꧁26꧂
„Hier bin ich Zwölf Jahre lang zur Schule gegangen. Dad ging auch auf die Woodhigh. Seit Generationen lebt unsere Familie in dieser kleinen Stadt", erkläre ich Henry, als wir an meiner alten Highschool vorkommen. Wir sind bereits eine halbe Stunde durch die Stadt gefahren. Ich habe ihm meine Lieblings Bibliothek gezeigt, in der ich mit Sechzehn ausgeholfen habe, den Marktplatz mit der kunstvoll bemalten Kirche und weitere Sehenswürdigkeiten -soweit man sie so nennen darf.
„Lass mich raten," Henry dreht den Duftbaum zwischen seinen Fingern, der am Rückspiegel hängt und den angenehmen Duft von Veilchen verteilt. „du warst eine von den beliebten. Eine Cheerleaderin."
„Stimmt. Aber seitdem das Nacktfoto verschickt wurde und ich mich von Kolder getrennt habe... eher weniger." Ich blicke nachdenklich aus dem Fenster. Dabei nehme ich wahr, wie sich seine Augen verdunkeln und sein Kiefer immer härter wird. Henry zieht seine Mauer nach oben, damit ich nicht sehen kann, wie es hinter seiner Stirn arbeitet. Leider etwas zu spät, denn ich habe diesen wütenden Gesichtsausdruck gesehen. Wut auf meinen Ex. Aber diese Zwei Sekunden haben gereicht.
„Meine alten Freundinnen haben sich von mir abgewandt. Seit dem Vorfall haben sie so getan, als würde ich nicht mehr existieren. Das hat mir das Herz gebrochen. Nochmal. Ella war die Einzige, die zu mir gehalten hat."
Ein kleines Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus. Henry beobachtet mich von der Seite und hört gespannt zu.
„Ohne Ella hätte ich all das nicht überstanden. Die letzten Monate vor dem Abschluss hat sie mich nie alleine gelassen. Sobald die Leute angefangen haben zu flüstern und lachen, ist sie zu ihnen gestürmt und hat ihnen ihre Meinung gegeigt. Ich war zu feige um für mich einzustehen."
Henry greift nach meiner Hand. Seine Finger sind wie immer warm und weich. Reflexartig fällt ein Stück der Last von meinen Schultern, denn Henry ist an meiner Seite geblieben, nachdem ich ihm alles erzählt habe. Womit verdiene ich einen so aufrichtigen... Freund? Freund. Das Wort fühlt sich irgendwie falsch an. Er ist mehr als das. Ich kann es nur nicht benennen.
„Du wars nicht feige und du bist es auch jetzt nicht. Ich will nicht behaupten, dass ich Ella gerne mag, aber ich bin froh zu wissen, dass sie an deiner Seite ist", versucht er mich zu ermutigen. Diese Geste bedeutet mir sehr viel. Zu viel. Es ist lange her, dass sich jemand, ausgenommen von meiner Familie oder Ella und Pete, ernsthaft um mein Wohlergehen geschert hat.
„Danke." Ich boxe ihm spielerisch in die Schulter. „Du kannst Ella also nicht besonders leiden?" Natürlich habe ich mir sowas in der Art schon gedacht. Jeder, der nicht auf beiden Augen blind ist, kann diese negative Spannung zwischen den beiden erkennen. Sie ist beinahe handgreiflich. Ich frage mich, weshalb Ella so wenig von Henry hält? Denn eigentlich hat sie keinen Grund dazu.
Er schaut mich an, als wolle er sagen: Kannst du mir das verübeln? „Naja, sie hat mir nicht gerade Gründe geliefert, sie zu mögen."
So leid es mir auch tut, muss ich ihm zustimmen. Ella macht keinen Hehl daraus, dass sie Henry nicht leiden kann.
„Du hast recht. Sie kennt dich einfach nicht."
