Die nächsten Tage vergeht schleppend. Lee ist übers Wochenende zu ihren Eltern gefahren und kommt erst am Montag Abend zurück nach Princeton. Ich vermisse sie wie verrückt. Das Gefühl, dass Dan mehr weiß als er zugibt, lässt mich nicht in Ruhe. Im Gegenteil. Er verhält sich ruhig und sagt jeden Tag, dass sie sich schon melden wird, wenn sie so weit ist.
Ich hasse warten.

Schon früher im Kinderheim. Mit dem Gewissen zu leben, dass jeder Tag jener sein könnte, an dem man von einer freundlichen Familie aufgenommen wird, und dann doch jeden Abend wie gewohnt schlafen geht, ist schrecklich. Am nächsten Morgen wacht man wieder mit der Hoffnung. Bald ist es so weit. Bald wird dich jemand Adoptieren.
Diese Worte habe ich zu oft gehört.
Vor einigen Tagen habe ich meinen Aufsatz an Mrs. Hilten abgeschickt. Änderungen habe ich nicht vorgenommen. Wie gebannt warte ich auf eine Rückmeldung.
Am Sonntag Abend sitze ich vor meinem Klavier und spiele die Noten von Breathing You. Meine Finger fliegen regelrecht über die schwarzweißen Tasten, sodass ich garnicht anders kann, als den Text mitzusingen. Sobald der Refrain erklingt klopft mein Herz wie wild. Die gesungenen Worte drücken genau das aus, was ich in Lees Nähe fühle.

Suppress the feelings in my bed,
I fought against walls with my head.
You broke the chains I can't break through.
Instead of breathing fire I'm breathing you.

Das Geräusch einer eintreffenden E-Mail reißt mich aus dem Tackt der Melodie und ein unschöner Ton entsteht. Ich renne zum Laptop, der auf dem Ohrensessel liegt und öffne das Programm. Es ist tatsächlich eine E-Mail von Mrs. Scott.

Lieber Henry,
ihr Text hat mir sehr gut gefallen. Ihr Bezug auf die Vergangenheit und die heutige Situation stellt ihre Gefühle sehr schön zum Ausdruck. Die versteckte Liebesgeschichte war berührend und ich hoffe inständig auf ein Happy End. Man merkt, dass sie die Bedeutung hinter dem Schmetterlingseffekt verstanden haben. In der Folgenden Datei finden sie Anregung auf eine ähnliche Geschichte, die mich mindestens genau so sehr berührt hat. Sie sollten sich demnächst mal treffen und ihre Gedanken austauschen.
Ihnen ein schönes Wochenende
Mrs.Scott

Etwas verwundert öffne ich die Datei, denn eigentlich hat meine Geschichte ein Happy End. Wenigstens die geschriebenen Version.
Sobald ich die Ersten Worte lese, wird mir schwindelig. Ist es das was ich denke? Mit zittrigen Fingern und einem Schweißausbruch scrolle ich etwas weiter runter. Es ist ein Aufsatz über den Schmetterlingseffekt. Es ist aber nicht mein Aufsatz. Der Aufsatz ist von Lee.

