꧁13꧂
„Ich habe scheiße gebaut, Mann." Dan sitzt neben mir am Küchentisch. Es ist Sonntagabend, er ist vor einer halben Stunde von der Arbeit zurückgekommen und ich vergrabe mein Gesicht in den Händen.
„Was hast du angestellt, Bro? So schlimm wird es nicht sein", versucht er mich aufzumuntern und boxt mir leicht gegen die Rippen.
„Kommt drauf an wie du schlimm definierst." Ich hole tief Luft, aber der Kloß verschwindet nicht aus meinem Hals. „Ayleen muss jeden Sonntag einen Bericht an meine Therapeutin schicken, um sie über die Fortschritte zu informieren. Ich habe sie gebeten, ihr zu sagen, dass ich ein willkürliches Mädchen geküsst hätte und nicht nur wegen einer Wette, sondern weil ich es wollte." Meine Wangen laufen tiefrot an.
„Verdammt. Das hätte selbst meinem Ego wehgetan." Seine Antwort besänftigt mein schlechtes Gewissen auf keine Weise.
„Lee denkt bestimmt, dass ich den Kuss nicht gewollt habe und bereue. So war das aber nicht. Ich habe den Kuss sogar genossen."
Verdammte Scheiße.
„Hast du schon mal darüber nachgedacht, sie deswegen anzusprechen?", fragt Dan.
„Bestimmt nicht, nachher denkt Lee, ich hätte mehr in den Kuss hineininterpretiert als er eigentlich bedeutet hat. Es war nunmal nur wegen des Spiels."
Er lacht. „Wenn es nur wegen des Spiels war, warum machst du dann ein so großes Thema daraus?"
„Wenn ich das wüsste, würde ich nicht mit dir darüber sprechen", antworte ich frustriert.
„Spreche es einfach nicht an und warte, ob Lee es erwähnt." Mehr als ein Brummen bekommt Dan nich von mir.
Den restlichen Abend ziehe ich mich in meinem Komponierzimmer zurück. Zum Nachdenken ist es der Perfekte Ort. Die letzten Monate hatte ich eine Schreibblockade. Früher braucht es nur einen Ton, und in meinem Kopf türmten sich einzelne Melodien zu einem fertigen Stück zusammen. Ich denke über das nach, was Lee mir gegenüber erwähnt hat.
„Du könntest auf dieselbe Weise positive Emotionen verbildlichen, wie du eben deiner Trauer Ausdruck verliehen hast."
Sie hat recht. Wenn mit die negativen Emotionen beim komponieren nicht mehr helfen, sollte ich mich an den positiven versuchen. Ich denke zurück an die Party, an den Spaziergang und an den Abend, an dem sie mit mir gegessen hat. Ich denke an meine Eltern und ihre Liebe mir gegenüber. Selbst mit Dan habe ich Unmengen an Erlebnissen gesammelt, die mir aus dem schwarzen Loch geholfen haben, wenn ich zu versinken drohte.
Ich lasse all diese Gefühle in mir hochkommen und spiele einen Ton. In meinem Kopf rattert es. Tausende Töne ordnen sich hintereinander an, zusammen ergeben sie eine himmlische, fröhliche Melodie. An machen Stellen improvisiere ich, um die Töne zu spielen, die meine Gedanken wiederspiegeln. Mein Stift klemmt hinterm Ohr. Ich ziehe ihn hervor und bringe all das zu Papier.
Gegen Mitternacht liegt eine neues Stück vor mir. Ein fröhliches Stück, das die Liebe zu meinen Eltern und die Freundschaft zu Lee und Dan ausdrückt. Denn das ist es, was ich zwischen mir und Ayleen spüre. Freundschaft.
In meinem Kopf ist es leer und meine Finger zittern. Ich laufe in mein Zimmer, werfe mich auf mein Bett und tue das einzige, woran ich gerade denken kann.
Ich: Es ist Fertig. Ich habs geschafft.
Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es schon Zwei Uhr Nachts ist. Morgen ist Montag, weswegen ich bezweifle, heute noch eine Antwort zu bekommen. Nicht jeder hat einen so verstörenden Schlafrhytmus. Ich lege das Handy zurück auf die Kommode und putze meine Zähne. Bemüht, Dan nicht aufzuwecken, gehe ich auf Zehnspitzen zurück in mein Zimmer und lasse mich aufs Bett fallen. Mein Handy leuchtet auf. Es gibt niemanden, der mir jetzt noch schreiben würde. Fast niemanden. Mein Herz setzt für Sekunden aus.
Lee: Sei nicht so sparsam mit Informationen. Du musst mir schon mehr sagen.
Ich: Ich habe ein Lied komponiert. Es ist weniger traurig. Eher glücklich.