„Mhh. Sie muss mich auch nicht unbedingt kennen lernen", erwidert Henry und zuckt gleichgültig mit den Schultern.
„Doch. Wir verbringen viel Zeit miteinander. Ich möchte, dass auch sie bemerkt, wie wundervoll du bist." Seine Augen weiten sich und er läuft leicht rot an. Habe ich das laut gesagt? Ich sollte wohl öfter erst nachdenken, und dann meine Klappe aufreißen. Ich parke das Auto auf dem Parkplatz der Schule und wir steigen aus. „Wir müssen ein kleines Stückchen gehen, um an meinen Lieblingsplatz zu kommen", sage ich.
Wir umrunden die Schule, in der ich einen Großteil meines Lebens verbracht habe. Ich kann nicht schnell genug von hier verschwinden. Zu oft saß ich heulend auf dem Toilettenboden und mich gefragt, wozu ich all das mache. Natürlich habe ich Ella gegenüber dann immer eine falsche Miene aufgesetzt. Dass sie sich Sorgen macht, war das letzte was ich wollte. Mitgefühl hätte alles bloß noch schlimmer gemacht.
Wir gehen an der schmalen Seitenstraße entlang- vorbei an all den kleinen Läden. Die Restaurants sind bis auf den letzten freien Platz besetz, während Kellner von Tisch zu Tisch hechten und Bestellungen aufnehmen. Woodhill ist zwar nicht gerade groß, aber dennoch belebt wie eine Großstadt.
Wir hängen beide in unseren Gedanke. Es ist aber ein angenehmes Schweigen.
Fünf Minuten später stehen wir vor einem Park. Leute gehen hier entlang der Fußgängerwege spazieren, machen Sport oder liegen auf einer Decke im Gras. Weiter hinten spielt eine Familie mit ihrer Tochter fangen und rechts daneben macht eine Gruppe von Sieben Leuten Joga. Die Trainerin war meine ehemalige Sportlehrerin. Schon früher hat sie nebenbei als Jogalehrerin gejobbt.
Die Sonne strahlt stechend auf die Köpfe und ich hoffe ohne Sonnenbrand davonzukommen. Das würde mir noch fehlen!
Wir entfernen uns von der Menschenmasse und gehen einen eng bewachsenen Trampelpfad entlang. Schon vom Weiten erkenne ich das kleine Bootshaus.
„Wir sind da." Ich greife wieder nach seiner Hand und ziehe ihn ins innere. Das Bootshaus ist zum See hin offen. Man kann ihn komplett überblicken und dabei das Geschehen im Park beobachten. Die Sonne spiegelt sich auf dem Wasser, es scheint zu glitzern und funkeln. „Bei Sonnenuntergang ist es noch schöner."
Wir setzen uns dich nebeneinander auf den anliegenden Steg.
„Wow. Es ist atemberaubend schön hier. Wie hast du diesen Ort entdeckt?", fragt Henry.
„Es war Zufall. Mit Neun Jahren habe ich nebenbei Hunde ausgeführt. Eines Tages lief mir einer der Köter davon. Du glaubst garnicht, was für eine Panik ich bekommen habe. Ich habe den Ganzen Park durchsucht, konnte ihn aber nirgends finden. Vor Schuldgefühlen habe ich fast angefangen zu heulen. Ich wollte Mom anrufen. Beim Handy rausholen ist mir die Zweite von Sechs Leinen aus der Hand gerutscht. Wie es das Schicksal wollte ist Köter Nummer Zwei weggelaufen. So schnell ich mit den anderen Hunden konnte, lief ich ihm hinterher. Er führte mich zu diesem Ort, wo zufälliger Weise auch Hund Nummer Eins lag und eine runtergefallene Wurst aß. Von da an, habe ich nie wieder Hunde ausgeführt."
