8 | archernar
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a r c h e r n a r
august 2023
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„Ich bin Harry."
„Ich nicht. Außerdem ist das meine Schaufel."
Augustnächte erreichten selbst in England eine angenehme Wärme, heute jedoch fühlte sie sich an wie der kälteste Dezemberabend in Charlottes Herzen. Wahrlich nicht aufgrund der eigentlichen Temperatur, der alle dazu brachte, die Fenster aufzureißen, in der Hoffnung zumindest ein wenig Hitze besiegen zu können. Der Grund für ihr eiskaltes Herz war Noah Styles, der von Stunde zu Stunde ruhiger wurde und sich nun in seine Laken kuschelte. Seine braunen Locken ragten kaum heraus, so hoch hatte er sich die Decke gezogen, trotz der Hitze des Tages. Als wäre das Laken seine Erlösung, seine Mauer, sein Schutz vor der Welt.
Noah wirkte so klein, so verloren, auf Harrys Bettseite, dass Charlotte hörbar schlucken musste. Der Laut riss ein Loch in den Sommertrag, verbrannte ihn mit kleinen Flammen.
„Was ist los, Großer?", flüsterte das Mädchen mit den Sternenaugen, nachdem sie sich vorsichtig neben ihn auf die Matratze gelegt hatte.
Selbst mit ihnen beiden wirkte das Bett noch riesig, allzeit bewusst darüber, dass eigentlich jemand viel Größeres ebenfalls dort liegen sollte.
„Ich will morgen zuhause bleiben." Die Worte kamen so leise über Noahs Lippen, dass seine Mutter sie im Wind der Nacht beinahe überhört hätte. Doch sie hatte im Laufe der letzten Jahre einen Instinkt dafür entwickelt, auch den kleinsten Laut ihres Sohnes direkt vernehmen zu können. Eine Angewohnheit, die Charlotte bei ihrer eigenen Mutter immer verwundert hatte, doch nun verstand sie den Zauber selbst.
„In den Kindergarten zu gehen, wird dir super gefallen", meinte das Mädchen mit den Sternenaugen aufmunternd und schob Noahs Bettdecke ein wenig nach unten, aus Angst, dass seine überhitzten Wangen nur noch röter wurden. „Du wirst sehen, dass wird ganz wundervoll, Großer."
Noah schüttelte so hastig den Kopf, dass seine braunen Locken in die Luft flogen und dann von der Schwerkraft schmerzlich wieder auf das Kopfkissen heruntergedrückt wurden. In diesem Augenblick erinnerte er Charlotte so sehr an eine Erinnerung ihrer Vergangenheit, dass sie am liebsten angefangen hätte zu weinen. Ihr Sternenjunge hätte hier sein sollen, hier sein müssen.
Doch Harry war es nicht, er war es schon seit Jahren nicht und würde es auch nie mehr sein.
Charlottes Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass Noah es an Nichts fehlte. Ihrem Sohn die Tränen zu trocknen und das breite Lächeln auf seine Lippen zu zaubern. Das Mädchen mit den Sternenaugen musste es alleine tun, für sie beide, weil Harry es nicht konnte. Und sie tat es gerne, für ihren Sternenjungen, für Noah, doch in Momenten wie diesen wünschte sie sich bloß eine Sekunde lang, dass sie nicht ganz alleine war auf dieser großen, kalten Welt.
Harry hätte gewusst, welche Worte ihr Sohn hören musste, aber er konnte sie nicht sagen und Charlotte presste einen Augenblick lang die Lippen hilflos aufeinander.
„Willow ist doch auch dort. Ihr könnt zusammen in den Kindergarten gehen", flüsterte das Mädchen mit den Sternenaugen schließlich.
An den meisten Tagen war die Erwähnung von Willow Tomlinson gut genug, um Noah zu jeglichen Dingen zu bewegen. Solange das kleine Mädchen etwas liebte, war auch der Kleine dazu bereit, etwas zu versuchen. Doch heute war nicht jeder andere Tag, heute war die Nacht vor Noahs schrecklichstem Traum.