Lee: Echt? Herzlichen Glückwunsch. Ich sagte dir doch, dass du das Zeug dazu hast. Was hat dich inspiriert?
Ich: Die Liebe meiner Eltern und die Freundschaft mit Dan und dir (Ich hoffe, wir sind freunde :)). Ohne dich wäre ich niemals auf die Idee gekommen, meiner Schreibblockade in den Arsch zu treten.
Lee: Das freut mich, und ja, du darfst.
Lee: Ich bin stolz auf dich.
Ich bin stolz auf dich. Noch nie haben mir Worte eine solche Wärme verpasst. Mein Körper prickelt und die Freude ist mir beinahe peinlich. Zum Glück kann sie mich nicht sehen.
Ich: Danke Lee.
Lee: Darf ich dich etwas fragen?
Ich: Natürlich, ich kann dich wohl schlecht per WhatsApp davon abhalten.
Lee: Auch wieder wahr. Kannst du mir ein Audio vom Lied schicken? Ich kann es verstehen wenn du nicht möchtest.
Ich: Keine große Sache. Warte. Es ist aber nicht so gut wie Breathing Fire.
Lee: Wehe, du machst deine Kompositionen noch einmal runter. Ich komme zu dir und rasiere dir im Schlaf eine Glatze.
Ich: Wie gut, dass ich nie einschlafen kann.
Sobald ich auf senden drücke, bereue ich die Nachricht. Das Symbol, dass Lee eine Antwort tippt, verschwindet immer wieder, nur um Sekunden später wieder aufzutauchen.
Lee: Henry? Wie meinst du das?
Anstatt zu antworten, lege ich mein Iphone auf den Beistelltisch und fange an zu spielen. Ich lasse all meinen Emotionen freien Lauf. Jede Note steht für einen Augenblick der Freude oder Liebe.
Ich drücke ein zweites Mal auf aufnehmen, um Breathing Fire anzustimmen. Mom meint, ich habe eine raue aber gleichzeitig engelsartige Stimmenfarbe. Die Unterstützung von meinen Eltern hat mein Selbstbewusstsein bekräftigt.
Ich schicke ihr beide Audioaufnahmen und warte.
Es vergeht Eine Minute.
Dann Fünf Minuten.
Nach Zehn Minuten rechne ich mit keiner Antwort mehr. Hat es ihr nicht gefallen? Kann mir eigentlich auch egal sein. Ein Ping reißt mich zurück in die Wirklichkeit. Ayleens Name leuchtet auf meinem Sperrbildschirm auf . In Sekundenschnelle gehe ich auf unseren Chat. Meine Aufmerksamkeit wird das Erste mal auf ihr Profilbild gelenkt. Es zeigt Lee mit ihren Freunden auf einer Party. Sie sieht glücklich und unbeschwert aus. Die Erkenntnis, dass wir in Zwei komplett verschiedenen Welten leben, fühlt sich wie ein Tritt in die Magengrube an.
Lee: Wow, ich weiß nicht was ich sagen soll. Das kommt nicht oft vor.
Ich: Dann sage einfach nichts.
Lee: Hat es einen Namen?
Ich Noch nicht. Mir fehlt der Liedtext.
Lee: Dann viel Glück :)
ich: Danke
Es scheppert. Es scheppert seit einigen Wochen jeden Abend. Die leeren Scotchflaschen zerspringen an den Wänden und lassen klar erkennbare Spuren zurück. Ich brauche es nicht mit eigenen Augen sehen, ich höre es.
Ich verstecke mich unter meiner Bettdecke, in der Hoffnung, dass sie mich auf wundersame Weise verschluckt. Meine Hand zittert und meine Atmung wird schneller sobald ich die Treppenstufen quietschen höre. Mortimer kommt nach Oben. Ich ziehe die Decke ein Stück weiter über meinen Kopf. Die Tür geht auf und ein fahles Licht dringt in die Dunkelheit meines Zimmers. Die einzigen Gedanken die ich habe sind: Nein. Nein, nein nein.
Im Gegensatz zu dem Lärm den er in der Küche veranstaltet hat, sind seine Schritte beinahe lautlos. Er geht langsamen Schrittes um mein Bett herum und Kniet sich hin. Sein Gesicht ist nur wenige Zentimeter von meinem Entfernt.
Zu nahe.
Ich dränge meine aufsteigenden Tränen zurück. Wenn ich jetzt weine, hat er gewonnen. Sein Ziel ist es, mich zu brechen.
Er hat mein zerstörtes Leben noch weiter in den Abgrund gezogen. Mir bleibt nicht mal Zeit, um meine verstorbene Pflegefamilie zu betrauern.
„Huhu." Sein rauer, nach Zigaretten riechender Zeigefinger, gleitet über meine Wange. „Ich weiß dass du nicht schläfst , kleiner Rotzbengel."
