꧁29꧂
Sobald wir in den Garten treten, nehme ich die vielen Gäste wahr. Automatisch versteift sich mein ganzer Körper, ohne dass ich etwas dagegen hätte tun können. Bisher habe ich nicht daran gedacht, unter wie vielen Menschen ich sein werde. Als könnte Lee meine Gedanken hören, greift sie nach meiner Hand und wir begeben uns unter die Menge. Der Garten ist geschmückt und in der Mitte befindet sich eine Tanzfläche mit Lampions, die als Dach dienen. Es hat etwas Märchenhaftes. Im dunkeln wird es traumhaft schön aussehen, beinahe romantisch. Im hinteren Teil stehen Philip und ein recht breiter Mann, wahrscheinlich handelt es sich dabei um Chris, vor dem Grill und der Geruch von Fleisch steigt mir in die Nase. Daneben spielen kleine Kinder fangen, wobei sie laut lachen und kreischen. Im gesamten Garten sind Stehtische mit Kerzen aufgestellt, die ein mildes Licht spenden. Die Location macht mich sprachlos. Das Zusammenspiel der Farben wirkt harmonisch... einfach perfekt.
„Ayleen, wie groß du geworden bist." Die rauchige Stimme einer älteren Frau dringt zu uns herüber. Die Dame muss entsprechend ihrer Falten um die 65 Jahre alt sein.
„Mrs. Mayfield, schön sie wiederzusehen. Wie geht es ihnen?"
„Die Jahre machen sich langsam spürbar, aber trotz allem bin ich fit. Wer ist denn deine Begleitung?" Die Dame mustert mich von Kopf bis Fuß. „Ist der Junge Mann dein Freund?"
Bevor Lee zu einer Antwort ansetzen kann, strecke ich meine Hand aus. „Guten Tag, mein Name ist Henry. Wir sind... Freunde."
„Du kommst nicht aus Woodhill, stimmt's Junge?"
„Genau, ich komme aus Washington. Ayleen und ich studieren auf demselben College."
Ich schaue fragend zu ihr und sie scheint zu verstehen.
„Mrs. Mayfield ist eine Freundin meiner Eltern. In meiner Kindheit habe ich viele Nachmittage bei ihr verbracht."
Die Beilagen vom Catering werden im selben Moment geliefert und unser Gespräch wird unterbrochen. Bevor Lee und ich uns abwenden können hält mich die Dame zurück.
„Ich hoffe später inständig auf einen Tanz mit ihnen, Henry." Ihr Blick ist so ekelhaft liebevoll, dass ich nicht ablehnen kann.
„Das lässt sich bestimmt einrichten, Mrs. Mayfield." Ich wende mich ab und gehe zusammen mit Lee an den Tisch ihrer Familie. Lilly hat für jeden Gast ein eigenes Namensschild gebastelt, dekoriert mit Blumen und unterschiedlichen Farbmustern. Mein Schild befindet sich direkt neben dem von Lee. Auf meiner Linken Seite sitzt Hank, der mich sofort in ein Gespräch verwickelt.
„Ich habe gehört, dass du Klavier spielst und eigene Stücke komponierst?" Hank ist sympathisch, wie der Rest der Coopers. Er und Lee sind den ganzen Tag schon dabei sich zu necken und ärgern, sodass sich mein Herz zusammenzieht. Ich selber hatte nie Geschwister, auch wenn ich nicht weiß, ob meine leibliche Mutter, die ich nie kennengelernt habe, weitere Kinder hat. Ich möchte es garnicht wissen, schließlich habe ich mein komplettes Leben ohne Geschwister überstanden. Zu sehen, wie sehr Lee und Hank sich lieben, macht mich trotzdem ein bisschen eifersüchtig.
„Ich spiele seit mehreren Jahren, es hat mir durch schwierige Zeiten geholfen. Du spielst auch oder?" Eigentlich kenne ich seine Antwort schon. Lee, die sich gerade angeregt mit ihren Eltern unterhält, hat mir erzählt, wie sie zusammen vor dem Klavier gesessen haben.