„Aber ich kann Willow auch hier zuhause sehen. Willow kann ja morgen einfach bei mir bleiben", entgegnete Noah stur, mit zwei kleinen Falten auf der Stirn. Die Einkerbungen hatte er von seinem Vater, den Dickkopf von seiner Mutter geerbt. Gerade machte er ihnen beiden alle Ehre.
Charlotte strich ihrem Sohn sanft durch die Haare, ließ die braunen Haare langsam durch ihre Finger gleiten, bevor sie langsam wieder auf das Kopfkissen herunterfielen.
„Hast du Angst vor morgen, Noah?" Fragend sah das Mädchen mit den Sternenaugen ihn an, wusste sie doch eigentlich ohnehin schon, wie es in seinem Inneren vorging. Im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, jedes einzelne Detail ihres Sohnes auswendig zu kennen.
Der Kleine nickte stumm, die Lippen fest zusammengepresst, als hätte er Angst vor seinen Worten, Angst vor der Wirklichkeit. Wie immer wenn er kurz davor zu weinen, glitzerten seine Augen verdächtig. Es waren die wenigen Momente in denen das grün seines Vaters beinahe vom Sternenhimmel seiner Mutter überschattet wurde. Charlotte tat es jedes Mal im Herzen weh, ihn so sehen zu müssen.
„Soll ich dir was verraten?" Die Worte stahlen sich flüsternd über ihre Lippen, so leise, dass sie nicht einmal die Stille der Nacht verstören konnten. Sie waren bloß für Noah bestimmt, nicht einmal für ihren Sternenjungen, sollte er ihnen beiden gerade zusehen. Und das Harry das tat, da war sie sich beinahe sicher. Sollte er auch nur die geringste Chance haben, bei ihnen beiden zu sein, dann würde er mit jeder Faser seines Körpers dafür kämpfen.
Doch Charlotte wusste es nicht, sie wusste nicht, wo sich ihr Sternenjunge befand, sie konnte bloß hoffen. Und zu wissen, dass er sie beide vielleicht nie wirklich ganz verlassen hatte, das war genug. Manchmal war es die bloße Möglichkeit, ein bloßes Vielleicht, das ein Herz am Leben ließ und es nicht unter einer Schicht Tränen erstickte. Das Vielleicht war ihre Gegenwart, ihre Zukunft, ihre Ewigkeit. Jeder Schlag ihres Herzens, das bereits zu viel gelitten hatte in ihrem kurzen Leben.
„Ein Geheimnis, Mummy?", wisperte Noah ebenso leise zurück. Seine Stimme hell, kindlich und dennoch in dieser einen Sekunde so erwachsen, als hätte er die Regeln dieser kalten Welt verstanden.
Das Glitzern seiner Augen verschwand, stattdessen mischte sich nun ein Funken Neugierde in das kräftige Grün, was Charlotte zum Lächeln brachte. Sie konnte gar nicht anders, war doch jeder Augenblick, den sie mit Noah verbringen durfte, eine weitere Sekunde voller Wunder.
„Genau, ein Geheimnis, Großer. Bist du bereit?"
Noah nickte und sein Kopf streckte sich ein wenig mehr aus der Bettdecke hervor, als wäre er bereit, die Mauern ein wenig einbrechen zu lassen.
„Ich hatte auch Angst vor meinem ersten Tag im Kindergarten", erzählte Charlotte ihm, während sie ihm sanft eine einzelne Träne aus den Augenwinkeln wischte.
Noah sah sie mit Skepsis in seinem wachen Blick an. „Du hast nie Angst, Mummy. Du tötest sogar die Monster unter meinem Bett. Auch die ganz großen!"
Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Aber damals hatte ich Angst. Ich habe auch heute manchmal Angst. Das ist total okay, Großer. Dafür muss man sich nicht schämen."