Seine lallende Stimme ist direkt neben meinem Ohr und ich spüre seinen warmen, alkoholisieren Atem an meiner Wange.
Er packt mein Shirt und reißt mich in eine aufrechte Position. Mein Blick streift Seinem. Mortimer hat gerötete Augen und dunkle Augenringe zeichnen tiefe Schatten auf sein markantes Gesicht. Mir ist bewusst was kommt.
„Du denkst, dass es dir zusteht in einem Bett zu schlafen?" Er schnalzt mit der Zunge. „Nanana, du hast es noch immer nicht verstanden, was? Meine Schwester kann auch in keinem Bett mehr schlafen, du hast ebenfalls kein Recht dazu." Nelli. Meine vorherige Pflegemutter. Sie starb mitsamt Familie in einem Autounfall. Ich war zuhause, bei Freunden. Mortimer ist sauer, dass ich nicht gestorben bin, aber seine Schwester schon. Rache ist der Einzige Grund, weshalb er mich bei sich aufgenommen hat. Er will mein Leben zerstören.
Idiot, es ist längst zerstört, er trampelt höchstens auf den Scherben.
Mein Blick schweift zum kleinen Schrank und Übelkeit breitet sich in mir aus.
Er folgt meinem Blick, lächelt und reißt mich in dessen Richtung. Vor der Tür hängt ein Schloss. Er schließt es auf und drängt mich ins innere. Um mir eine Lektion zu belehren. Jeden Tag aufs Neue.
„Gute Nacht, mein Lieber. Hoffentlich findest du etwas Schlaf." Mit diesen Worten schließt und verriegelt er die Tür. Seine Schritte verschwinden und mit ihnen ein Stück meiner Selbst.
Ich muss die Beine an mich ziehen, mehr Platz habe ich nicht. Die Luft wird Stunde für Stunde stickiger. Rausholen tut er mich dennoch rechtzeitig. Leider.
Eins.
Zwei.
Drei.
Ich fange an zu zählen, denn ich darf nicht einschlafen. In ein paar Stunden wird er mich wecken kommen. Es liegt an mir, auf welche Weise. Bin ich wach, passiert nichts. Findet er mich schlafend vor, mache ich Bekanntschaft mit seinen Fäusten. Er hinterlässt keine langzeitigen Narben, nichts, was ihn für Schuldig erklären könnte.
Vier.
Fünf.
Sechs.
Ich bin erschöpft. So verdammt erschöpft. Meine Nerven drohen zu zerreißen. Ich versuche zu zählen. Wirklich, ich gebe mir Mühe, doch heute gewinnt die Müdigkeit den Kampf und eine angenehme Dunkelheit übermannt mich.
„Guten Morgen." Ich erkenne, wenn er Glück empfindet. Heute ist seine Stimme das Beste Beispiel dafür. Eine Helligkeit blendet mich. Scheiße. Ich habe versagt, ich bin eingeschlafen.
Seine Hand packt meinen Hals und er zieht mich aus dem Schrank. Durch die unbequeme Nacht spüre ich meine Glieder nicht mehr. Seine Hand ist das einzige, was mich aufrecht hält. Er lässt mich fallen und ich krümme mich auf dem Boden zusammen. Mein Atem hält an und ich warte. Warte auf seine Schläge. Da sind sie. Meine Augen presse ich zusammen und Farben explodieren von innen. Bunte, grelle Farben. Wäre die Situation eine andere, würde ich die Farbexplosion fasziniert beobachten.
Jedes mal wenn ich auf dem Boden gekrümmt liegen, stelle ich mir Zwei Fragen.
Wen interessiert es, ob ich lebe oder nicht? Wen kümmert es ob ich Qualen erleide? Ich bin alleine und die einzige Person die mit mir spricht verabscheuet mich. Wenn ich sterbe gibt es niemanden, der um mich trauert. Es gibt keine Herzen anderer Menschen, in denen ich als Erinnerung weiterleben kann.
Schweißgebadet schrecke ich aus meinem Traum hoch. Der überdurchschnittlich hohe Herzschlag pulsiert durch meine Adern. Das Geräusch meines Herzens dröhnt mit der Lautstärke eines Presslufthammers durch meinen Kopf. Ich habe mir geschworen stark zu sein. Ich gönne es Mortimer nicht, mein Leben noch immer im Griff zu haben, ohne in seiner Nähe zu sein. Ich will stark sein.
Es ist 4 Uhr morgens, ich bin hellwach und an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Dan schläft noch, weshalb ich mich nicht ans Klavier setzen kann. Ich muss leise sein. Alte Gewohnheiten übernehmen meinen Verstand, wobei ich gebannt an die Decke starre.
Eins.
Zwei.
Drei.
...
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