„Ich bin etwas aus der Übung. Seitdem ich auf dem College bin, bekomme ich selten die Gelegenheit. Es ist trotzdem das Erste was ich mache, wenn ich zuhause in Woodhill bin." Er greift über den Tisch und bedient sich an der Schüssel mit Pilzen. „Wie habt ihr beiden euch eigentlich kennengelernt?", fragt Hank.
Ich brauche nicht lange zu überlegen. „Lee hat in meinen Kurs gewechselt und saß neben mir. Geredet haben wir aber nicht wirklich. Ich bin ein Patient ihrer Chefin, deswegen sind wir uns in der Praxis wieder über den Weg gelaufen. Seitdem verstehen wir uns relativ gut."
Hank legt seinen Kopf schief und lächelt skeptisch. „Ich habe keine Ahnung was du mit meiner Schwester angestellt hast, aber wenn es daran liegt, dass ich euch relativ gut versteht, dann mach weiter damit und höre nicht auf."
Ich verschlucke mich am Steak und versuche meinen Hustenanfall geschickt hinter einem Räuspern zu verstecken. Dan hat dasselbe zu mir gesagt.
Ich blicke ihn fragend an. „Was meinst du damit?" Lee hat gerade das Gespräch mit ihren Eltern beendet und scherzt mit ihrer kleinen Cousine Emma. So gelassen und losgelöst habe ich sie selten gesehen. Ich dachte bis jetzt, dass sie jedes Mal bei ihrer Familie so glücklich ist.
Hank lehnt sich ein stück weiter zu mir, damit die restlichen Gäste nichts von unserem Gespräch mitbekommen.
„Bro, seitdem das Foto von ihr veröffentlicht wurde hat sie sich von allen zurückgezogen. Bis vor kurzem hat sie niemanden an sich herangelassen, damit sie keiner mehr so verletzen kann wie ihr Ex es getan hat. Lee hat sich selbst von mir und unseren Eltern entfernt. Klar, sie hat ab und zu angerufen aber sie wirkte immer angespannt. Ihre Leben bestand aus Partys, Sex und oberflächlichen Freundschaften." Seine Augen gleiten für wenige Sekunden in ihre Richtung. Ein trauriger Ausdruck macht sich auf seinem Gesicht breit. „Ich will nicht behaupten, ein Unschuldsengel oder besser zu sein, aber ich handle nicht nach der Devise: Lebe, als wäre es dein letzter Tag. Mom und Dad haben lange darunter gelitten, aber heute scheint sie wie ausgewechselt zu sein. Sie lacht, scherzt und unterhält sich mit allen Anwesenden. Die Lee, die ich bis vor einigen Wochen gekannt habe, wäre spätestens nach Zwei Stunden in ihr Zimmer gegangen um sich zu verstecken. Du hast mir meine alte Schwester zurückgebracht." Ich bin sprachlos. Ist das wahr? Wenn ja, muss es nicht unbedingt an mir liegen. Als könnte er meine Gedanken lesen klopft er mir auf die Schulter. „Im Ernst. Danke."
Das restliche Essen bin ich in meine Gedanken versunken. Lee scheint es bemerkt zu haben, lässt es dennoch unkommentiert, wofür ich ihr sehr dankbar bin. Mittlerweile wird es dunkel und nur noch einzelne Leute bedienen sich am Buffet. Die anfängliche Popmusik hat zu langsamen, gefühlvollen Liedern gewechselt und immer mehr Paare versammeln sich auf der improvisierten Tanzfläche.
Shit. Ich habe Mrs. Mayfield einen Tanz versprochen. Ehrlich gesagt bin ich gerade nicht in Stimmung. Meine Angstzustände sind heute Abend nicht ausgebrochen und ich fühle mich überraschend wohl zwischen all den Körpern und Gerüchen.