Der Junge mit den grünen Augen nickte stumm, während er sich kaum merklich mehr in die Arme seiner Mutter kuschelte. Charlotte gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn, bevor die nächsten Worte über ihre Lippen in die Freiheit entkamen.
„Ich lag den ganzen Abend vor meinem ersten Kindergartentag im Bett und konnte nicht schlafen. Ein wenig wie du, Großer", erzählte das Mädchen mit den Sternenaugen sanft, in der Hoffnung, ihren Sohn in schöne Träume lullen zu können. „Irgendwann bin ich dann doch eingeschlafen und habe mich dann am nächsten Mprgen geweigert, die Augen zu öffnen. Ich habe sie ganz fest zugepresst, damit Oma Mary dachte, dass ich schlafe und mich im Bett liegen lässt."
Noah kicherte, während er seine Augen fest schloss. „So, Mummy?"
„Genau", grinste Charlotte amüsiert.
„Hat es geholfen?", murmelte der Kleine mit immer noch geschlossenen Augen.
„Nein, also versuch es gar nicht erst."
Ihre Finger kitzelten seinen Bauch, was Noah ein kindliches Lachen entlockte. Dabei erschienen auf wunderbare Weise die Grübchen auf seinen Wangen, die Charlotte so sehr liebte, das linke ein wenig ausgeprägter als das rechte. Sie küsst die kleinen Kerben lächelnd.
„Ich musste an dem Tag trotzdem in den Kindergaten", erzählte das Mädchen mit den Sternenaugen. „Und ich habe nicht einmal eine Stunde gebraucht, um es dort zu lieben."
Noahs grüne Augen blickten sie an. „Weil Daddy da war?"
„Genau. An dem Tag habe ich deinen Daddy kennengelernt und es war eine der besten meines Lebens", entgegnete Charlotte mit Überzeugung in ihrer Stimme. „Also hab keine Angst vor morgen, das wird richtig cool werden."
„Okay"; flüsterte Noah, doch seine Stimme klang immer noch zittrig. Unsicher, als wüsste er nicht ganz, ob die Worte seiner Mutter bloß Worte blieben oder die Wahrheit versteckten. Vielleicht waren sie auch nicht einmal als beruhigende Lüge gedacht, die schlimmste aller Wahrheiten.
Also zog Charlotte ihn näher an sich heran, bis seine Locken sie am Kinn kitzelten und Noah seine Hände in ihrem Oberteil vergraben hatte.
„Daddy hat einen Brief für Morgen geschrieben", murmelte sie leise, während sie ihm durch die Haare strich. „Wollen wir eine Ausnahme machen und ihn heute schon lesen?"
Charlotte erhob sich langsam vom Bett, nachdem Noah begeistert nickte und dabei mit müden Augen ihre Bewegungen verfolgte.
Das Shirt, das sie zum Schlafen übergezogen hatte, rutschte ihr ein wenig über die Schulter, kein Wunder, war es doch ganze Nummern zu groß. Mittlerweile hatte es ein Loch am Saum gesammelt sowie einige kleine am rechten Ärmel, doch es war Harrys Lieblingsoberteil gewesen und würde nun das Charlotte bis an sein Lebensende begleiten. Der Geruch des Sternenjungen im Stoff war längst vergessen worden, selbst wenn sie sich anstrengte, konnte sie ihn nicht mehr riechen, doch wenn sie die Augen schloss, die Finger über den weißen Saum gleiten ließ, dann konnte sie Harry fühlen.
Bloß weniger als eine Sekunde, in einer Parallelwelt, die nie Wirklichkeit werden würde, aber für diesen Wimpernschlag war er mit ihnen in diesem Schlafzimmer in diesem riesigen Haus, dass das Mädchen mit den Sternenaugen an manchen Tagen erdrückte. Zu viele Erinnerungen verbargen sich in den dicken Wänden, die sie erstickten und gleichzeitig doch ihre Luft zum Atmen waren.
