62) Die neue Welt
Als wir den Kuppelsaal betreten, steht Gabriel bereits an Zeus Seite und flüstert ihm etwas ins Ohr. Hekate steht zu seiner anderen Seite und schmunzelt, als sie uns näherkommen sieht.
Aljan streicht mir über den Arm in einer Geste, die ich zu deuten weiß: Alles wird gut.
Er führt mich den Mittelgang entlang zu einer Zweierbank, die vor Zeus und Hekate aufgebaut wurde.
All die anderen Götter und Göttinnen haben sich erhoben. Leise verfolgen sie unsere Prozession.
Wir knien uns auf die gepolsterte Fußbank.
"So wird es geschehen", verkündet Gabriel und tritt zur Seite an einen Rednerpult, auf dem ein aufgeschlagenes Buch liegt.
"So wird nun an diesem Tage das geschriebene Buch hervorgeholt, in welchem alles verzeichnet ist, dass die Welt gerichtet werde."
Er hält das Buch in die Höhe, so dass alle Anwesenden es sehen können. Ein dunkelbrauner Einband aus Leder mit schlichten goldenen Verzierungen.
Dann legt er es wieder ab.
"Wird nun der Richter Platz nehmen, so wird alles Verborgene zum Vorschein kommen: Nichts wird ungesühnt bleiben."
Gabriels Blick fällt nicht auf uns herab, sondern schweift über unsere Köpfe hinweg zur linken Seite des Raumes. Als ich den Kopf drehe und dem Blick folge, sehe ich Erit und seine Brüder auf einer der Bänke sitzen.
Aidos erhebt sich und tritt nach vorne, bleibt jedoch hinter uns stehen, so dass sie alle gut sehen können.
"Eure Schuld wurde festgestellt. Euer Urteil ist gefallen."
Erit, Anden, Kolmas und die anderen wirken mit einem Mal klein und unsicher. Verletztlich. Gewöhnlich. Sterblich.
Aidos hebt die Hand. "Schuldig und unschuldig. Geschaffen von Vaterhand, wie ihr nichts dazu könnt, zu dem, was ihr wart. Aber dafür kann niemand etwas. Dennoch hat jeder eine Wahl. Ihr habt euch entschieden. Für ein Leben voller Laster. Selbstgefälligkeiten, Entführung und Verführung. Ihr habt euch genommen, was ihr wolltet, ohne Rücksicht auf den Willen anderer. Stets auf euren eigenen Vorteil, euer Wohl und eure Gelüste bedacht. Große Macht war euch gegeben und ihr habt sie genutzt wie es euch zu Gemüte stand. Wart ihr eurem Vater dankbar für die Macht, mit der er euch ausgestattet hat? Habt ihr ihn geachtet und geehert? Ihr und wir alle, wissen die Antwort."
Adrasteia tritt an die Seite von Aidos.
"Eure Strafe soll gerecht sein. Sie wird gefällt, ohne auf eure Wünsche Rücksicht zu nehmen, ob ihr sie wollt oder nicht. Auge für ein Auge, Ohr für ein Ohr, aber euch wird auch etwas gegeben: eine zweite Chance. Sie ist euch nicht geschenkt, sondern an eine Bedingung geknüpft. Ihr werdet den Preis des Vergessens zahlen, erhaltet die Gelegenheit für einen neuen Anfang. Ihr werdet euch und euren wahren Charakter beweisen müssen, damit zu gegebener Zeit erneut über euch geurteilt werden kann. Hiermit schicke ich euch zurück auf die Erde. Als sterbliche Wesen. Lebt euer Leben, wie es euch beliebt. Macht etwas daraus. Aber wenn ihr bei unserem nächsten Wiedersehen besser wegkommen wollt, dann gebt euch Mühe."
Hinter dem Vorhang tritt ein Engel hervor. Er sieht ähnlich schön aus wie Gabriel und wird von einer strahlenden Aura umgeben. Helle Locken krönen sein erhobenes Haupt und an seinem Gürtel hängt ein Schwert aus Flammen. Er schreitet auf die sechs Brüder zu mit weit ausgebreiteten Flügeln aus weißen Federn, die jeden Adler vor Neid erblassen lassen würden. Am liebsten möchte man die Hand danach ausstrecken und die weiche Festigkeit spüren, aber man ahnt, dass man sich daran nur verbrennen kann. Der Engel bleibt wenige Schritte vor den Höllenprinzen stehen. Sie stehen auf und senken ihre Köpfe.
Der Engel löst sein Schwert und streckt es aus. Die Flammen tanzen um die Klinge herum. Dann fährt er einmal durch jeden von ihnen hindurch - mitten durch Hals und Kopf. Die Flammen berühren die Häupter von Aljans Brüdern, richten aber keinen Schaden an. Sie streifen einfach durch sie hindurch, aber etwas passiert mit Andens Brüdern. Kein Schaden, aber eine Veränderung, langsam zuerst.
Ich greife nach Aljans Hand. Er drückt meine zurück. Stille Versicherung und Rückversicherung, es ist alles gut - und was es noch nicht ist, wird es werden.
Dann wird die Veränderung immer schneller und sichtbarer. Erit, Anden, Kolmas und die anderen lösen sich einer nach dem anderen in Luft auf, bis sie schließlich nicht mehr sichtbar sind. Fort sind sie - wenn sich doch nur alle Probleme so einfach in Luft auflösen könnten. Ich lasse den Atem langsam aus meiner Lunge strömen und merke erst jetzt, dass ich ihn überhaupt angehalten habe.
