꧁5꧂
Der nervige Wecker klingelt viel zu früh. Ich taste blind mit der rechten Hand nach meinem Handy und suche den Aus-Knopf, damit der Lärm endlich verstummt. Nach dem Telefonat mit meiner Familie bin ich mit Ella ins Bonfire gefahren um meine Sorgen zu ertrinken. Wortwörtlich. Wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, war es eine leichtsinnige Idee, an einem Montag Abend feiern zu gehen. Dazu kommt noch meine Verabredung mit Henry im Café Lomo, weswegen mir weitere Dreißig Minuten Schlaf geraubt wurden. Ella und ich waren noch bis weit nach Mitternacht unterwegs. Ein Kerl, an dessen Namen ich mich nur noch vage erinnern kann, hat uns vor dem Verbindungshaus rausgelassen und sich selber auf den Heimweg gemacht. Ella habe ich angeboten bei mir zu übernachten, doch sie war der Meinung, noch nicht schlafen zu können und hat stattdessen ein paar Runden um den Block gedreht. Manchmal denkt Ella viel zu viel nach. Ich sehe es ihr sofort an, wenn sie an ihren eigenen Gedanken erstickt. Wenn ich es nicht besser wissen würde, hätte ich gedacht, dass Ella nie zum Schlafen kommt.
Es ist total gemein, dass ich nach einer kurzen und anstrengenden Nacht schrecklich aussehe, während Ella in alle Himmelsrichtungen strahlt. Wider meines Willens schlage ich die aufgewärmte Bettdecke beiseite und kämpfe mich aus dem Bett.
Nach einer kalten Dusche fühle ich mich glücklicherweise direkt besser und die letzten Spuren der kurzen Nacht verschwinden unter einem dezenten Make up. Zehn Minuten später mache ich mich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt. Jetzt, wo es tatsächlich ernst wird, mache ich mir Gedanken. Habe ich die richtige Entscheidung getroffen? Im ersten Moment fand ich die Idee super.
Wird schon nicht so schwer werden, dachte ich mir. Aber was ist, wenn ich Henry garnicht helfen kann? Was, wenn alles umsonst ist und sich seine... soziale Phobie nicht verbessert?
Jetzt noch einen Rückzieher zu machen, wäre falsch. Schließlich habe ich zugesagt und was ich verspreche, halte ich auch ein. Schon von Weitem erkenne ich Henrys Silhouette, er hingegen scheint mich nicht zu bemerken, da er konzentriert auf sein Handy starrt.
Ich nutze den Moment und mustere ihn von oben bis unten. Er steht etwas abseits des Cafés. Seine lockigen Haare sind wie bei unserem ersten Zusammentreffen leicht zerzaust. Er trägt mal wieder einen dieser schrecklichen Pullunder, eine Chino Hose und weiße Chucks. Die Brille sitzt etwas schief auf seiner Nase, und ist mittlerweile ein Stück nach unten gerutscht. Er sieht eigentlich garnicht mal so schlecht aus. Sein Klamottenstil bringt das einfach nicht zur Geltung. Das muss ich ändern! Es steckt so viel mehr in ihm. Henry weiß das bloß noch nicht.
Ich setze mich in Bewegung und gehe auf ihn zu. Er blickt erschrocken von seinem Handy auf. Sobald er mich bemerkt, schaltet er das Smartphone aus, steckt es in seine Hosentasche und richtet sich ein Stück gerader auf.
Ich bleibe vor ihm stehen. „Hey, hast du dir schon was zu trinken geholt?", frage ich zögernd, auch wenn mir die Frage im Nachhinein komplett irrsinnig vorkommt. Er hat keinen Becher in der Hand, was für sich selber spricht.
Henry räuspert sich, wahrscheinlich um die Stimme wiederzufinden. „Ich habe auf dich gewartet, lass uns reingehen." Er zuckt mit den Schultern und deutet auf die Eingangstür.