Während Charlotte die Treppenstufen ins Wohnzimmer herunterlief, strich der Stoff leicht über ihre nackte Haut, wie eine Umarmung des Windes, der sie am Leben erhielt.
In der unteren Etage angekommen, verzichtete sie darauf, das Licht anzuschalten, war die Augustnacht doch noch nicht wirklich von der Dunkelheit erobert worden und kannte sie doch selbst in tiefster Düsternis den Weg ohnehin auswendig. Sechszehn Schritte brauchte sie, bis ihre Zehen sanft gegen den Pappkarton stießen, der in den letzten zwei Jahren ein so fester Bestandteil in ihrem Wohnzimmer geworden war, dass sie ihn meistens nicht einmal mehr bemerkte. Sollte die geformte Pappe jedoch eines Tages verschwinden, würde Charlotte das zweite Mal in ihrem Leben über den Abgrund geworfen werden.
Heute jedoch stand die Kiste vertraut auf dem Armsessel, unerschütterlich und voller Geheimnisse, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden.
Nachdem Charlotte den Karton bekommen hatte, hatte sie alle Briefe einmal geordnet, eine ihrer beliebten Listen erstellt, damit sie keinen von Harrys Worten verpassen würde. Doch es war ihr nicht richtig vorgekommen, das beschriebene Papier in der Reihenfolge aufzubewahren, hatte ihr Sternenjunge das Chaos an manchen Tagen doch geliebt. Also hatte sie all die Worte wieder in die ursprüngliche Kiste fallen lassen, bloß um an den wichtigen Tagen nach den richtigen suchen zu können.
Das Mädchen mit den Sternenaugen ließ ihre Finger über die Briefe gleiten, vorsichtig, bis sie schließlich den richtigen Umschlag für den morgigen Tag entdeckten. Ihr linker Zeigefinger zitterte kaum merklich, als sie das Papier hochhob, hinter dem sich Harrys nächste Worte befanden, nur darauf wartend, endlich erhört zu werden.
Während Charlotte schließlich wieder neben Noah unter die Decke gekuschelt den Briefumschlag öffnete, fragte sie sich, ob Harry beim Schreiben dieser Worte genauso aufgeregt gewesen war, wie sie es jedes Mal war, wenn sie einen seiner Briefe lesen durfte. Eine weitere Frage, dessen Antwort sie nie bekommen würde.
„Mummy? Was steht da?" Fragend ließ Noah seine Finger über die wenigen Worte gleiten, die der Sternenjunge mit Mühe auf den Umschlag geschrieben hatte.
Charlottes Blick glitt vom eigentlichen Brief zu seiner Verpackung, verstand sie doch, dass ihr Sohn jeden Funken an Information über Harry aufsaugen wollte, die er bekommen konnte.
„Für Noah. Erster Kindergartentag. Jahr unbekannt", las sie leise vor, während sie Noahs Finger über die Buchstaben schob, damit er die Worte nicht nur hören, sondern auch fühlen konnte.
Ein Grübchen bildete sich auf der Wange des Kleinen und seine Mutter war erleichtert, dass seine Angst langsam entschwand.
„Bereit für Daddys Worte, Großer?"
Sein Nicken war so euphorisch, dass er sich beinahe den Kopf am Bettrand anschlug und Charlotte sich ein Lachen verkneifen musste. Noah Styles liebte Gute Nacht Geschichten, aber nichts liebte er mehr als die Briefe seines Vaters. Unzählige Abende hatte das Mädchen mit den Sternenaugen die bereits lebendig gewordenen Briefe immer wieder vorlesen müssen, bis sie beide die bisherigen mittlerweile fast auswendig aufsagen konnten. Heute würden weitere von Harrys Worten folgen, weitere Erinnerungen, die in der Luft zur Ewigkeit werden würden.
Liebster Noah, mein kleiner großer Kindergartenboy,
Bist du schon aufgeregt, weil du in ein neues Abenteuer starten wirst?