Schmetterlingseffekt. Fünf Silben, zwanzig Buchstaben und Fünf Vokale. So weit, so gut. Doch was verbirgt sich hinter diesen Silben, Buchstaben und Vokalen? Das ist garnicht so leicht, denn das muss jeder für sich selbst entscheiden und bei jedem Menschen hat der Schmetterlingseffekt einen eigenen Namen. Es können materielle Dinge sein, imaginäre Vorstellungen oder Personen. Bei mit tritt Letzteres zu. Mein bedeutendster Schmetterlingseffekt trägt den Namen: Henry. Zwei Silben. Fünf Buchstaben und ein Vokal. Es hört sich leicht gesagt an doch bis ich auf diese Erkenntnis gekommen bin, ist viel Zeit vergangen. Mein Leben bestand aus, feiern, willkürlichen One Night Stands, oberflächlichen Freunden und einem fehlenden Teil, den ich vor Jahren aufgehört habe zu vermissen. Einer Sache nach der jede Person von Natur aus strebt. Vollkommenheit. Vier Silben, Vierzehn Buchstaben und Fünf Vokale. In meiner Vergangenheit wurde ich verletzt und verlassen. Daraufhin habe ich mir geschworen, niemals in meinem Leben von einer Person dermaßen abhängig zu werden. Ich möchte es immer noch nicht denn diese Abhängigkeit macht mir Angst. Riesige Angst. Doch wie oft im Leben entscheidet das Herz anstatt der Kopf? Vor einigen Monaten bin ich meinem persönlichen Schmetterling über den Weg gelaufen. Auf den Ersten Blick habe ich seine wunderschönen Flügel nicht wahrgenommen, ich habe sie übersehen und der Falter glich einer verängstigten Raupe. Die Flügel waren unter stabilen Mauern versteckt, die ich selber gut kannte. Es war die Art Mauer, die die Leute von einem fern hält um unangenehmen Situationen und Problemen aus dem Weg zu gehen. Ich gebe es zu: Am Anfang wurde ich wortwörtlich gezwungen, dem Schmetterling beim Fliegen zu helfen und ihm einen Anstoß in die Richtige Richtung zu geben: In die Realität. Nur dass ich nicht wusste, dass er mit jedem Schritt, mit jedem Wort und jeder Berührung einen gewaltigen Teil meiner Realität einnimmt. Nicht der Realität, die von Oberflächlichkeiten regiert wurde, nein, dieser Schmetterling hat sich in meinem Herzen eingenistet und die alte Ayleen zum Erwecken gebracht. Die Ayleen, die nicht alles und jeden von sich stößt, sondern Lebt. Die, die mit ihren Freunden verrückte Sachen unternimmt, zusammen kocht und Gefühle zulässt. Mein Autopilot wurde im Laufe der Zeit defekt. Also musste ich mein Leben selber in die Hand nehmen und den Sprung in das kalte Wasser wagen. Erst dadurch habe ich gemerkt, dass ich nicht alleine bin. Ich habe meine wundervolle Familie, Freunde und meine Raupe, die sich zu einem Schmetterling entwickelt hat. Seit dieser Erkenntnis war es überall. Es kam von meiner Familie, meinen Freunden und...Das ist die Frage: Kam Es auch von meinem Schmetterling? Du fragst dich bestimmt: Was ist Es? Genau diese Frage habe ich mir tagtäglich gestellt. Was genau ist dieses kribbeln im Bauch. Was ist Es, dass sich mein Herzschlag bis ins Unendliche erhöht, wenn mein Schmetterling in der Nähe ist. Was ist Es, dass meine Gedanken immer und immer wieder zu dieser einen Person gelenkt werden. Warum vergesse ich alles um mich herum? Nach dem Hochmut kommt der Fall und ich habe meinen Schmetterling verletzt. Wie heißt es so schön? Man vermisst Dinge erst, wenn sie einem fehlen. Doch Es wurde nicht weniger. Im Gegenteil. Mit jeder Stunde des Entzugs wuchs es an und ein Ende ist nicht in Sicht. Schlagartig ist mir klar geworden, dass ich ohne meinen Schmetterling nur eine kalte Hülle bin, in der ich zu ertrinken drohe. Mein Schmetterling hat mich gerettet und aus der Tiefe gezogen.
Dann hat es Klick gemacht. Jetzt weiß ich was Es ist. Und ich hoffe, dass ich nicht die Chance auf eine gemeinsame Zukunft durch meine Dummheit zerstört habe. Es ist etwas wundervolles und lebensnotwendiges.
Es ist Liebe. Zwei Silben. Fünf Buchstaben. Drei Vokale.
Ich liebe dich. Immer.
Ayleen