„Kommst du mit?" Lee legt eine Hand auf meinen Unterarm. Mein Körper nimmt ihre Berührung natürlich in Sekundenschnelle Wahr und meine Haare stellen sich auf. Verräterischer Körper.
„Wohin?", frage ich, ahne aber worauf sie anspielt.
„Tanzen natürlich." Lee stahlt mich wieder an, weswegen ich nicht nein sagen kann. Ich gebe ein Brummen von mir, obwohl ich mich irgendwie doch freue, sie gleich in meinen Armen zu halten. Es ist ein Unterschied, ob ich mit einer Siebzig Jahre alten Rentnerion oder mit einem heißen Mädchen tanze, die mein Herz außer Takt schlagen lässt.
Lee zieht mich an der Hand hinter sich her und wir mischen uns unter die restlichen Tanzpaare. Es läuft ein langsames und gefühlvolles Lied, das mir bekannt vorkommt. Meine Hände zittern leicht, aber ich vergrabe sie schnell auf ihren Hüften, damit Lee von meiner erbärmlichen Reaktion nichts mitbekommt. Ihre Hände umschließen meinen Nacken und nach kurzem Zögern vergräbt sie ihr Gesicht in meiner Brust. Hoffentlich hört sie meinen rasenden Herzschlag nicht, das wäre verdammt peinlich. Unsere Körper sind dicht aneinander, ich kann ihr Becken an meinem spüren und ihre Brust drückt sich gegen meinen Bauch. Könnte ich ihr noch näher kommen, hätte ich die Distanz schon längst überwunden, es passt jedoch kein Blatt mehr zwischen uns. Ihr Duft, nach frischem Pfirsich, steigt mir in die Nase. Es ist mein Lieblingsduft. Wir wiegen uns zum Takt der Musik, wie es die restlichen Tanzpaare machen. Über unseren Köpfen Leuchten die Lampions in einem warmen Orange und zusammen mit den Lichterketten beleuchten sie die Kulisse. Es ist bereits spät doch die Sommerwärme ist nur wenig gesunken, sodass ein warmer Luftzug über meine Haut weht. Ich rede mir ein, dass die Brise für meine Gänsehaut verantwortlich ist.
Die darauffolgenden Lieder sind ebenfalls ruhig. Die Minuten vergehen wie im Sturzflug. Irgendwann, mitten im Song, lehnt sich Lee nach hinten und schaut mir direkt in die Augen. Worte sind überflüssig, wenn Blicke für sich selber sprechen. Ihre Hände wandern langsam zu meiner Brust und krallen sich in mein schwarzes Shirt, als müsste sie sich an mir festhalten um nicht zu fallen. Ihre Augen spiegeln, soweit ich es erkennen kann, eine Mischung aus Verwirrung, Zuneigung und... Verlangen wieder. Wie vorhin in ihrem Zimmer wird mein Mund trocken und ich schnappe flüchtig nach Luft, die mir bei ihrem Anblick ausgeht. Das ist falsch, aber es fühlt sich richtig und echt an. Das Lied endet und damit auch der Moment. Blinzelnd betrachtet Lee die Umgebung und weicht geschickt meinem Blick aus.
„Lee, ich.." Weiter komme ich nicht, denn im selben Moment greift eine definierte Hand nach ihrer Schulter. Hank steht hinter ihr und schlingt seinen rechten Arm um ihre Hüfte.
„Hoffentlich störe ich nicht, aber ich hoffe auf einen Tanz mit meiner allerliebsten Schwester." Doch, du störst. Verzweifelt schaue ich nach links und blicke direkt in ein faltenreiches Gesicht. Na toll, besser gehts nicht. Mrs. Mayfield bahnt sich ein Weg zwischen den Gästen zu uns durch.
„Mein Junge, Sie haben mir einen Tanz versprochen." Ehe ich mich versehe, werde ich am Handgelenk gepackt und auf die Tanzfläche gezogen. Köpfe und füllige Körper versperren meine Sicht auf Lee. Mir bleibt wohl oder übel nichts anderes übrig, als mit der alten Frau zu tanzen.
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