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Ich lag die halbe Nacht rücklings auf meinem Bett und habe die Decke angestarrt. Es ist so viel an diesem Abend geschehen, dass der Gedanke an Schlaf komplett irrsinnig ist.
Erst Maja, die offensichtlich Interesse an Henry gezeigt hat und dann das plötzliche verschwinden von ihm, das mich verrückt vor Sorgen gemacht hat. Anschließend Brian, der sonst was mit mir angestellt hätte, wenn Henry nicht dazwischen gegangen wäre. Zu guter letzt habe ich Henry meine Geschichte anvertraut, ohne von ihm verachtet, verurteilt oder anders behandelt geworden zu sein. Anstatt abgeneigt in die entgegengesetzte Richtung zu stürmen hat er mit mir geflirtet!
Glaube mir, es ist besser so. Sonst kann ich mich nicht davon abhalten, Dinge zu tun, die wir morgen bereuen werden.
Wie auf Knopfdruck schießt mir eine kribbelige Wärme durch den Körper. Krass was Worte alles anrichten können. Ich verdränge die Gedanken, die um Henry kreisen und beschließe zur Beruhigung ein paar Kapitel in Stolz und Vorurteil zu lesen. Es ist die neuere Ausgabe, die mir Henry zugesteckt hat, nachdem ich ihm das alte Buch zurückgegeben habe. Es sieht gepflegter und neuer aus. Mir steigt der angenehme Geruch des Buches in die Nase. Das Gefühl der dünnen Buchseiten zwischen meinen Fingern, erinnert mich an Zuhause. An Woodhill.
Wie oft habe ich dieses Werk von Jane Austen innerhalb eines Tages verschlungen? Zu oft. Es war eine Art Ausweg aus meinem Alltag. Ich bin regelrecht in die fiktive Welt geflohen, um mich nicht mit meinen Problemen auseinandersetzten zu müssen. Größtenteils hat es auch funktioniert. Deshalb verbinde ich auch so viel mit diesem Buch.
Ich fange im Ersten Kapitel an zu lesen. Die bekannten Worte müsste ich bald auswendig können. Bereits auf den Ersten Seiten stolpere ich über gelb markierte Zeilen. Verwundert blättere ich weiter. Auch auf den nächsten Seiten sind Zitate markiert, die noch nicht vorhanden waren, als ich es das Erste mal in Henrys Wohnung in der Hand gehalten habe. Um mich zu vergewissern, ob ich nicht doch wieder die falsche Ausgabe in meinen Fingern halte, drehe ich das Buch um. Es ist definitiv die neuere Version.
Henry muss also die Sätze markiert haben, nachdem ich vor 3 Wochen bei ihm war. Dieses Mal sind es keine Textstellen, die einem das Herz brechen und von inneren kämpfen erzählen. Es sind ähnliche Zitate, wie auch ich sie in meiner abgenutzten Ausgebe in Woodhill festgehalten habe. Sie sprechen über tiefe Gefühle und Sehnsüchte. Mein Herz setzt einen Schlag aus und Aufregung macht sich in mir breit. Es gibt fast keinen besseren Weg, näheres über eine andere Person zu erfahren als über markierte Textzeilen. Ohne Plan schlage ich willkürliche Seiten auf.
Vergebens habe ich dagegen angekämpft. Es geht einfach nicht. Meine Gefühle lassen sich nicht unterdrücken. Sie müssen mir gestatten ihnen zu sagen, wie glühend ich sie verehre und liebe.
Wie oft habe ich diese Worte schon gelesen und bin dabei mit meinen Fingern über die pinke Textmarkerfarbe gefahren? Oft. In meinem Zimmer war früher alles rosa. Mein Bruder hat mich damit immer aufgezogen, doch ich stand zu dieser Farbe. Kolder fand es auch hübsch. Einer der Gründe weshalb meine Wände weiß überstrichen wurden.
Ich sollte dir sagen, dass du mich ganz und gar verzaubert hast und dass ich dich liebe, liebe, liebe.
So schöne Worte haben es einfach verdient nicht in Vergessenheit zu geraten.
In Liebesdingen sind wir alle Närrinnen.
Wieder frage ich mich, was Handy sich dabei gedacht hat. Ich stelle mir vor, wie er auf mit seinem Textmarker in der Hand auf dem Bett liegt und grübelt, welche Textstellen am ehesten auf ihn zutreffen. So erging es mir jedenfalls.
Du musst wirklich wissen, das alles war für dich.
Auf der Innenseite des Buchrückens sind Drei per Hand geschriebene Zitate notiert mit der Überschrift: Zu schade zum Vergessen.
Dieselben Worte, die ich vor wenigen Minuten gedacht habe. Ich weiß nicht weshalb, doch hinter meinen Augen baut sich ein Druck aus, den ich versuche zu verdrängen. Kolder hat nie verstanden, was Literatur für mich bedeutet. Er hat sich sogar darüber amüsiert, dass ich in Büchern Passagen markiere. Warum vergleiche ich meinen Ex mit Henry? Ich blicke wieder auf die handgeschriebenen Worte. Es ist definitiv Henrys Handschrift.
