht."
Doch niemand brach in Jubel oder lautes Geschrei aus. Stattdessen herrschte Totenstille. Nur die wenigen Blätter, die der Wind noch nicht von den Ästen der Bäume hatte reißen können, raschelten sacht in den Baumkronen in ihrem Rücken.
Mit wachsendem Unbehagen beobachtete Tyra, wie der Römer sich wieder Lando zuwandte.
„Bring es schon zu Ende", meinte der Sachse kraftlos. „Walhalla wird auf mich verzichten können."
Entschlossen hob der Römer sein Schwert zum letzten Schlag. Das Eisen blitzte in der Herbstsonne auf, als es durch die Luft sauste. Dann rammte der Römer in einer fließenden Bewegung das Schwert seiner Familie neben Lando in den harten Feldboden. Überrascht stieß Tyra ihren Atem aus und schnappte sofort wie eine Ertrinkende nach Luft.
„Auf diese Weise werden wir niemals Frieden erreichen!", schrie der Römer. Seine Schultern hoben und senkten sich wie nach einem Sprint. Erstaunt blickte der Sachse von dem neben sich im Boden steckenden Schwert zu dessen Besitzer, der ihm nun einladend die Hand entgegenstreckte. Erschöpft ergriff Lando die Hand des Römers und ließ sich von ihm nach oben ziehen.
Die beiden wechselten ein paar Worte, die Tyra nicht verstehen konnte. Mit wachsender Neugierde beobachtete sie, wie in Landos Zügen die Verwirrung einer stillen, dankbaren Bewunderung Platz machte.
Erst jetzt begriff Tyra, dass Brun sie ein zweites Mal gerettet hatte. Nur dass ihr im nächsten Augenblick klar wurde, dass Brun niemals existiert hatte. Brun war eine Lüge, die sich dieser Römer ausgedacht und welche sie nur zu breitwillig geglaubt hatte. Vermutlich müsste sie einen Hauch von Dankbarkeit empfinden. Doch alles, was sie spürte, war Wut. Heiße, alles verzehrende Wut.
Ohne ihn auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, machte sie auf dem Absatz kehrt und drängte sich an den Schaulustigen vorbei. Hinter sich hörte sie leise ihren Vater nach ihr rufen. Ihr Name klang wie ein unterdrückter Fluch aus seinem Mund. Doch sie ignorierte ihn. In ihren Ohren dröhnte ihr eigener Herzschlag und so tat sie das Einzige, was ihr vernünftig erschien: Antworten verlangen.
Sobald sie im Schutz der Bäume des Waldes verschwunden war, begann sie zu rennen. Die Welt um sie verschwamm zu einer einzigen grünen Masse. Ihre Füße fanden den Weg von allein. Keuchend hielt sie vor der kleinen Höhle an und rang verzweifelt nach Atem.
Ein letztes Mal versuchte Tyra ihre Wut unter Kontrolle zu bringen, aber scheiterte. Hastig eilte sie in die Höhle und sobald sich ihre Augen an das matte Licht gewöhnt hatte, machte sie sich auf die Suche nach ihrer Halbschwester.
Doch schon nach der zweiten Weggabelung gab sie ihre Suche mit ängstlich klopfendem Herzen auf. Als Kind hatte sie oft mit Alwina in den Tunneln verstecken gespielt und einmal hatte sie sich schrecklich verlaufen. Die ganze Nacht hatte Alwina nach ihr gesucht, während Tyra allein im Dunkeln ausgeharrt hatte. Noch immer fürchtete sie sich vor den Geheimnissen, die in dieser Höhle lauerten. Sie musste die Tunnel nicht weiter absuchen, um zu erkennen, dass ihre Halbschwester nicht hier war. Vermutlich hatte Alwina ebenfalls den Kampf verfolgt und Tyra hatte sie in der Menge übersehen.
Langsam kehrte Tyra in den Eingangsbereich der Höhle zurück und setzte sich auf einen Stein. Sie zwang sich ruhig zu atmen und ihre Angst wieder unter Kontrolle zu bekommen. Doch je weniger Angst sie empfand, desto stärker wurde ihre Wut.