Mehr als diese Zeilen brauchte es nicht, bis Noah Styles sich hastig weiter in Richtung des Briefes beugte, den Plüschhasen fest an seine Brust gepresst. Der Stoff des Kuscheltiers war mittlerweile eindeutig in Mitleidenschaft gezogen worden, ein wenig Orangensaft hatte sich am linken Bein eingefangen, das rechte Auge hatte bereits zwei von Louis Operationen überlebt.
Hasi war der Weggefährte, den das Kind so dringend brauchte. Derjenige, der seine Tränen trocknete, wenn selbst die leise Stimme seiner Mutter nicht ausreichte.
Heute jedoch kamen keine Tränen aus Noahs Augen, bloß ein breites Lächeln bildete sich auf seinen Lippen, während er auf die Worte des Briefes starrte, die für ihn wirken mussten wie eine fremde Sprache.
„Ich bin überhaupt nicht aufgeregt, Daddy", schwindelte Noah wie der Meister der Lügen, woraufhin sich Charlotte ein Lachen verkneifen musste.
„Daddy weiß, wenn du lügst, Großer. Glaubst du nicht?"
Noah biss sich unschlüssig auf die Unterlippe, während er aus dem Fenster starrte, auf der Suche nach den Sternen, die sich immer noch am Nachthimmel versteckten. Erst in tiefster Dunkelheit würden sie zum Vorschein kommen. Die hellste Hoffnung in den schwärzesten Momenten.
„Vielleicht bin ich doch aufgeregt", murmelte der Kleine leise. „Aber nur ein bisschen, ein ganz kleines bisschen."
Charlotte streichelte ihm über den Rücken, während das dicke Briefpapier in ihren Händen knisterte und die Wörter einen Augenblick lang lebendig wirken ließ.
Ich jedenfalls bin furchtbar aufgeregt gewesen vor meinem ersten Kindergartentag, Noah. So aufgeregt, dass ich es selbst noch nach all den Jahren weiß. Das ist ohnehin eines der Eigenschaften deines Daddys. Ich habe so großes Lampenfieber, das ist schon nicht mehr witzig. Man sollte meinen, dass ich mich irgendwann einmal daran gewöhnt hätte.
Aber die ganzen Zeitungsberichte und Erzählungen, dass Harry Styles (das bin ich, dein Daddy) mit aller Ruhe auf die Bühne tritt und sich um nichts kümmert, sind große Lügen. An schlimmen Tagen habe ich mich sogar übergeben müssen, bis mein Magen wehtat. Doch weißt du, was mir dann immer geholfen hat, Noah?
Deine Mum. Sie ist die beste Medizin gegen Aufregung, wenn sie dich einfach nur in den Arm nimmt und dich kurz festhält. Ihre Umarmungen sind wirklich wundervoll und falls du vor deinem ersten Kindergartentag auch aufgeregt bist, dann drücke deine Mummy einfach ganz fest, okay?
Dünne Kinderarme legten sich um Charlotte, was das Mädchen mit den Sternenaugen zum Lächeln brachte. Sie erwiderte die Umarmung ihres Sohnes, zog ihn näher an sich und drückte einen Kuss auf seine Stirn, während sie ihn einfach festhielt.
„Und? Hilft dir das ebenso sehr wie es deinem Daddy geholfen hat?"
Noah nickte langsam, das Gesicht in das übergroße T-Shirt gepresst. Ein weiteres Überbleibsel seines Vaters, der für ihn nie lebendig in Erinnerungen erscheinen würde. Alles was Harry ihm geben konnte, waren seine Worte. Doch an diesem warmen Augustabend war alleine das für ein paar Stunden genug.
Während sie ihren Sohn immer noch fest umklammert hielt, alleine mit ihrer Umarmung seine Welt retten konnte, kam Charlotte der Gedanke, wie viel einfacher das Leben doch gewesen war, als alleine ihre Mutter ganze Kriege beenden konnte durch eine einfache Umklammerung.