Bevor er einen Schritt nach vorne treten kann, halte ich ihn am Pullover zurück und strecke ihm meine Hand entgegen.
„Ich bin Ayleen Cooper, du kannst mich aber auch einfach Lee nennen. Schön dich kennenzulernen."
Fragend schaut er mich an. Als sein Blick auf meine linke Hand fällt, die immer noch in seinem Pullover vergraben ist, nimmt sein Gesicht eine rötliche Farbe an. Ich muss zugeben, dass ihm dieser Ton steht. Wenn ich rot anlaufe, bilden sich überall Flecken und ich sehe aus, als hätte ich einen Marathon hinter mir. Fragend blickt er auf mich herab und scheint verwirrt zu sein.
Um ihm auf die Sprünge zu helfen deute ich auf meine Hand. „Wir haben uns noch nicht richtig vorgestellt. Ich warte."
Er zieht eine Augenbraue hoch, antwortet jedoch trotzdem. „Ich bin Henry Buckley. Reicht doch oder?"
Ich gebe ein Schnauben von mir. „Siehst du? Geht doch."
Er greift nach meiner Hand und schüttelt sie. Sein Griff ist stärker als erwartet und seine raue Hand ist angenehm warm. Bevor ich die Situation weiter analysieren kann, gibt er meine Hand wieder frei.
Sobald wir im Lomo eintreten, steigt mir der Duft von süßem Gebäck und Kaffee in die Nase. Gäbe es ein Parfüm, das genau so riecht, würde ich es ohne zu zögern kaufen.
Ich drehe mich zu Henry um. „Weißt du schon was du nimmst?"
„Normalerweise nehme ich immer einen Karamell Macchiato aber ich bin offen für was Neues. Was kannst du mir empfehlen?"
Im ersten Moment dachte ich mich verhört zu haben. Ella zieht mich jedes Mal damit auf, dass ich keinen guten Geschmack habe was Getränke angeht. Sie ist der Meinung, ich würde den Wert eines guten Kaffees nicht wertschätzen, wenn ich den herrlichen Geschmack der Kaffeebohnen mit etwas süßem wie Karamell überdecke.
„Ehrlich gesagt kann ich dir bei der Auswahl nicht weiterhelfen. Ich habe selber bis heute nich nie etwas anderes als Karamell Macchiato getrunken. Aber ich freue mich, jemanden gefunden zu haben, der meine Leidenschaft teilt."
„Dann lass uns beide etwas Neues wagen. Was hältst du von..." Er studiert die breitgefächerte Karte, die quer über dem Tresen hängt.
„...einem Caffè Moccha?"
„Hört sich lecker an", antworte ich schmunzelnd. Ich erwähne jedoch nicht, dass ich keine Ahnung habe, was wir uns gleich bestellen werden.
Während wir in der Schlange anstehen, füllt sich das Café nach und nach mit Studenten. Umso mehr Kommilitonen durch die Tür treten, desto angespannter und nervöser wirkt Henry auf mich. Ich frage mich bereits den ganzen Tag, ob mehr als seine fehlende soziale Kompetenz hinter seinem Verhalten steckt, entscheide mich dennoch dafür, das Thema auf einen anderen Tag zu verschieben. Es scheint mir weder der richtige Ort, noch die richtige Zeit zu sein.
Der Barista hinter der Theke winkt mir mit einer Hand zu.
„Schön dich mal wieder zu sehen." Lenn ist eher klein und schmal gebaut. Mit dieser Frisur erinnert mich sein Erscheinungsbild ein kleines bisschen an Justin Bieber. Lenn arbeitet nebenbei im Lomo, um sich sein Studium zu finanzieren. „Wo hat sich Peter versteckt. Wegen ihm wurden mir Überstunden aufgehetzt."
Peter arbeitet ebenfalls im Lomo. Er ist der eigentliche Grund, weshalb ich überhaupt auf dieses süße, kleine Café aufmerksam geworden bin.