Irgendwann konnte sie nicht mehr stillsitzen und so begann sie am Eingang der Höhle auf und ab zu laufen. Doch auch das half ihr nicht. Ihre Wut und ihr aufkeimender Frust verschleierten ihre Sicht und so tat sie das Einzige, was ihr natürlich vorkam. Sie schrie ihre Gefühle heraus. Nach einer Weile sank sie kraftlos auf dem Boden in sich zusammen. Ihr Mund noch immer zum Schrei geöffnet, doch kein Laut mochte mehr über ihre Lippen kommen.
„Suchst du mich?", fragte eine Stimme ruhig hinter ihr. Mit einem Satz war sie auf den Beinen und wirbelte herum. Auf der kleinen Lichtung vor der Höhle stand Alwina und musterte sie mit schief gelegtem Kopf besorgt.
Aufgeregt sprang Tyra auf ihre Halbschwester zu und überschüttete sie mit all den Fragen, die ihr in den Sinn kamen. Ob sie gewusst hatte, wer Brun wirklich war, als Tyra ihn zu ihr gebracht hatte. Warum Alwina sie nicht vorgewarnt hatte? Was die Römer hier zu suchen hatten?
Augenblicklich verschloss sich Alwinas Miene und Tyra blieben die Worte im Hals stecken. Sie kannte ihre Halbschwester gut genug, um ihre Stimmung richtig einzuschätzen. Alwina verabscheute es, wenn sie von anderen bedrängt wurde, nur weil sie von den Göttern eine Gabe bekommen hatte.
„Ich kann dir die Antworten, die du suchst, nicht geben", widersprach Alwina sanft, aber bestimmt. „Du weißt, wem du sie wirklich stellen musst."
Betreten wich Tyra dem Blick ihrer Halbschwester aus. Für einen Wimpernschlag verrauchte ihre Wut und wich einer Ungewissheit, die Tyra mit Angst erfüllte.
Sie hörte sich selbst Ausflüche finden, weshalb sie ihn nicht fragen konnte und dabei wurde ihr nur bewusst, dass sie ihn nicht fragen wollte. Sie vertraute ihrem Herzen nicht, dass zwar vor Schmerz und Verrat vollkommen aufgelöst war, aber sich noch immer zu diesem Römer hingezogen fühlte.
„Es ist deine Entscheidung, Tyra", meinte Alwina und drückte beruhigend Tyras Hand. Sofort schoss Tyras Kopf nach oben und ihre Blicke kreuzten sich. In Alwinas Augen spiegelten sich Sorge und Ernst. Eindringlich fuhr die Seherin fort: „Ich kann dir nur raten zu ihm zu gehen, anstatt deine Gefühle und Fragen in deinem Geist zu verschließen."
Lange sahen sie sich in die Augen und Tyra schöpfte neue Kraft aus der Nähe ihrer Halbschwester. Natürlich hatte Alwina recht. Entschlossen nickte Tyra und setzte sich langsam in Bewegung. Am Rand der Lichtung blieb sie ein letztes Mal stehen und drehte sich zu Alwina um.
„Es wäre einfacher, wenn ich ihn einfach hassen könnte", gestand Tyra leise und spürte, wie die Ruhe, die sie in Alwinas Nähe empfunden hatte, langsam aus ihrem Körper wich und ihre Wut zurückkehrte.
„Ich bin nicht allwissend, kleine Schwester", entgegnete Alwina mit einem Hauch von Belustigung in der Stimme. „Aber du solltest die Liebe dem Hass immer vorziehen. Beide machen sie blind. Doch Hass kann nur zerstören, während Liebe zu heilen vermag."
Gerade als Tyra protestieren wollte, dass sie für einen Römer niemals Liebe empfinden konnte, machte Alwina auf dem Absatz kehrt und verschwand im Inneren ihrer Höhle. So schluckte Tyra ihren Protest hinunter und machte sich auf dem Weg zu ihm.

Wie in Trance erreichte sie die Senke und betrat das Römerlager. Sie ignorierte die Blicke der Männer. Sie wusste nicht, in welchem der Stoffzelte er untergebracht war und sie war zu stolz, um nach dem Weg zu fragen. Sie stapfte einfach durch das Lager und als sie seine Stimme hörte, folgte sie deren Klang zu einem der Zelte. Sie hätte es niemals für das Zelt eines Anführers gehalten, weil es sich weder in Größe, Form noch in der Farbe von den anderen Zelten unterschied. Die Wachposten nahm sie am Eingang gar nicht wahr.