Sie fragte sich, wann ihr Leben so furchtbar kompliziert geworden war. Nicht erst, als Harry schließlich seine Diagnose bekam, sondern schon Jahre zuvor.
Vielleicht als sie das erste Mal von der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit verflucht wurde, vielleicht aber auch als Harry und sie beschlossen, aus ihrer Freundschaft so viel mehr herauszuholen. Vielleicht auch schon viel eher, in all den Jahren, die sie gemeinsam erlebten, in denen es Charlotte vorkam, als würden sie und ihr Sternenjunge gemeinsam den Himmel stürmen. In denen es keine Regeln gab, bloß diejenigen, die sie sich selbst machten. In denen sie gemeinsam den Wundern der Welt entgegentraten, ganz gleich, ob es sich um eine schlechte Schularbeit, ein aufgerissenes Knie oder die Tränen nach einer Trennung handelten.
„Mummy? Weiterlesen bitte", flüsterte Noah gähnend.
Charlotte ließ lächelnd die nächsten Worte über ihre Lippen gleiten, Harrys wahrgewordene Erinnerungen, sein Teil für die Ewigkeit.
Mein erster Tag im Kindergarten ist zugegebenermaßen wirklich langweilig gewesen, da will ich nicht lügen. Ich habe ein paar neue Spiele entdeckt, ein paar neue Freunde gefunden und hatte am meisten Spaß daran, mit dem Plastikmikrofon durch den Raum zu rennen, während ich so getan habe, als wären die anderen Kinder meine Zuschauer. Man sollte meinen, sie hätten es zu schätzen gewusst, aber letztendlich wurde mir das Spielzeug weggenommen und ein Stift in die Hand gedrückt, weil mein Singen irgendwann allen auf die Nerven gegangen ist.
Aber es ist wirklich nicht schlimm gewesen, Noah, sondern bloß ein Anfang einer ganz außergewöhnlichen Reise.
Mein eigentliches Abenteuer startete aber dann ein paar Wochen später, als deine Mum ihren ersten Kindergartentag hatte. Ich kann mich heute noch daran erinnern, wie ich sie das erste Mal gesehen habe. Ihre Augen waren ganz gerötet vom vielen Weinen, während sie trotzig ihr Kinn hervorstreckte und ihren Teddybären umklammert hielt, den Oma Mary ihr damals mitgegeben hatte.
Deine Mummy weigerte sich, auch nur ein Word zu reden und die anderen ließen sie in Ruhe. Doch als wir dann schließlich draußen auf der Wiese in unserem kleinen Ort spielten, da habe ich all meinen Mut zusammengenommen und bin zu ihr hingegangen.
‚Ich bin Harry', hatte ich gesagt. Und weißt du, was sie getan hat, Noah? Sie hat mich einfach angestarrt, mit dem ganzen Sternenhimmel in ihren Augen, und hat langsam den Kopf geschüttelt. ‚Ich nicht', hatte sie gesagt und mir dann eine Sandschaufel aus den Händen gezogen. ‚Außerdem ist das meine Schaufel.'
Eine knallharte Lüge, Noah, das kann ich dir versichern. Denn die Rote Plastikschaufel gehörte garantiert dem Kindergarten, aber deine Mummy ist schon immer sehr überzeugend gewesen, wenn sie will. Also habe ich ihr einfach die Schaufel gegeben und wir haben stumm eine Burg im Sandkasten gebaut, ich mit meinen Händen, bis sie mir schließlich ihren Namen verraten hat. ‚Ich bin Lottie. Nenn mich bloß nicht Charlotte, dann werde ich wütend', hatte sie mit ihren funkelnden Augen gesagt.
Damit begann unsere gemeinsame Reise und deine Mummy wurde meine beste Freundin auf der ganzen Welt.