Henrys Körper bebt neben meinem und er lacht aus vollem Halse. Ich würde gerne ein Foto von ihm machen, genau in diesem Moment. Ich boxe ihm leicht in die Seite. „Lachst du mich gerade aus?"
Tränen laufen über seine Wange. „Sorry, aber ich hätte dir gerne dabei zugesehen.", beichtet er, sobald sein Lachen etwas ruhiger wird.
Henrys lachen ist ansteckend.
„Du bist gemein."
Als Antwort bekomme ich lediglich ein Schulterzucken. „Hast du Anschiss bekommen?"
„Nein, zum Glück nicht. Ich habe einfach behauptet, an diesem Tag eine größere Runde gelaufen zu sein." Wir starren beide gedankenverloren auf das Wasser. „Ziehe deine Schuhe aus", befehle ich.
„Was?", fragt Henry unwissend.
„Na los, mach schon. Es ist eine angenehme Abkühlung. Unter anderen Umständen wäre ich komplett reingesprungen, habe ich früher auch immer gemacht, aber da eine Geburtstagsparty auf uns wartet, müssen wir es wohl oder übel verschieben." Ich mache den Anfang und er folgt meinem Beispiel. Sobald das kühle Wasser mit meinen Füßen in Kontakt kommt, gebe ich ein wohliges Stöhnen von mir.
"Das tut echt gut, oder?", frage ich.
„Oh ja.", antwortet Henry. „Erzähle mir noch mehr lustige Geschichten."
„Lass mich überlegen." Mir fallen unzählige, peinliche Momente ein. „Ich hatte genau hier meinen Ersten Kuss."
Er zieht theatralisch die Luft ein. „Ich ahne Schlimmes."
Da liegt er nicht falsch. „Theo und ich waren in der Achten Klasse. Er hat mich um ein Date gebeten, aber ich wollte nichts spektakuläres machen. Erst recht nicht bei einem von uns zu Hause. Also schlug ich vor, uns hier zu verabreden. Als wir hier ankamen war es bereits dunkel." Ich schaue zu Henry hinüber. „Im Ernst. Du glaubst mir nicht wie schrecklich dieses Date war. Er hat die ganze Zeit nur von sich geredet. Wenn ich etwas erwidern wollte ist er mir sofort ins Wort gefallen. Nebenbei schrieb er die Ganze Zeit mit seinen Kumpels und ignorierte mich. Irgendwann hat er mich einfach aus dem nichts geküsst. Es war ein feuchter, ekelhafter Kuss. Zwischen uns war kein Knistern, kein Kribbeln im Magen und bestimmt kein Verlangen nach Mehr. Wenn ich mich abwenden wollte kam er näher." Ich seufze. „So habe ich mir meinen Ersten Kuss bestimmt nicht vorgestellt. Seitdem war ich mit keinem Kerl mehr hier, ich hatte Angst, dass der Ort für immer schlechte Küsse mit sich bringen würden."
Henry lacht, dieses Mal etwas leiser. „Du bist doch gerade mit mir hier. Bricht das nicht deine Regeln?"
Bevor ich nachdenke, antworte ich. „Glaube mir, du kannst definitiv gut küssen."
Verdammt. Ich beiße mir auf die Lippe, doch die Worte sind raus. Warum kann ich nicht einfach meinen Mund halten?
Er starrt mich an. Eine leichte Röte liegt auf seien Wangen.
„Ach echt?" Wieder überrascht mich seine lockere Art. Ein Lächeln umspielt seine Lippen „Dann ist dieser Ort wohl nicht verflucht." Unsere Gesichter sind bloß wenige
Zentimeter voneinander entfernt. Meine Augen mustern sein Gesicht, bleiben dabei an seinen vollen Lippen hängen. Genau jetzt will ich ihn küssen.
„Ich weiß nicht. Lass es uns testen." Mehr brauche ich nicht sagen. Henry überbrückt die Entfernung zwischen uns, sodass keine Faust mehr zwischen uns passt.
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