Ohne um Einlass zu bitten, schlug Tyra die Plane beiseite und schlüpfte unter ihr hindurch. Das Innere des Zeltes verschlug ihr den Atem. Es war geräumiger und gemütlicher, als sie geahnt hatte. Neugierig blickte sie sich um und sog die fremdartigen Gegenstände in sich auf. Es gab drei Liegen und sofort fragte sie sich, wofür ein Mann drei Liegen benötigte. In der Mitte des Zeltes befand sich ein Tisch mit einem einzelnen Stuhl. Etwas abseits entdeckte sie eine vierte Liege, vor der eine Truhe stand. Irgendjemand, vermutlich der Römer selbst, hatte sein Schwert achtlos auf der Truhe abgelegt.
Langsam trat sie auf den Schreibtisch zu und musterte die Gegenstände, die der Römer zum Schreiben verwendet hatte. Anscheinend schrieb es sich an einem Tisch leichter. Als sie den Kopf zur Seite neigte, nahm sie einen kleinen Schrein wahr, auf dem winzige Figuren standen. Neugierig ging sie zu dem Schrein und nahm eine der kleinen Figuren in ihre Hand. Es war ein Krieger. Vermutlich irgendein römischer Gott. Aber die Figur war so filigran und detailverliebt gearbeitet, dass Tyra nicht anders konnte, als ihre Schönheit anzuerkennen.
Plötzlich nahm sie hinter sich eine Bewegung wahr. Sofort wirbelte sie herum und blickte auf die vierte Liege. Dort saß der Römer und blinzelte sie verschlafen an. Aus dem Augenwinkel registrierte Tyra den weißen Verband, der um seinen linken Oberarm gewickelt worden war. Seine goldenen Augen raubten ihr den Atem und sie versank in deren unendlichen Weiten. Doch als er hastig von der Liege aufsprang und sich von ihr abwandte, um sich eilig dieses weiße Kleid überzuziehen, kochte Tyras Inneres vor Wut.
„Warum hast du mir nicht gesagt, wer du wirklich bist?", hörte sie sich selbst vorwurfsvoll fragen und war selbst überrascht, wie fest und spitz ihre Stimme klang. Bedächtig strich der Römer sein Kleid glatt. Die breiten Streifen am Saum erinnerten Tyra an Blut.
„Spielt es eine Rolle, wer ich wirklich bin?", entgegnete er, drehte sich langsam zu ihr um und blickte sie endlich wieder an. Seine goldenen Augen zeigten nichts als Ruhe und Beständigkeit.
„Natürlich spielt es eine Rolle", meinte sie aufrichtig und konnte den Sturm an Gefühlen nicht verbergen, der in ihr brodelte. Ein Teil von ihr war immer noch der Überzeugung, dass dies alles nur ein böser Traum war, aus dem sie irgendwann aufwachen würde. Mehr zu sich selbst fuhr sie fort: „Brun hätte bleiben können. Brun hätten die Menschen akzeptiert. Aber dich? Wie sollen wir dir jemals wieder vertrauen können? Rom ist unsere größte Feindin."
„Ich habe nie gesagt, dass ich bleiben kann. Ich wurde allein aus dem Grund geboren Rom zu dienen. Dies ist nicht nur mein Schicksal, es ist mein Geburtsrecht, Tyra. Mein Leben hat nie mir selbst gehört, denn für mich kann es immer nur Rom geben", erwiderte er ruhig und schlagartig erkannte sie, was sie so wütend machte. Die Lüge über seine Identität hatte sie ihm schon längst verziehen, so wie er die ihre. Auch wenn sie immer noch nicht begreifen konnte, wer er wirklich war. Rom war so weit weg, dass sie sich darunter einfach nichts vorstellen konnte. Doch es machte sie rasend, wie leicht er den Umstand hinzunehmen schien, dass sie niemals eine gemeinsame Zukunft haben würden. Erst jetzt, als sie ihm in seine goldenen Augen sah, wurde ihr die einfache Wahrheit bewusst. Während sie voller Sehnsucht Pläne geschmiedet hatte, hatte er keinen einzigen Gedanken an sie verschwendet. In seinem Leben gab es für ein Mädchen wie sie keinen Platz und sie Närrin hatte ihm auch noch voller Stolz ihr Land gezeigt!