Ich hoffe, du findest ebenfalls einen besten Freund oder eine beste Freundin, wie ich sie in deiner Mum gefunden habe, Noah. Denn glaub mir, Freunde sind so wichtig und du solltest sie festhalten, so stark es geht.
Noahs grüne Augen richteten sich langsam auf, bis sie auf Charlottes trafen.
„Mummy? Wenn ich keine beste Freundin finde, wirst du dann meine beste Freundin?", fragte er unschuldig, die Arme immer noch um ihren Hals geschlungen. „Ich meine, Daddys beste Freundin kannst du ja nicht mehr sein. Weil er ja jetzt in den Sternen wohnt."
Seine Mutter lachte unter Tränen. „Natürlich kann ich deine beste Freundin werden. Aber du wirst mich trotzdem mit deinem Daddy teilen müssen, denn beste Freundschaften halten bis in alle Ewigkeit."
„Wirklich?" Fragend sah Noah sie an, als wüsste er nicht ganz, ob er auf ihre Worte vertrauen sollte.
Charlotte nickte mit Überzeugung, war es doch die Wahrheit, die immer noch ein Zuhause in ihrem Herzen hatte. Ihr Sternenjunge würde immer dort lebendig bleiben, auch wenn er schon seit Monaten keinen Atemzug mehr gemacht hatte.
„Wirklich, Großer", bestätigte sie. „Soll ich dir noch ein Geheimnis verraten? Beste Freunde können die Gedanken des anderen lesen. Und gerade lese ich die von deinem Dad. Ich soll dir sagen, dass er wahnsinnig stolz auf dich ist und er sich wünscht, dass er gerade bei dir sein könnte."
Noahs Zunge fuhr langsam über seine Lippen, wie immer, wenn er einen Moment brauchte, um seine Gedanken zu verarbeiten. „Ich will auch, dass Dad gerade hier ist. Ich vermisse ihn."
Charlotte presste eine Sekunde lang die Augen zu, um die Tränen daran zu hindern, in die Wirklichkeit zu entkommen. Sie wusste nicht, ob der Kleine die Worte überhaupt verstand, ob er nicht bloß das nachplapperte, was sie ihm immer erzählte, wenn sie ihm sagte, dass sie wünschte, dass ihr Sternenjunge bei ihnen sein könnte.
„Ich vermisse deinen Daddy auch, Großer. Aber immerhin haben wir einander."
Noah blieb stumm, als wären die Worte zu groß für seine Gedanken. Einen Augenblick lang war nur sein leiser Atem zu hören, das gleichmäßige Lufteinziehen und wieder entlassen, während seine Locken Charlotte am Kinn kitzelten.
„Mummy?"
Sie stupste ihn sanft an. „Noah?"
„Wenn beste Freunde Gedanken lesen können, dann solltest du doch lieber nicht meine beste Freundin werden."
„Wieso nicht?"
Noah vergrub das Gesicht noch tiefer in dem T-Shirt. „Weil du dann immer wüsstest, wenn ich heimlich die Schokolade klaue."
Ein Lachen stahl sich aus Charlottes Kehle, so überraschend und herzlich, dass sie sich im ersten Moment selbst erschreckte. Doch ihr Sohn war es schon immer gewesen, der sie auf freudige Gedanken bringen konnte, sie daran erinnerte, dass das Leben noch nicht vorbei war, sondern noch so viele Wunder zu bieten hatte. Das größte von allen hielt sie gerade in einer Umarmung umschlungen.
„Außerdem ist Willow doch meine beste Freundin", murmelte Noah und sah dann panisch zu seiner Mutter hoch. „Bist du jetzt sauer?"
Charlotte lächelte breit. „Nein, ganz und gar nicht, Großer. Das ist toll."
„Außerdem ist Daddy ja auch schon dein bester Freund. Du bist also nicht alleine."
„Genau", murmelte das Mädchen mit den Sternenaugen, um ihrem Sohn die Sorgen zu nehmen und hob den Brief wieder hoch, um weiteren Wörtern das Leben schenken zu können.
