55) Zwei Seiten einer Münze
Die Rollen haben sich vertauscht. Es ist Erit, der mit gefesselten Händen hinter der Reiterin mit dem Schwert hertrottet, während ich mich mit göttlicher Hilfe auf den Rücken des Rappens hieven lasse.
Halt suchend klammere ich mich an den Ledergürtel der Reiterin. Ihr Körper ist warm unter meinen Händen und fühlt sich lebendig an.
Nachdem mich die vier Reiterinnen vor dem Absturz bewahrt, mich in ein neues Gewand gekleidet und Erit in die Schranken gewiesen haben, kann ich gar nicht anders, als ihnen zu vertrauen, auch wenn ich keinen Schimmer habe, wer sie sind. Offensichtlich sind sie eine abstrakte Variante der wilden Reiter. Ich vermisse Aljan, der mir sicher Erleuchtung gebracht hätte, aber nicht nur deswegen.
Die Reiterin vor mir lacht laut auf.
"Dabei hat sich unsere Athene noctua doch solche Mühe gegeben uns gebührend vorzustellen."
Ich runzle fragend die Stirn, auch wenn sie mich nicht sehen kann.
"Athenes Steinkauz. Kannst du dir vorstellen, dass sie vielen Menschen Angst macht? Dass sie als Unglücksbringer und Totenvogel gilt? Ihr Schrei, so glaubten die Menschen, rufe die Sterbenden ins Totenreich."
Wie selbstverständlich füllt sie Aljans Rolle als mein Lehrmeister aus und mein Herz krampft sich zusammen. Wenn möglich, vermisse ich ihn noch mehr als ohnehin schon.
"Keine Sorge, nachdem es Erit nicht gelungen ist, deinen Begleiter in eine Falle zu locken, wirst du ihn schon bald wiedersehen."
"Oh!", entfährt es mir und Hitze steigt von meiner Brust auf und bahnt sich ihren Weg in Richtung meiner Ohren. "Kannst du meine Gedanken hören?"
Jetzt lachen alle vier Reiterinnen und ich stöhne innerlich.
"Verzeih", antwortet die Göttin auf dem klapprigen Pferd, "diese Eigenart ist uns mitgegeben. Wir lauschen nicht nur dem verschwommenen Schwall der Worte, sondern schauen in alles hinein, allem lauschend, alles entscheidend."
"Oh!", denke ich. Meine Wangen glühen.
"Verzeih, wir haben uns nicht vorgestellt", erklärt die Reiterin mit Krone in den dunklen Haaren und Pfeil und Bogen auf dem Rücken. "Ich bin Dike oder Justitia, Göttin der Gerechtigkeit. Das ist Adrasteia, die Unentfliehbare, deren Rache und Strafe keiner entrinnt." Die Schwertträgerin winkt mir mit ihrer freien Hand zu, an der anderen zerrt sie Erit wie einen störrischen Esel hinter sich her.
"Vor dir Aidos, die Hüterin der Sittsamkeit, die den Menschen ein gesittetes Zusammenleben ermöglicht und zum Schluss, Nemesis, Tochter der Nacht, Göttin des gerechten Zorns und der ausgleichenden Gerechtigkeit."
Bevor ich etwas sagen kann, schnaubt Erit.
"Die apokalyptischen Reiterinnen." Seiner Stimme fehlt jegliche Schärfe und jeder Spott. "Unterwegs, um menschliche Selbstüberschätzung und die Missachtung des göttlichen Rechts und der Sittlichkeit zu bestrafen. Aber da es sich bei meiner Person nicht um ein menschliches Wesen handelt, seid ihr nicht zuständig."
"Wohl wahr", stimmt Nemesis ihm bei, liefert ihm aber keine weitere Auskunft.
"Reiterinnen?", hake ich nach.
"Reiterinnen", wiederholt Dike. "Du weißt inzwischen genug, um zu verstehen, dass in allen Geschichten ein Körnchen Wahrheit steckt. Mich und Nemesis hat man oft als Einheit gesehen. Gerechtigkeit und Strafe."
Ich nicke.
"Genauso, wie man Aidos zu meiner Begleiterin erkoren hat und Adrasteia wird sogar häufig mit mir gleichgesetzt, womit man ihr aber keine Gerechtigkeit tut." Die Göttin lächelt milde und wirft ihrer Nebenreiterin einen Blick zu. "Im Laufe von Zeit und Patriarchat hat sich die männliche Version unserer Bezeichnung durchgesetzt. Oder kennst du einen antiken Gott der Gerechtigkeit?"
Ich schüttle den Kopf, was als Antwort völlig ausreicht.
"Siehst du. Nicht nur in diesem Reich der Hölle, sondern auch auf Erden und überall sonst, sind mit den Jahrhunderten so einige Dinge aus dem Gleichgewicht geraten. Es hat sich schon lange abgezeichnet, dass die göttliche Ordnung in Schieflage geraten ist und nun, bevor sie zu kippen droht, heißt es zu handeln. Es ist an der Zeit."
"Was wird geschehen?", frage ich.
"Ein Göttergericht ist einberufen. Die Ordnung muss wieder hergestellt werden."
"Wie?"
