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„Da ist ja mein kleiner Schwänzer."
Ich springe Peet wortwörtlich in die Arme. Ella, die neben mir steht, kann sich ihr Grinsen nicht verkneifen.
„Hast du mich so sehr vermisst?", fragt er und ruiniert die Locken, indem er durch meine Haare wuschelt.
Ich löse mich von Peter und mustere ihn von oben bis unten. Er gehört zu den Menschen, die auch ohne Sport fit und in Form sind. Seine schwarzen Haare sind wie immer ein Chaos, passend zu seinen wild verteilten Tattoos auf seinen Armen. Er hat den typischen Bad Boy Look, könnte aber keiner Fliege was zu Leide tun.
„Du hast mir tatsächlich gefehlt, ist das so schwer zu glauben?", frage ich perplex.
„Nein, aber dass du es offen gestehst?" Er schnaubt provokant. „Das wundert mich."
Ich verdrehe die Augen und überlasse ihm Ella, die ihn nicht weniger energisch empfängt.
„Seit sie mit diesem Nerd abhängt wird sie zu einem Softie", flüstert Ella in sein Ohr. Klar, sie meint es nicht böse, trotzdem würde ich meiner Besten Freundin in diesem Moment liebend gern meine Meinung geigen um Henry zu verteidigen. Sie kennt ihn nicht.
„Kaum bin ich für ein paar Tage weg, verpasse ich etwas. Das ist unfair", antwortet Peter.
Die Chance nutze ich und melde mich zu Wort.
„Du hast rein gar nichts verpasst Peet. Kennst du Henry Buckley?"
„Er geht in meinen Kurs für Kreative Künste. Ist einer der stilleren Schüler. Was hast du mit dem zu tun?" Zwischen seinen Augenbrauen bildet sich eine Falte. „Verstehe mich nicht falsch, er scheint nett zu sein aber außerhalb des Kurses habe ich ihn noch nie gesehen oder mich mit ihm unterhalten."
„Er ist Patient bei meiner Chefin. Ich soll ihm dabei helfen sich zu integrieren." Den Deal bezüglich der Panikattacken erwähne ich nicht. Diese Thema geht nur Henry etwas an, niemanden sonst. Wenn er nicht möchte, dass jemand davon erfährt, dann soll es so sein.
Peet legt seinen Arm um meine Schulter „Verstehe." Der Größenunterschied ist gemein. Wenn ich einen Arm um seine Hüfte legen möchte, muss ich mich jedes mal verrenken. Dass er dazu noch breiter ist als der Großteil der Männlichen Geschöpfe auf dem Campus, ist nicht gerade hilfreich.
Ella, die an meiner linken Seite geht, durchlöchert ihn währenddessen mit Fragen. „Wie geht es Tessa?"
„Gut. All das hin und her hat uns höchstens verletzt. Klar, ich liebe sie, aber oft reicht Liebe nicht aus um eine funktionierende Beziehung zu führen." Sofort steigt ein Bild von meinem Bruder und Ella in mir auf. Sie denkt auch an Hank, mein Seitenblick nimmt alles wahr.
Auch den ungefähr 1.90 Meter großen, dunkelbraunen Lockenkopf am Eingang des Gebäudes. Es ist Henry. Mir fällt auf, dass er seit neustem nicht mehr seine spießigen Klamotten anzieht, sondern stylische Teile, die ihn trotzdem nicht verstellt wirken lassen. Er unterhält sich mit einem eher kleineren Typen, wobei der Größenunterschied beinahe lustig aussieht- genau wie bei mir und Peet. Er bemerk mich und hebt eine Hand zur Begrüßung. Wie soll ich mich verhalten? Ich mache es ihm einfach gleich, lächele dabei und gehe mit Peter im Arm hinter Ella her.
Den restlichen Weg erzählt Ella von ihrem letzten Date und Peet von seinem komischen Sitznachbarn auf dem Rückflug. Wir lachen und diskutieren. Diese Zeit genieße ich besonders. Vor meinem Raum verabschiede ich mich und wir verabreden uns für den Nachmittag. Morgen steht meine nächste Schicht in der Praxis an, weswegen ich abends zu erschöpft sein werde, um am Filmabend teilzunehmen.
Eine ältere Professorin betritt den Raum und Schweigen legt sich über den Saal. Zuhören tue ich nicht, denn meine Gedanken schweifen zu Henrys Liedern zurück.
Breathing Fire hat mir genau wie in seiner Wohnung Tränen in die Augen gejagt. Seine Stimme war voller Emotionen, und der Text passt perfekt zur Melodie. Seine neue Komposition klingt wie das komplette Gegenteil. An Stelle von Tränen, trat ein lächeln in mein Gesicht. Ich konnte mir seinen Körper bildlich vorstellen, wie er da sitzt und die Augen geschlossen hält. Ich habe nicht damit gerechnet, ein Audio von ihm zu bekommen. Geschweige denn Zwei.
Henry hat mir erzählt, dass er eine schwierige Kindheit gehabt hat.
Dennoch würde ich gerne mehr erfahren.
Mehr über ihn.
In einem Heim aufzuwachsen, nur um auf den Moment zu warten, von einer Familie aufgenommen zu werden, kann ich mir garnicht vorstellen. Das Glück, bei einer netten Familie zu landen, steht 50 zu 50. Ich freue mich für Henry, letztendlich Eltern gefunden zu haben, die ihn lieben und respektieren.
Weil ich den Anfang der Stunde schon nicht mitbekommen habe, konzentriere ich mich die letzten Minuten auch nicht mehr auf den Unterricht.