„Er steckt bei seiner- jetzt Ex Freundin- fest und der nächste Flug geht erst am Wochenende."
Lenn seufzt „Das ist mies."
„Er hat sich ein Zimmer im 5 Sterne Hotel mit Spa Bereich und Pool gebucht. Ich denke, er wird es überstehen", necke ich zurück.
„Wollen wir mal hoffen. Noch eine Woche mit Überstunden und ich gehe ein." Theatralisch legt er sich eine Hand aufs Herz und fächert sich mit der anderen Luft zu.
Ich muss anfangen zu lachen. „Ach, du übertreibst. Was ist mit unsere Getränken? Wir haben es echt eilig." Ich versuche ernst zu klingen, kann aber nichts gegen meine erheiterte Stimme machen.
Lenn deutet einen Knicks an und verdreht dabei die Augen. „Jawohl Chef."
Sobald uns der Barista die dampfenden Kaffeebecher überreicht, verlassen wir das Café und gehen über einen Umweg in Richtig vom Raum 10b. Es ist der Saal, in dem wir jede Woche Literaturunterticht haben.
Die ersten Meter gehen wir schweigend. Trotzdem nehme ich jede seiner Bewegungen neben mir wahr. Seit wir an der frischen Luft sind, wirkt Henrys Körperhaltung entspannter, beinahe gelassen.
„Schmeckt gar nicht mal so übel, oder?", unterbreche ich das Schweigen.
„Stimmt, aber Karamell Macchiato wird immer meine Nummer Eins bleiben."
„Ich verrate Niemandem, dass du deinem Macchiato fremdgegangen bist. Es bleibt unser Geheimnis"
„Puh, ich bin erleichtert", geht Henry auf meinen Spaß ein und sein Gesicht wirkt automatisch gelassener als zuvor. „Also...", er zieht das Wort in die länge. „... wie sieht dein Plan aus?"
Ich überlege kurz. Ich stelle fest, weder einen genauen Plan, noch eine geniale Idee zu haben.
„Ich denke wir sollten klein Anfangen, wie Mrs. Hilten vorgeschlagen hat. Am Freitag steigt bei meiner Besten Freundin Ella eine Party. Ich könnte vorher bei dir vorbeischauen und wir machen dich schick."
Er zieht seine rechte Augenbraue in die höhe. „Und das soll mir genau wie helfen?"
„Ich helfe dir dabei neue Freunde zu finden."
„Ich habe Freunde."
„Du bist mir noch nie auf einer Feier begegnet", stelle ich trocken fest.
„Nur weil meine Freunde nicht hier studieren, heißt es nicht, dass ich keine habe", Henry klingt beinahe trotzig.
Ich stupse ihn am Arm an. „Ist mir klar. Es geht bei diesem Projekt darum, dich in das Studentenleben einzufügen. Du studierst nur einmal im Leben. Genieße es. Wenn du dich die ganze Zeit versteckst, und dich in deinem Zimmer zurückziehst, kannst du keine Erfahrungen sammeln. Egal ob Gute oder Schlechte."
„Mir fehlt es an Nichts."
„Sei nicht so stur Mr. Green. Was du nicht kennst, kannst du auch nicht vermissen."
Sein Blick schweift zu mir. Ich erkenne eine mir unbekannte Regung in seinen Gesicht. Erheiterung. „Mr Green?", wiederholt Henry meine Worte.
Oh. Habe ich das laut gesagt? Ich antworte ihm absichtlich nicht und versuche das Thema geschickt zu wechseln.
„Wann hast du das letzte mal die Sau rausgelassen, bist mit einem Mädchen ausgegangen oder hast wenigstens geflirtet?", frage ich stattdessen.
„Ich bin nicht der Typ dafür."