Ich weiß nicht, ob ich wissen will, wie ein Göttergericht abläuft oder wie diese Ordnung überhaupt aussieht - oder beides. Jedenfalls scheinen mich die apokalyptischen Reiterinnen auch ohne Worte zu verstehen.
"Nun ganz einfach, wir alle, die wir göttlichen Ursprungs sind, versammeln uns und fällen ein gerechtes Urteil", erklärt Dike. "Auch dir wird dabei eine Rolle zufallen. Nicht umsonst, steht dein Name im siebten Siegel."
Auch Erit scheint bei dieser Aussage aufzuhorchen.
"Also steckt ihr hinter all der Zerstörung?"
Adrasteia zieht mahnend an seiner Fessel und Erit stolpert einen Schritt auf ihr fuchsrotes Pferd zu.
"Dafür seid ihr schon selbst verantwortlich. Nicht unbedingt du, aber dein Erschaffer. Er wusste, was er tat und du wusstest, was du tatest. Dafür wirst du dich verantworten müssen. Aber zurück zu Tenebris-" Erit unterbricht sie, bevor sie zu ihrem ursprünglichen Thema zurückkehren kann.
"Nein!", protestiert er. "Was mein Vater getan hat, war nicht richtig. Deswegen musste er aufgehalten werden."
Wieder reißt Adrasteia an dem Strick und Erit verstummt. Nur mit Mühe kann er verhindern, dass er das Gleichgewicht verliert und auf die Knie fällt.
"Vergiss nicht, dass auch wir in dich hineinsehen können. Das war nicht der Grund, weshalb du deinen Vater beseitigt hast." Ihre Stimme klingt so scharf wie die Klinge ihres Schwertes.
"Schweig jetzt", befiehlt auch Nemesis.
"Im Prinzip ist es einfach", erklärt Aidos mit leiser Stimme und auch wenn ich hinter ihr sitze, weiß ich, dass jedes ihrer Worte mir gilt.
"Alles hat zwei Seiten. Leben und Sterben. Diesseits und Jenseits. Die menschliche und die göttliche Seite, die männliche und die weibliche. Zwei Seiten ein und derselben Münze. Du hast Hekate getroffen, unsere All-Mutter. Und es gibt einen Allvater, den du bald treffen wirst."
Ich nicke, auch wenn Aidos diese Geste nicht sehen kann. So viele Fragen ringen in meinem Kopf um die Vorherrschaft. Aber ich brauche sie gar nicht zu äußern, sie versteht mich auch so.
"Am Anfang war nur das Nichts. Eine Leere voller Möglichkeiten. Ein unendlicher Raum. Und eine unsichtbare Macht ohne Form oder Gestalt. Allvater, seit Anbeginn der Zeit. Er hatte viele Namen, aber gleichzeitig auch keinen wahren Namen. Er schuf die Welten seit Anbeginn. Er schuf das Leben und den Tod. Er steht am Anfang der Edda und später war er Jahve, der Gott des Alten und Neuen Testaments und der Gott der Juden. Er ist alles und nichts. Gestaltlos, endlos, unbegreifbar. Aber er ist nicht allein. Hekate ist unser All-Mutter. Auch sie stellt das Nichts und das Alles dar. Nur so ergibt es ein Ganzes. Sie ist die Personifikation des Chaos, so wie viele andere Göttinnen auch. Artemis, Diana, Persephone, Lilith, Isis. Alles ist eins und nichts ist eins. Verstehst du?"
"Nein", sage ich und schüttele den Kopf. "Wie kann etwas eins sein und nicht eins?"
"Für die einen bin ich Dike, die griechische Göttin der Gerechtigkeit und für andere, Justitia, das römische Äquivalent. Zwei Seiten ein und derselben Münze. Ganz gleich, wie unser Name lautet, wir sind, was wir sind."
"Erinnere dich an Hel", wirft Nemesis ein. "Alt und jung. Leben und Tod. Verkörpert in ein und derselben Person. Eins und doch nicht eins."
Allmählich beginne ich zu verstehen und gleichzeitig auch nicht.
Aidos quittiert diesen Gedanken mit einem Lächeln.
"Eigentlich wollte ich auf Tenebris und seine Taten zu sprechen kommen, aber zuerst muss dir klar werden, wofür Hekate steht. Die All-Mutter, Herrin des Chaos. Das Chaos ist das weibliche Pendant zur Ordnung unseres All-Vaters. Ursprünglich war es ein Hohlraum, ein leeres Loch. Wo die männliche Kraft etwas erschafft, muss die weibliche Seite gefüllt werden. Du siehst, wo sich der Kreis schließt?"
Zumindest habe ich eine Vermutung.
"Das heißt, Tenebris hat das hier ohne die andere Seite der Münze erschaffen? Und jetzt muss der Preis für diese Einseitigkeit gezahlt werden?"
"Du hast es verstanden, jede Münze braucht eine zweite Seite", stimmt mir Nemesis zu und mit Schrecken erkenne ich, dass wir auf einen Abgrund zureiten.
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Klar soweit? Alles verstanden? Oder habt ihr noch Fragen? Dann her damit!
Und da könnt ihr mal sehen, wie wichtig gendergerechte Sprache ist!
Lasst mich weiterhin wissen, wie euch die Geschichte gefällt und vielen Dank für die vielen Kommentare und Sternchen. <3
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