35) Traumreise
Mein Zimmer fühlt sich an wie ein kleines Refugium, ein wenig Sicherheit in diesem Irrgarten menschlicher Abgründe und göttlichem Größenwahn. Selbst Erit und das, was er mir hier beinahe angetan hätte, kann das Gefühl nicht schmälern. Vielleicht, weil ich weiß, dass er mich dieses Mal nicht überraschen kann, weil er auf der Erde weilt.
Bevor ich mich auf mein einladend weiches Himmelbett fallen lasse, husche ich ins Bad, um mich frisch zu machen und mir einen Satz neuer Klamotten anzuziehen. Die Jeans und das T-Shirt kommen mir beschmutzt vor. So als hafte an ihnen der Staub des Hades und die Wasser der Unterweltflüsse.
Mich ekelt beinahe davor, als ich die beiden Teile in die Badewanne werfe, wo sie achtlos liegen bleiben.
Mit Jogginghose und Trainingsjacke kuschle ich mich in meine Decke und schließe für einen Moment die Augen.
Kurz vor dem Einschlafen durchzuckt mich die Hoffnung, dass ich vielleicht einfach in meinem eigenen Bett, in meinen eigenen vier Wänden aufwache und dies alles doch nur ein Traum war. Einer der völlig bizarren Sorte. Vielleicht habe ich sogar so viel Glück, dass ich mich hinterher an gar nichts mehr davon erinnern kann, obwohl ich nicht weiß, ob ich mir das wirklich wünschen sollte. Irgendwie waren die Erlebnisse auch unfassbar einfallsreich und besonders, so dass es schade um die verlorene Erinnerung wäre. Sogar ein Geschenk der Götter habe ich erhalten. Die Granatapfelfrucht ruht auf einem Ehrenplatz in der Obstschale auf der Kommode und thront erhaben über all den anderen Obstsorten, wie eine Königin. Ich finde sogar, dass sie die anderen Früchte überstrahlt als wäre sie aus einem anderen Material geschaffen.
Im nächsten Moment sind meine Gedanken ein wirres Sammelsurium an bunten, fröhlich miteinander tanzenden Früchten. Bis sich plötzlich in all die Farbenpracht ein Skelett mischt und einen Ringelreihen mit einem blühenden Kaktus tanzt. Weder das Obst, noch der Kaktus, noch das Skelett oder ich selbst scheine mich daran zu stören, wie alle wild durcheinander wirbeln. Auch an dem zaghaften Klopfen, das sich unter die fröhliche Tanzmusik mischt, nehme ich keinen Anstoß. Ich intergriere es einfach in meine Träume. Hier bekommt jeder einen Platz, Früchte aller Art und Farbe, Lebende und Tote in jedem Verwesungszustand, sogar missklingende Töne werden nicht ausgeschlossen.
Doch als das Pochen lauter wird, reißt es mich doch aus meinem Traum. Für einen kurzen Augenblick sehe ich noch das Bild von Frida Kahlo vor mir, auf dem sie hinterrücks von einem Skelett umschlungen wird, ehe ich es zur Seite blinzle. Wenn ich es sehen will, müsste ich nur mein Zimmer verlassen, denn bei unserer Rückkehr hing eben jenes Gemälde gegenüber meines Raumes.
"Die Gemälde tauschen ab und zu ihre Plätze und ich dachte, das hier könnte dir sogar gefallen", hat Aljan erklärt, der jetzt in der halb geöffneten Tür steht und mich mit hochgezogenen Augenbrauen mustert.
Er scheint auf etwas zu warten.
"Ja, komm rein", bitte ich, als er Anstalten macht, auf der Schwelle zu verharren.
"Hast du geschlafen?", fragt er und überquert die wenigen Meter bis zu meinem Bett, auf dessen Kante er sich setzt.
Ich schüttle die letzten Traumreste von mir. "Ich habe vielleicht was Verrücktes geträumt", gestehe ich.
"Tut mir leid, dass ich gestört habe, aber ich dachte, du willst hören, was ich von meinem Vater erfahren habe." Mir entgeht nicht, wie Aljan an seinen Fingernägeln herumknibbelt.
Sofort fühle ich mich hellwach. "Keine Ursache, du hast nicht gestört", beruhige ich ihn und sein anscheindend schlechtes Gewissen. "Erzähl, was hast du herausgefunden."
Aljan wendet sich mir zu und legt seine Hände auf die Oberschenkel. "Also, ich weiß jetzt, woher mein Vater das Buch hatte und wen er erzürnt hat."
"Und?", frage ich und rutsche näher zu ihm. Warum lässt er sich die Informationen aus der Nase ziehen?
"Er hat es aus der Bibliothek der Göttin der Weisheit genommen. Im Augenblick ist er auf dem Weg zu ihr, um es zurück zu bringen und sich zu entschuldigen." Jetzt wo der Damm der Worte gebrochen ist, geht es mir auf einmal doch zu schnell.
"Moment", unterbreche ich. "Göttin der Weisheit? Kennst du sie? Wird sie seine Entschuldigung annehmen?"
"Sie nennt sich Sophia. Aber sie hat viele Namen. Manchen ist sie besser bekannt als Isis, Athena, Demeter oder Shekinah. Ich bin ihr schon oft begegnet. Sophia ist eine ausgezeichnete Gesprächspartnerin, allerdings ist sie auf meinen Vater weniger gut zu sprechen. Ich hoffe es."
"Du meinst, sie könnte hinter der Zerstörung stecken?"
Aljan schüttelt den Kopf. "Nein, das glaube ich nicht. Dafür ist sie zu weise. Das ist nicht ihr Stil und außerdem hat mein Vater das Buch erst gestohlen, nachdem die Zerstörung aufgetreten ist."
Meine aufflackernde Aufregung erlöscht im Keim. "Stimmt."
"Trotzdem hat es meinen Vater auf eine Vermutung gebracht. Er glaubt, nur eine Göttin könnte dahinterstecken. Und die Mädchen halten zusammen, es sei denn, man rollt einen Granatapfel in ihre Mitte und wirft heikle Fragen auf, wer denn nun die Schönste oder Klügste unter ihnen sei." Er lacht und ich folge seinem Blick zu der Frucht, die inmitten der anderen Früchte auf meinem Obstkorb thront. "So erzählt man es sich zumindest."
Seine These, zumindest der Teil davon, den ich verstehe, leuchtet mir ein. "Es wäre eine Erklärung, warum Persephones Hain verschont geblieben ist. Und was machen wir jetzt? Hast du eine Vermutung, welche Göttin dahinterstecken könnte?"
Ajlan hebt abwehrend die Hände. "Langsam, Dalerana. Jetzt warten wir ab, bis mein Vater zurückkommt. Wenn Sophia etwas weiß - und schließlich ist sie die Göttin der Weisheit - da ist das gar nicht unwahrscheinlich, dann hat er vielleicht schon bald Antworten, und wenn nicht, dann versuche ich mein Glück bei ihr."
"Sehr gut", sage ich, "und was machen wir in der Zwischenzeit?"
Aljan wedelt mit seiner Hand. "Ich dachte, du hast fürs Erste genug von antiken Totenreichen und wir schauen einen Film."
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