Nachdem sich der Professor von uns verabschiedet hat, verschwinde ich mit schnellen Schritten aus dem Saal. In den Gängen werde ich von sämtlichen Leuten angesprochen, dessen Namen mir nicht einfallen wollen. Ich antworte halbherzig aber dennoch höflich. Da sie mich eh nicht so gut kennen, wie sie vorgeben, merken sie meine gestellte Fröhlichkeit garnicht erst.
Ich mache mich auf den Heimweg, um endlich wieder freie Minuten für mich zu haben. Wie lange ist es her, dass ich ein Buch gelesen habe? Sehr lange.
Sobald ich mein kleines, gemütliches Zimmer betrete, streife ich meine Jeans ab und schlüpfe in eine bequeme Jogahose. Mein Blick fällt auf die abgeranzte Ausgabe von Stolz und Vorurteil und ich lasse mich auf mein weiches Bett fallen.
Es wurde definitiv schon gelesen. Warte.
Das ist garnicht seine neuste Ausgabe, ich habe ausversehen die ältere eingesteckt. Am Rand erkenne ich kleine Stoßflecke und der Buchrücken ist an mehreren Stellen leicht geknickt. Scheint, als würde Henry es auch nicht möge, ein Buch brutal zu knicken. Eine weitere Eigenschaft, die wir teilen.
Es wurden einzelne Passagen mit einem gelben Textmarker markiert. Ich blättere wild durch die Seiten und lese jede einzelne Textstelle durch.
„Denk an die Vergangenheit nur dann, wenn die Erinnerung daran Vergnügen bereitet."
Bei diesen Worten zieht sich meine Herz zusammen, denn Henry hat die Zitate für sich markiert und es kommt mir vor, als würde ich in seine Privatsphäre eindringen. Ich schiebe die Zweifel beiseite und blättere zur nächsten Markierung.
„Ich könnte seinen Stolz leicht vergeben, wenn er meinen nicht beschämt hätte."
Ich habe in meiner Ausgabe auch Sätze markiert die mir gefallen haben, aber es sind ganz andere, als die von Henry.
Ich habe größtenteils romantische Passagen angemarkert, die mich immer wieder aufs Neue in ihren Bann reißen. Ich glaube zwar nicht mehr wirklich an die Liebe, aber ich bin trotzdem nicht gegen ihre Wirkung immun. Warum sollten andere keine echte Liebe erfahren, nur weil ich damit abgeschlossen habe?
Henry hingegen hat sich tiefgründige und traurige Sätze gemerkt. Hat er auch in seinen anderen Ausgaben von Stolz und Vorurteil Gedanken festgehalten?
Ich blättere ein paar Seiten zurück nach vorne.
„Es ist allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein Junggeselle, der ein beachtliches Vermögen besitzt, zu seinem Glück nur noch eine Frau bedarf."
Diesen Satz muss ich öfters lesen. Es sieht so aus, als hätten alle Textstellen einen Bezug auf sein Leben. Sie könnten genauso gut aus seinem Mund oder Gedanken stammen.
„Ja, Eitelkeit ist wirklich eine Schwäche. Aber Stolz? Wo wirkliche geistige Überlegenheit herrscht, wird der Stolz immer maßvoll sein."
Die nächste Stelle bringt ein mulmiges Gefühl in mir hervor.
„Es gibt wenig Menschen, die ich wirklich lieb habe, und noch weniger, von denen ich gut denke. Je mehr ich die Welt kennen lerne, umso weniger befreit sie mich."
„Je mehr ich von der Welt sehe, um so..."
Vom nächsten Zitat brauche ich nur die ersten Worte zu lesen, denn ich weiß genau welche Worte folgen. Ohne es zu merken, verschwimmen die Buchstaben vor meinen Augen und ich versuche den Druck hinter ihnen zurückzudrängen. Ohne Erfolge. Eine Träne fällt auf das Papier.
„... mehr bin ich von ihr enttäuscht und jeder neue Tag bestätigt meine Auffassung von der Unbeständigkeit aller menschlichen Charakterzüge und gibt Zeugnis davon, wie wenig man sich auf den Schein von Anstand und Vernunft verlassen kann."
Hinter diesen Worten steckt einfach so viel Wahrheit. Ich schwöre mir, nur noch ein Zitat zu lesen und das Buch danach wegzulegen, doch es ist wie eine Sucht. Ich habe das Gefühl, mehr über Henry in diesen Zeilen zu erfahren, als er bereit ist, mir zu erzählen.
„Die Menschen selbst verändern sich so sehr, dass in ihnen für immer etwas Neues zu beobachten ist."
Das Stimmt, ich habe es selber schon erlebt. Kolder ist das Beste Beispiel für dieses Zitat. Meine sogenannten Freunde auch.
Ich dachte immer, dass es mir an nichts fehlt. Ich wurde von einem gutaussehenden Typen geliebt, meine Noten waren gut und ich wurde auf jede Party eingeladen. Seit dem Vorfall mit dem verschickten Foto haben sich alle außer Ella von mir abgewendet, von denen ich dachte, dass sie mich lieben und unterstützen würden. Tja, falsch gedacht Lee.
Ich fange an die erste Kapitel zu lesen und fühle mich sofort wie zu Hause in Woodhill. Dort haben meine Abende oft so ausgesehen. Ein gutes Buch in der rechten, und einen Kaffee in der linken Hand.
Für die nächsten Stunden verschwinde ich in der Welt von Elizabeth Bennet und Fitzwilliam Darcey.
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