Aidos und Adrasteia begeben sich wieder an die Seite von Nemesis und Dike. Der Engel schreitet hinüber zu Gabriel am Rednerpult, wo er seinen Platz einnimmt, wie eine Statue es tun würde. Engelsgleich. Standhaft. Unverrückbar. Eine Barriere aus göttlicher Macht.
"Und von demselbigen Schwert ging aus ein langer feuriger Strahl", liest Gabriel vor. "Das Gericht ward gehalten, und die Bücher wurden aufgetan. Aber noch sind nicht alle gerichtet, die danach verlangten."
Die beiden Engel stehen schweigend nebeneinander.
Dike erhebt sich und tritt nach vorne.
"Ich rufe meine Schwestern Eunomia, für die gesetzliche Ordnung und Eirene, für den vergöttlichten Frieden."
Eunomia und Eirene umrahmen ihre Schwester zu beiden Seiten. Man sieht auf den ersten Blick ihre Verwandtschaft an der Schlichtheit ihres Auftretens, auch wenn ihre Haare heller sind als die ihrer Schwester und ihre Gesichtszüge weicher.
Die drei Schwestern nicken und geben damit dem Engel das Zeichen, dass er fortfahren kann.
"Zur selbigen Zeit werden alle Sünder gerichtet und alle, die im Buch geschrieben stehen."
Eunomia zu Dikes Rechten ergreift das Wort. "Und so soll die göttliche Ordnung wieder hergestellt werden. Jeder erhält seinen Platz und seine Aufgabe. Auch den Gefallenen gewähren wir eine zweite Chance."
"Friede soll herrschen auf Erden, sowie oben und unten", stimmt Eirene mit ein.
Gemurmel brandet unter den Anwesenden auf. Erst nachdem ich einen Blick über all die Gottheiten schweifen lasse, merke ich, dass sie Eirenes Worte wiederholen. "Friede... herrschen... oben und unten", hallt vielstimmig durch den Kuppelsaal und verliert sich in den Tiefen der weitläufigen Bibliothek.
"Die Nephilim, größer und stärker als Menschen es waren, gezeugt von Engeln und Menschenfrauen, alte Helden der Vorzeit, längst vergessen in den Tiefen der Abgründe mögen sich erheben. Ihnen wird gewährt, Aljan und Dalerana zu unterstehen, für den Frieden in diesem Reich zu sorgen", führt Dike aus.
"Ihre Aufgabe zur Wiedergutmachung wird es sein, mit ihrer Kraft und Stärke, mit ihrem göttlichen Anteil für die Schließung des Verfalls zu sorgen."
"Damit Friede einkehren kann, hier wie dort, und damit heilen kann, was aufgerissen wurde." Eirene hat ihre Hände erhoben.
Wieder branndet Gemurmel auf, aber dieses Mal erfasse ich gleich, dass alle Anwesenden ihren Segensspruch aufsagen. Auch ich murmele leise mit.
"...damit heilen kann, was aufgerissen wurde."
Der Engel mit dem Flammenschwert löst sich aus seiner Starre neben Gabriel. Im selben Moment kommt draußen hinter dem Vorhang Unruhe auf. Es klingt als würde ein ganzes Bataillon vorübermarschieren. Aber nicht im Gleichschritt und nicht leise. Viele Personen reden, so dass sie sich zu einem unidentifizierbaren Schwall von Worten und Stimmen vermischen, während schwere Schritte das Geräusch von Trampeln und Klappern erzeugen.
Dann teilt der Engel den Vorhang und verschwindet auf dem Flur. Kurz darauf verhallen die Stimmen schlagartig und nach und nach auch die Schritte. Stille tritt ein.
"Und so entstehen ein neuer Himmel und eine neue Erde auf neuen Grundsteinen. Mit neuen Toren, auf denen die Namen der Erbauer stehen und die Braut des Lammes." Gabriels Stimme klingt zum ersten Mal feierlich.
Hekate und Zeus treten auf uns zu.
"Erhebt euch, Aljan Lucifer, Lichtbringer und Herrscher der Höllenreiche und Dalerana Jordbarn, Erdenmädchen."
Aljan hilft mir beim Aufstehen und lässt auch dann meinen Arm nicht los.
"Gesegnet sollt ihr sein. Mit dem Göttlichen Samen ausgestattet, damit er sich durch euch und in euch fortpflanzen möge", spricht Hekate und berührt unsere verschränkten Hände.
"Damit ihr auch spirituell vereinigt seid", ergänzt Zeus. "Aljan, der du erschaffen wurdest, nicht als Mensch, sondern als Prinz der Hölle. Dalerana, die du nur als Geistwesen hier bist, weil dein Körper noch immer auf Erden weilt." Zeus legt eine Hand ebenfalls auf unsere, seine andere greift nach Hekates freier Hand.
"Führt dieses Reich nach eurem Gutdünken in Glanz und Blüte. Vereint euch und herrscht. Seid fruchtbar und vermehret euch." Hekate und Zeus sprechen beinahe im Gleichklang. Ich spüre, wie etwas durch mich hindurchfließt, hervorgerufen durch die Kraft der Worte.
Für einen Augenblick ist es still, dann durchbricht Gabriels göttlichen Stimme die Stille.
"Und so wohnt Gott inmitten seines Volkes, inmitten von Tod und Leid. Aber es gibt weder Tod noch Leid. Auch keinen Tempel, denn Gott ist der Tempel. Vom Thron Gottes und des Lammes geht das Wasser des Lebens aus, an dem die Bäume des Lebens stehen, wachsen, blühen und Früchte tragen."
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