Ohne nachzudenken, schleuderte sie ihm alle Vorwürfe entgegen, die ihr in den Sinn kamen. Sie nannte ihn einen Lügner und Betrüger, einen typischen Römer, einen Verräter, einen Spion und noch viele weitere, hässliche Dinge. Aber er stand einfach nur gelassen da, hörte ihr aufmerksam zu und was sie auch sagte, schien ihn vollkommen kalt zu lassen. Als sie ihn schließlich an den Kopf warf, dass er sie nur benutzt hatte, damit die Armeen seines Vaters ihren Stamm schneller unterwerfen könnten, veränderte sich schlagartig etwas zwischen ihnen. Schnaubend und zitternd vor Wut stand sie vor ihm, aber ihr fiel beim besten Willen nichts mehr ein, was sie ihm hätte sagen können. Die behagliche Wärme, welche in dem kleinen Zelt herrschte, war verschwunden.
„Ich bin hier, weil jemand in Rom meinen Tod will!", schrie er frustriert und seine Augen funkelten vor Enttäuschung. Überrascht und voller Unglauben starrte sie ihn an. Tyra brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass er von ihr enttäuscht war. Ihre Wut löste sich in Luft auf und ihr Kampfgeist erstarb.
Langsam kam er auf sie zu und diese ruhige, ungewohnte Kälte, die von ihm ausging, ließ sie vor ihm zurückweichen. Schritt für Schritt, bis sie gegen den Tisch stieß. Mit einem Mal war er ihr so nah, dass sich die Hitze seines Körpers durch ihre Kleider brannten und ihre verräterische Haut zum Prickeln brachte. Sein frischer, männlicher Duft berauschte sie ebenso wie seine Wärme. Mit großen Augen blickte sie zu ihm auf und ihr Herz raste so schnell, dass sie sich fragte, ob er ihren Herzschlag hörte.
„Wenn man es in Rom an die Spitze geschafft hat, reicht ein kleiner Fehler und die ganze Familie fällt", erklärte er überraschend sanft, als wäre dies vollkommen normal. „Aber die wenigsten warten geduldig darauf, dass man von allein herunterfällt. Jeder, der mutig oder ehrgeizig genug ist, wartet nur darauf, endlich..."
Mitten im Satz hielt er inne und stupste seinen Zeigefinger sacht in ihre Seite. Obwohl er sie kaum berührte, hätte Tyra beinahe das Gleichgewicht verloren. Nur der Tisch in ihrem Rücken verhinderte ihren Fall. Mit großen Augen blickte sie zu ihm auf und die Wut, die sie empfand, verschwand. Ehe sie sich daran hindern konnte, flehte sie ihn leise an bei ihr zu bleiben.
„Rom ist alles, was zählt, Tyra", wisperte er, ohne zu zögern. „Niemals werde ich die Schande über meine Familie bringen und den törichten Versuch unternehmen Rom zu entfliehen. Wer Rom einmal gehört, wird nie von ihr frei sein können, bis sie einen letztendlich doch umbringt."
Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, um ihn zur Vernunft zu bringen. Seine Worte, seine Ernsthaftigkeit, sein Leben - das alles machte ihr unglaublich große Angst. Stattdessen hörte sie sich selbst sagen: „Ich werde deinem Schicksal nicht länger im Weg stehen. Ich danke dir, dass du mein Leben gerettet hast. Diese Schuld werde ich nie begleichen können. Auf Wiedersehen, Britannicus, Sohn Roms."
Unmerklich öffnete er den Mund, nur um ihn gleich hastig wieder zu schließen. Sofort drängte sich Tyra an ihm vorbei und verließ fluchtartig das Zelt. Am Ausgang des Lagers wäre sie beinahe mit Marbod zusammengestoßen, dessen Blick Bände sprach. Ja, er hatte sie gewarnt und sie war töricht genug gewesen, diese Warnung in den Wind zu schlagen. Doch es war zu spät. Viel zu spät. Ihre Welt war bereits um sie herum zusammengebrochen.

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