Dieses Mal haben die Zitate nichts mit Stolz und Vorurteil zu tun, sind aber dennoch aus Jane Austens anderen Werken.
Du durchbohrst meine Seele. Ich bin eine halbe Qual, eine halbe Hoffnung... Ich habe nur dich geliebt.
Mein Herz ist, und wird immer deins sein.
Liebe ist Musik der Seele.
Bei dem letzten Zitat muss ich an Henrys Kompositionen denken, stöpsle mir die Kopfhörer in die Ohren und denke über ihn nach. Meine Augenlieder werden schwer und ich verfalle in einen angenehmen Schlaf. In Gedanken bin ich jedoch bei nichts Anderem.
„Hast du deinen Rausch ausgeschlafen?", fragt mich Henry neckisch, sobald ich mit meinem Auto vor seiner Wohnung zum stehen komme. Er öffnet die Beifahrertür und lächelt mir schadenfroh entgegen. Er trägt eine tiefsitzende Bluejeans im 80's Style mit einem teuer aussehendem Hoodie und seinen Airforce. Ich vergesse immer wieder, wie reich seine Familie ist, denn er prahlt nicht mit seinem Wohlstand, wie die meisten anderen Studenten es tun würden. So ist er nicht und er hat es auch nicht nötig, es gefällt mir. Ich erinnere mich peinlich daran, dass er mich etwas gefragt hat und versuch gleichzeitig meine Sprachlosigkeit zu überspielen.
„Sehr witzig, Sunnyboy." Er setzt sich neben mich und sein Geruch steigt mir in die Nase.
„Noch kann ich dich hier lassen."
Er prustet los und verschließt spielerisch mit seinen Fingen den Mund.
„Einverstanden." Sein Blick wird ernster. „Aber jetzt mal im Ernst. Ist bei dir alles in Ordnung? Ich könnte verstehen wenn nicht." Seine Sorge berührt mich. Aber es geht mir gut. Nach der Sache mit Brian war ich echt fertig aber heute Morgen habe ich mich zusammengerauft und beschlossen, dass ich ihm den Sieg nicht gönne, wenn er das kommende Wochenende versaut, indem ich schlechte Laune habe. Ich sollte fröhlich sein.
„Es geht mir wirklich gut." Außerdem ist mir dank Henry nichts zugestoßen. Wenn ich daran denke, was Brian mit mir angestellt hätte, stellen sich meine Armhaare auf. Ich bin so schon kein Fan von Berührungen, doch bei Brian nimmt diese Abneigung ein tiefergehendes Ausmaß an.
„Ich wollte mich eh nochmal bei dir bedanken. Gestern war ich nicht im Zustand irgendwas anständiges von mir zu geben. Wirklich, ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte."
Er legt seinen Kopf schief und umfasst meine Hand mit seiner. „Unsinn. Erstens, du hast dich schon bedankt und Zweitens, ohne mich wärst du garnicht erst in diese Situation gekommen."
„Lass uns nicht über Gestern diskutieren sondern über Heute. Meinst du wirklich, dass du bereit bist zu fliegen? Noch kannst du einen Rückzieher machen" Seine warme Hand liegt noch immer auf meiner und mit seinem Daumen zieht er Kreise über meine Haut. Wahrscheinlich ist er sich dessen nichtmal bewusst.
„Ich werde es schaffen. Ich erlaube dir sogar mich K.O. zu schlagen, falls ich hysterisch werde."
„Ernsthaft? Ich würde aufpassen was du sagst, sonst komme ich darauf zurück."
„Ja. Ernsthaft." Die Sonne erhellt sein Gesicht und lässt es Karamellartig leuchten. Wie passend.
Heute ist ein sehr warmer Tag. Ich habe mich extra ein wenig mit Sonnencreme eingerieben. Leider bekomme ich schnell Sonnenbrand und das möchte wirklich niemand sehen.
Der Motor meines Autos brummt auf und ich fahre Richtung Highway. Bis zum Flughafen sind es ungefähr 40 Minuten. Sobald ich abbiege lehnt sich Henry vor und schaltet das Radio an. Es läuft ein neuer Song von Selena Gomez, den ich gerne höre. Henry hingegen stöhnt genervt auf.
„Was?", frage ich. „Sag mir nicht, dass du Selena Gomez nicht magst. Ich dachte sie wäre eine der Frauen, die in jeder männlichen Fantasie umher schwirrt."
„Pff. Ihre Musik ist nichts besonderes. Ohne Autotune hörst du dich bestimmt genauso an."
Ich pruste los. „Ich bin mir unschlüssig ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung war."
Henry fährt sein Fenster runter und hält seine Hand in den frischen Fahrtwind.
„Das war... ein Kompliment. Ich habe dir letztens im Auto zugehört. Deine Stimme würde nicht schlecht klingen, wenn du dich anstrengst."