„Egal welche Typ du bist, ich verpflichte dich dazu, mich am Freitag zu dieser Party zu begleiten. Das ist eine ärztliche Verschreibung." Ich schmunzle. „Ich werde dafür sorgen, dass sich die Möglichkeit ergibt, ein Gespräch zu beginnen. Glaub mir. Wir werden dieses Verbindungshaus nicht verlassen, bevor du nicht mit irgendjemanden geredet hast. Und wenn du nur zu einem Mädchen gehst und sagst: „Hey, wie gehts?". Du wirst mit Fremden reden." Ich schnippe mit dem Finger in die Luft. „Verstanden?"
Seine Augenbraue wandert nach oben.
„Verstanden?", wiederhole ich streng.
„Du wirst nicht locker lassen, kann das sein?" fragt er spielerisch genervt.
„Richtig erkannt Sherlock."
Nach kurzem Zögern atmet er tief ein und gibt sich geschlagen. „Verstanden."
Ein Schubser in die richtige Richtung tut immer gut. „Geht doch. Wohnst du auf dem Campus?"
Er schüttelt den Kopf. „Ich habe eine Wohnung zusammen mit meinem Kumpel Dan."
„Okay, dann schicke mir deine Adresse und ich komme um 9 Uhr bei dir vorbei. Wenn das in Ordnung ist." Er nickt, holt sein Handy aus der Tasche und ich nehme es ihm ab, damit ich meine Nummer einspeichern kann. Sobald ich ihm sein iPhone zurückgebe, straft er mich mit einem amüsierten und gleichzeitig ungläubigen Blick.
„Ernsthaft?" Sein Blick wandert über meinen eingespeicherten Namen. „Wonder Woman Lee?" Sein lachen hört sich... wunderschön an.
Ich lege meinen Kopf schief. „Zweifle nicht an meine Fähigkeiten."
„Verspreche nicht zu viel."
„Werde ich nicht", antworte ich und mein anzügliches Zwinkern zaubert wieder diese leichte Röte auf seine Wangen.
Auf dem restlichen Weg zum Unigebäude reden wir über unverfängliche Themen. Ich versuche ihn dadurch abzulenken, denn ich spüre wieder wie nervös er ist. Vor der Tür bleiben wir stehen. Ich drehe mich zu ihm um doch er scheint mich gar nicht wahrzunehmen. Sein Blick schweift überall hin, außer zu mir. Es wirkt so, als wäre Henry in diesem Moment in einer anderen Welt. Bevor er in den Raum eintreten kann, greife ich nach seinem Handgelenk und halte ihn zurück.
Seine Haut ist warm und fühlt sich angenehm weich an. „Ich nerve nur ungern, aber du wirkt nicht gerade okay auf mich."
„Kümmere dich um deinen Kram", zischt er. Tatsächlich. Der schüchterne, liebevolle Henry zischt mich angriffslustig an. Mit einem Blick auf meine Hand reißt er sich los und stürmt zu seinem Sitzplatz.
Ich kippe den letzten Schluck Kaffee in mich hinein und folge den restlichen Kommilitonen. Wie in meiner ersten Stunde lasse ich mich auf den Stuhl neben Henry fallen. Seine Lippen sind zu einer dünnen Linie zusammengepresst und sein Kiefer scheint angespannt zu sein.
Ich zucke heftig zusammen als er sich mit der Geschwindigkeit einer Raubkatze zu mir umdreht. Verdammt, mein Herz ist beinahe stehengeblieben! „Das war gemein von mir, tut mir leid. Eigentlich bin ich nicht so, aber du hast mich kalt erwischt. Sorry."
„Schon gut." Die nächsten Minuten lausche ich den Worten der Professorin, vergesse jedoch in keiner Sekunde Henrys Anwesenheit, die sich durch eine angenehme Wärme bemerkbar macht. Henry strahlt eine gewisse Ruhe aus, die dafür sorgt, dass ich mich automatisch entspanne.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro