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„Du siehst schrecklich aus." Ich drehe mich um und sehe Henry auf mich zukommen. Heute ist ein warmer Tag. Man merkt, dass der Juli im vollen Gange ist. Ich trage die neue Jeans, die ich mir gestern gekauft habe und ein Top mit Jäckchen. Henry trägt einen stylischen Hoodie den er hochgekrempelt hat und seine definierten Arme zur Geltung bringt. Zusammen mit der Bluejeans und den AirForce sieht er total gut aus. Er hätte schon früher solche Kleidung tragen sollen, anstelle dieser augenkrebs erregenden Sachen. Und wofür auch? Damit ihn niemand anspricht? Wie dumm.
„Danke, charmant wie eh und je", erwidere ich und ziehe ihn zur Eingangstür des Cafés. Doch wo er Recht hat, hat er Recht. Die letzte Nacht war kräftezehrend und lang. Sehr lang. Es war eine dieser Nächte, in denen ich zurück nach Woodhill zu Kolder teleportiert wurde. Ich lag die ganze Nacht wach in meinem Bett und habe mich von der einen Seite zur Anderen gewälzt. Sobald meine Augen zufielen, erlebte ich den schlimmsten Tag meines Lebens erneut. All die gehässigen Gesichter meiner Mitschüler und die Mitleidigen Blicke der Lehrer.
Also habe ich einen Film geguckt und bin doch noch eingeschlafen. Keine Zwei Stunden später hat mich der Wecker aber wieder aus dem unruhigen Schlaf gerissen.
„Schlechte Nacht gehabt?", fragt mich Henry, doch sein linker hochgezogener Mundwinkel und der erkenntnisvolle Ausdruck auf seinem Gesicht, verriet mir, dass er die Antwort bereits erahnt.
„Geht schlechter", antworte ich schulterzuckend. Wir treten an den Tresen und warten darauf, unsere Bestellung aufnehmen zu können. Der Gedanke an Kaffee lässt das Wasser in meinem Mund zusammenlaufen. Es ist genau das, was ich jetzt brauche. Und zwar schnell.
„Hast du schon einen Liedtext geschrieben?", versuche ich stattdessen vom Thema abzulenken.
„Noch nicht. Bisher hat mir die Zeit gefehlt. Ich habe mir vorgenommen, nach dem Geburtstag deiner Mutter anzufangen."
Der Barista nimmt unsere Bestellung auf und weist uns an, am anderen Ende des Tresens auf die Becher zu warten.
„Apropos deine Mom. Was genau könnte ich ihr schenken?"
Ich habe selber erst gestern das Geschenk für Mom besorgt. Geplant war eigentlich Bücher für die Uni zu kaufen, bin dann aber in den Klamottenläden hängen geblieben. Neben meiner Hose habe ich noch weitere Teile gekauft, für die ich mein Geld die letzten Monate gespart habe. In der größten Buchhandlung der Stadt habe ich für Mom einen E-reader gekauft. Ich habe ihr extra bereits Bücher installiert, die sie nur noch runterladen muss.
„Sie liebt Krimis, Duftkerzen und alles für den Garten, hassen tut sie Küchengeräte und andere Haushaltssachen. Glaube mir, ich habe diese Fehler bereits zu oft gemacht."
Henry lächelt breit und reicht mir meinen Kaffe.
„Gut zu wissen. Bei Geburtstagsgeschenken war ich noch nie kreativ. Nicht dass ich oft die Möglichkeit hatte etwas zu verschenken um jemandem eine Freude zu bereiten, aber wenn, dann gab es für Mom immer eine Bluse und Dad bekam ein Buch von mir."
Henrys Hand streift meinen Rücken, um mir anzuweisen das Lomo zu verlassen. Der kleine Streifen nackte Haut zwischen Hosenbund und Shirt nimmt jede Berührung wahr und die Härchen stellen sich blitzschnell auf. Bitte lass ihn nicht bemerken, was er mit seinen Berührungen anstellt. Er ist ruhiger als vor einigen Wochen als wir uns das Erste Mal begegnet sind. Sein Körper ist immer noch verspannt und die Bewegungen ungeschickt, dennoch spüre ich von ihm keine Panik oder Angst ausgehen. Was genau ihm wohl geholfen hat?
Wir gehen nebeneinander zum Gebäudekomplex der Literaturkurse. Auf dem Weg werde ich von einigen Leuten angesprochen, jedoch versuche ich sie einfach zu ignorieren.
„Was hat dich dazu gebracht, entspannter in Gegenwart von fremden Menschen zu sein?" Ich kann die Frage einfach nicht länger zurückhalten.
„Deine Tipps und Anwesenheit." Er überlegt garnicht erst. Henry antwortete in sekundenschnelle, als würden wir übers Wetter reden. „Ich versuche die Menschen um mich herum auszublenden, meine Muskeln zu entspannen und mich abzulenken. Es hilft mir ironischerweise wenn ein Freund bei mir ist. Es verleiht mir... Stärke."
„Klingt, als würden wir bereits kleine Fortschritte machen. Ich freue mich", sage ich euphorisch.
„Danke. Für alles. Ich weiß garnicht, wie ich mich revanchieren kann."
„Doch, das weißt du. Den Job bei deinem Vater."
„Ich habe mich schon bei ihm gemeldet. Er möchte, dass ich ihm deine Unterlagen zukommen lasse." Abrupt bleibe ich stehen. Wann hat er das gemacht?
„Sage das bitte nochmal", fordere ich Henry überrascht auf.
Henry kann sein Schmunzeln nicht unterdrücken. „Ich soll ihm deine Unterlagen schicken. Du hast den Job so gut wie in der Tasche. Ich habe dich in hohen Worten gelobt. Er war schon am Telefon von dir begeistert."
Der heutige Tag gehört definitiv zu meinen Besten. Es war schon immer mein Traum, in der Verlagsbranche zu arbeiten und nun ist er zum Greifen nahe.
Ich fange an vor Glück leise zu kreischen, sodass nur Henry es hören kann. Ich werfe meine Arme um ihn und drücke ihn so fest ich kann. Mir steigt sein Geruch von Jasmin und Aftershave in die Nase, der mich sofort wohlfühlen lässt. Ich spüre wie sich sein Herzschlag erhöht, in der selben Sekunde wie meiner. Am liebsten würde ich ihn nicht mehr loslassen, was so garnicht zu mir passt.
„Danke, Henry", murmle ich an seine Brust. Wider meines Willens lösen wir uns voneinander, er legt seine Hände auf meine Hüften und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Ich bin überrascht von dieser liebevollen Geste. Dieser freundschaftliche Kuss von Henry setzt meinen ganzen Körper unter Strom.
„Wir sollten in den Kurs gehen", flüstert Henry an mein Ohr und ich spüre seinen warmen Atem. Meine Beine werden weich und jedes gottverdammt Haar auf meinem Körper stellt sich auf. Er löst sich von mir und geht in den Seminarraum. Perplex bleibe ich auf dem Fleck stehen und bin nicht in der Lage auch nur einen Schritt zu machen. Das einzige, was darauf hinweist, dass Henry nur halb so entspannt ist, wie er gerade vorgibt sind seine verkrampften Schultern.
Ich gehe hinterher und lasse mich neben ihn und Peter auf den unbequemen Stuhl fallen.
„Ich bin immer noch sauer", sagt Peter, beugt sich zu mir rüber und drückt einen Kuss auf meinen Scheitel. Nichts. Ich fühle rein gar nichts. Henry versteift sich auf seinem Platz und wirkt nervöser als vorher.
„Dir auch einen schönen Morgen. Weil du mit uns Ein ganzes halbes Jahr gucken musstest? Komm drüber hinweg."
„Nein, nicht deswegen. Ihr habt mich gezwungen, indem ihr meine Schwäche ausgenutzt habt. Ihr hättet niemals erfahren sollen, wie kitzelig ich bin." Sein Blick ist fest auf mich gerichtet.
„Nächstes mal darfst du den Film aussuchen. Versprochen." Er zieht die rechte Augenbraue hoch, als bezweifle er die Ernsthaftigkeit meiner Worte. Zugegeben, es sind meistens Ella und Ich, die über den Film entscheiden. Wegen unserer Vorliebe für Romanzen, muss Peet oft einstecken. Trotzdem trifft er sich jedes Mal aufs Neue mit uns, auch wenn ihm klar ist, was ihm bevorsteht. Insgeheim glaube ich ja, dass er die Filme nur halb so schrecklich findet, wie er jedes Mal behauptet.
„Wirklich. Du hast die freie Wahl. Leider müssen wir den Filmabend auf das Nächste Wochenende verschieben."
„Das merke ich mir." Peet steckt sich seinen Stift hinters Ohr, womit er irgendwie niedlich aussieht.
Henry bemüht sich nicht, am Gespräch teilzunehmen. Unsere Professorin betritt im selben Moment den Raum, als Henry etwas zu mir sagen wollte, verstummt allerdings und blickt konzentriert nach vorne. Mrs. Scott tritt an ihr Pult und bindet sich einen unordentlichen Dutt auf dem Kopf zusammen. Sie ist meine Lieblings Professorin. Bisher hat sie uns in keiner Stunde herablassend oder hochnäsig unterrichtet. Im Gegenteil. Sie behandelt uns wie gleichgestellte, beinahe wie ernstzunehmende Kritiker.
„Guten Tag. Ich hoffe Sie hatten alle ein schönes Wochenende und haben ein Buch gelesen." Sie kommt um's Pult herum und setzt sich auf die Ecke eines Tisches. „In der heutigen Stunde behandeln wir das Thema: Veränderungen. Veränderungen finden Sie überall. Sie begegen ihnen im Alltag, manchmal nehmen Sie sie garnicht wahr, da sie so klein und präzise sind. Sei es ein neuer Sitznachbar, ein anderer Kaffe als sonst oder ein anderer Laufweg."
Sie steht auf und geht mit kleinen Schritten von Links nach rechts. „Wir nehmen sie nicht wahr und denken nicht länger an diese Veränderung. Doch stellt euch vor ihr hättet euren normalen Kaffe wie jeden Tag getrunken, dessen Zubereitung länger dauert. Ihr würdet länger warten und in dieser Zeit kann eine Menge passierten. Ihr könntet in dieser Zeit jemand neues Kennenlernen indem ihr angerempelt werdet oder ihr kommt zu spät in den Unterricht und müsst mit den Folgen leben." Ihre Schritte verklingen. Die Stille im Raum hätte nicht leiser sein können. „Was ich euch sagen möchte ist folgendes: Alles was passiert, jede Veränderung im Alltag, baut sich aufeinander auf und passiert nur, weil es durch eine vorherige Tat eingeleitet wurde. Der Schmetterlingseffekt. Er äußert sich dadurch, dass nicht vorhersehbar ist, wie sich beliebig kleine Veränderungen des Systems langfristig auf die Entwicklung des Systems auswirken. Habt ihr schon einmal ein Flügelschlag eines Schmetterlings gespürt? Ich nicht. Aber es ist dennoch möglich, dass genau dieser eine Flügelschlag der Auslöser für einen Orkan war, da dieser Windhauch gefehlt hatte. Jede minimale Veränderung kann zu einem komplett anderen Ergebnis führen." Ich muss über ihre Worte etwas länger nachdenken, um sie zu verstehen. „Ich möchte von euch in 3 Wochen einen Aufsatz über eine Veränderung aus eurem Leben erhalten. Eine kleine Veränderung, die euer ganzes Leben verändert hat, doch wenn euch jemand fragen würde, was der Auslöser war und ihr Antwortet, soll diese Person denken: Das hat ein komplettes Leben verändert? Werdet kreativ und überrascht mich."
Die restlichen Minuten bis Stundenende erklärte sie uns Näheres zum Thema Veränderungen und gab uns dabei Hilfe, einen Ansatz für den Aufsatz zu finden. Trotzdem fällt mir beim besten Willen kein Thema ein, über das ich schreiben möchte. Kolders Gesicht schwebt vor meinem inneren Auge herum, aber ich habe mit ihm Abgeschlossen und werde nicht über ihn schreiben. Das möchte ich nicht. Anderseits, worüber soll ich stattdessen schreiben? Ich habe noch 3 Wochen Zeit bis zum Abgabetermin. Ich brauche mir also kein Stress mache. Es klingelt und alle Studenten packen ihre Sachen zusammen. Die Ersten stürmen bereits wenige Sekunden später in die Flure, als hatten sie die Minuten gezählt, um endlich zu verschwinden.
„Habt ihr schon eine Idee, für euren Aufsatz?" Peters Frage richtet sich an Henry und mich.
„Ich habe nicht den geringsten Funken einer Idee.", antworte ich ehrlich. Die Verzweiflung muss mir deutlich anzusehen sein.
„Und du Henry?", fragt Peet.
Anstatt Peter anzuschauen, sind Henrys Augen starr und nachdenklich auf mich gerichtet. Ich kam mir vor, als würde ich nackt vor ihm stehen. Als könnt er in mein Inneres schauen und mich verstehen. Mein Atem Stockt.
Ohne sich abzuwenden antwortet er.
„Ich fange heute an." So schnell wie dieser komische Moment gekommen ist, hat er auch sein Ende gefunden. Henry räuspert sich, haut Peter freundschaftlich auf die Schulter und geht rückwärts zum Ausgang. „Ich muss los, wir sehen uns Leute."
Er dreht sich um und verschwindet aus der Tür, darauf bedacht, den Leuten nicht zu nahe zu kommen.
„Was war das?" Peet scheint nicht minder überrascht zu sein. „Der Typ hat dich gerade regelrecht mit seinen Augen ausgezogen. Wie heißt es so schön? Die schüchternsten sind die wildesten."
Mein Herz setzt für einen Moment aus. „Hat er nicht."
Peet lacht und geht ebenfalls neben mir aus dem Raum und hebt die Hand zur Verabschiedung in die Richtung von Mrs. Scott.
„Hat er wohl." Hat er? Bei dem Gedanken wird mir ganz warm.
„Egal. Lass uns einfach gehen."
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