Hat deine Mum dir schon erzählt, dass wir einmal im Jahr ein Picknick auf dieser Wiese beim Kindergarten gemacht haben? Jedes Jahr seitdem wir uns kennen? Das ist wirklich eine ganz lange Zeit mittlerweile, Noah. Deine Mum und ich haben so viele tolle Abenteuer miteinander erlebt, sie ist immer für mich da gewesen, fast mein ganzes Leben lang. Das wird sie für dich auch sein und wenn du sie ganz lieb fragst, nimmt sie dich sicherlich auch einmal zu unserem Point Zero dort auf der Wiese mit. Wir haben damals auch in einem Dorf gelebt, Noah. Genauso wie du und deine Mum es wahrscheinlich noch tut, denn ich gehe davon aus, dass ihr das Haus behalten werdet. Ich hoffe es zumindest, aber egal wo ihr auch gerade wohnt, ich habe keinen einzigen Zweifel daran, dass du eine ganz wundervolle Kindheit haben wirst. Dafür wird deine Mummy schon sorgen. (Notiz an Lottie: Daran darfst du niemals aufhören zu glauben, denn du schaffst das. Du bist so stark und ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt. Wenn jemand das hinbekommt, dann bist du das. Ich weiß, dass das hier nicht dein Brief ist, aber ich liebe dich. So unfassbar sehr und das darfst du nicht vergessen.)
Deine Mum und ich haben unzählige gemeinsame Abenteuer im Kindergarten erlebt und ich bin sicher, dass deine Zeit dort auch wunderbar werden wird, Noah. Ich wünsche dir den besten ersten Tag überhaupt! Habe ganz viel Spaß und erzähle deiner Mummy hinterher davon, okay? Ich werde dann auch zuhören und freue mich schon auf deinen Bericht.
Ich liebe dich, mein großer Kleiner.
Alle Liebe der Welt,
Dein Daddy
Einen Augenblick lang, eine kleine Unendlichkeit und gleichzeitig doch bloß wenige Sekunden war es still im Schlafzimmer der Styles, während die letzten Worte zitternd durch die Luft flogen und die Wörter sich in die Ewigkeit verwandelten.
Dann war Noahs klare Stimme zu hören, fragend und zögerlich, während er gleichzeitig zu seiner Mutter hinaufsah.
„Es ist jetzt nachts, oder?"
„Ja", bestätigte Charlotte.
„Aber es sind keine Sterne da", flüsterte Noah frustriert. „Ich will die Sterne sehen und Daddy winken."
Das Mädchen mit den Sternenaugen musste tief Luft holen, zweimal, weil ein einziger Atemzug alleine nicht ausreichte, um die tränenerstickte Stimme zu bekämpfen. „Du kannst ihm auch jetzt winken. Er sieht dich immer, auch wenn wir ihn nicht sehen."
Noah beugte sich ein wenig in Richtung der Fenster, um einen besseren Blick hinaus in die Welt zu haben. „Gute Nacht, Daddy."
Charlotte gab ihm einen Kuss. „Der ist von Mummy."
Ihr Sohn sah sie auffordernd an, abwartend, denn er wusste, was nun kam und weigerte sich einzuschlafen, bevor sie dieses Ritual beendeten.
„Und ein Gutenachtkuss von deinem Daddy."
Ein weiterer Kuss folgte, Charlottes Lippen danach zu einem traurigen Lächeln verzogen, wusste sie doch, dass Harry am liebten seine Küsse selbst verteilen würde. Doch das konnte er nicht, hatte Noah nicht einmal einen einzigen schenken können, weswegen sie das nun für ihn übernehmen müsste. Sie tat es, nicht bloß für ihren Sternenjungen, sondern für ihr gemeinsames Wunder. Sie tat es gerne, mit all der Liebe, Harrys Liebe und ihrer, größer als das Universum selbst.
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