Ich lache auf. „Das bezweifle ich." Meine Stimme ist wirklich nicht gerade engelsgleich. Ella hingegen hat eine weiche und schöne Stimmenfarbe. Wenn es mir früher schlecht ging, hat sie mir unsere Lieblingslieder vorgesungen. Seitdem wir Teenager sind, scheut sie sich vor mir zu singen. Ella behauptet, ihr Gesang sei grottenschlecht. Insgeheim denke ich, dass ihr bewusst ist, wie schön ihre Stimme klingt. Neben mir fängt Henry an mitzusingen. Eine solche Chance lasse ich mir bestimmt nicht vergehen, ich steige mit ein und den Rest der Fahrt singen und reden wir über alltägliche Sachen. Unsere Lieblingssongs und Filme. Welches Lieblingsgericht besser schmeckt und welche Campusgerüchte am verrücktesten klingen. Henry scheint aufmerksam zu sein, denn er kennt so viele Storys über Kommilitonen, die selbst Ella nicht kennt. Anscheinend reden die Leute mehr, wenn sie denken ein- wie Henry es ausdrückt- „Freak", stünde neben ihnen.
Hannah, eine reiche, eingebildete Mitschülerin, die mehr Nagellacke als Gehirnzellen besitzt, war im Mai wegen eines Quickies schwanger. Sie hat das Baby abgetrieben und lebt seitdem unter Abstinenz.
Serena, eine Streberin, der ich einmal auf einer Party über den Weg gelaufen bin, dachte, sie hätte beim Glücksspiel Geld gewonnen. Wie das Schicksal es will, ist sie groß Shoppen gegangen. Später stellte sich raus, dass sie überhaupt nichts gewonnen hat, außer eine Vierstellige Rechnung.
Am Flughafen angekommen, entdeckten wir einen Starbucks, den wir sofort anvisierten um uns einen Karamell Macchiato zu kaufen. Die Schlange war lang und die Menschen liefen gestresst durch die Gänge. Geschrei von Kindern, Lautsprecherdurchsagen und das Geräusch von Schritten dringt in meine Ohren.
Wir sitzen im Flugzeug nicht nebeneinander, was eigentlich klar sein sollte, weil wir auch nicht zusammen gebucht haben. Henry sitzt eine Reihe schräg vor mir. Neben ihm sitzt ein Mädchen in unserem Alter, die mit ihrem Vater Urlaub machen möchte. Sie ist hübsch, fällt mir auf. Sie hat braune Rehaugen, einen süßen Pony und lange, rote Haare. Sie trägt ein weißes sommerliches Kleid mit Blumen. An mir würde es kindisch aussehen, ihr hingegen steht es perfekt. Mir wird so eben klar, wie gut sie zusammenpassen würden. Sie sieht unschuldig aus. Ich hingegen nicht. Autsch, mir wird schlecht.
Die nächste Stunde werde ich wohl damit verbringen müssen, ihnen beim Lachen und Reden zuzuhören. Sehr schöne Aussichten. Meine Laune fällt soeben in den Keller. Mein Sitznachbar ist ein Mitte fünfzigjähriger Griesgram, der nicht ein Wort mit seiner Ehefrau wechselt. Toll.
Die Situation erinnert mich an die Studentenparty. Henry mit Maja zu sehen, schmerzte genauso, wie ihn mit der rothaarigen Schönheit zu sehen. Ich krame meine Kopfhörer aus dem Rucksack, denn ich habe keine Lust dieses Schauspiel schräg neben mir, weiter zu verfolgen.
Es schmerzt noch mehr, nicht eines Blickes gewürdigt zu werden. Anfangs hatte ich Angst, dass er eine Panikattacke bekommen würde. Pff. Jetzt wohl eher Herzchenaugen.
Auch wenn es kindisch und unnötig ist: Ich mag sie nicht. Die Lautstärke meines Handys drehe ich voll auf. Bestimmt dröhnen die Bässe bis zu meinem Sitznachbarn hinüber. Beschweren tut er sich jedoch nicht.
Fünfundvierzig Minuten später landet das Flugzeug. Ich kann nicht schnell genug aussteigen. Ohne Henry zu beachten, stürme ich mit meinem Rucksack aus dem Flieger und ziehe eine Handvoll Blicke auf mich. Soll er doch alleine rausfinden.
Auf dem Weg zum Ausgang greift eine Hand nach meinem Handgelenk. „Hey, warte. Was ist mit dir los?", fragt Henry.
Was mit mir los ist? Wut steigt in mir auf.
„Du hast..." Shit. Was hat er überhaupt falsch gemacht. Augenblicklich schäme ich mich über mein kindisches Verhalten.
Seine rechte Augenbraue wandert nach oben und sein blick ist eine Mischung aus Verwirrung und...Erheiterung. Findet er die Situation etwa witzig? „Ich habe was?"
Ich finde keine akzeptable Antwort, also muss ich ablenken. „Egal, ich habe einfach nicht viel geschlafen. Wir müssen unseren Mietwagen abholen." Er gibt ein genervtes Stöhnen von sich und folgt mir zum Ausgang.
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