| 51. UNTIL MIDNIGHT
[ ACT ONE: WILD HEARTS ]
[ CHAPTER FIFTY ONE: UNTIL MIDNIGHT ]
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GLIMMER LOVELACE
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❝IT❜S LIKE A DREAM. A WONDERFUL DREAM COME TRUE.❞
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IM ZIMMER WAR ES WARM.
Schneeflocken wirbelten vor der Fensterscheibe umher, der Wind heulte bedrohlich.
Glimmer legte den Kopf schief, betrachtete ihr Spiegelbild.
Ihr Spiegelbild trug ein Kleid - nein, nicht ein Kleid - das Kleid, das Kleid aus der Boutique - der nicht zu verkaufende, rosafarbene Kristalltraum.
Nur war er nicht rosafarben - er war blau, ein helles, wunderschönes Blau - und kaum, dass sie das Zimmer betreten, und das Kleid, das auf dem Bett lag, emporgehoben hatte - staunend und entgeistert und verzaubert - da wusste sie, von wem es stammte.
( Thor. )
Sie war sich absolut sicher gewesen - noch bevor sie die vertraut wirkende Einladungskarte erblickt hatte - dazu die schmale, hellblaue Maske mit dem Muster aus weißen Perlen - und die quadratische Notiz mit den sechs Worten, Worte, die sie in einen Freudentaumel versetzten; Worte, die ihr das Gefühl gaben, dass dieser Tag vielleicht doch nicht so schauderhaft enden müsste, wie sie es denn erwartet hatte ...
( Ich sehe dich auf dem Maskenball. Thor. )
Sonst nichts.
Keine Erklärungen - ja nicht einmal die Frage, ob sie überhaupt zustimmen würde.
( Natürlich stimmte sie zu. )
Sie hatte das Kleid angezogen.
Die Maske aufgesetzt; war in silberne Stilettos geschlüpft.
Die blonden Haare geglättet und sorgfältig auf eine Seite drapiert; das übertriebene Interviewmakeup durch einen einfachen Lidstrich und schimmernde Flatterwimpern ersetzt.
Sie hatte ihre Mentoren angelächelt; sie hatte Marvel eine Gute Nacht gewünscht - und jetzt wartete sie darauf, dass etwas passierte, irgendetwas, dass Thor kommen, und sie zum Ball bringen würde, oder -
Es klopfte.
Glimmer hastete zur Tür, öffnete jene einen Spaltbreit, und lugte hinaus.
( Ihr Herz pochte schmerzhaft gegen ihre Rippen - war das die Aufregung? )
Vor ihr stand ein Friedenswächter.
( Nicht Thor. )
Nein - ein Fremder, ein Mann mittleren Alters, mit dunkelblondem Haar und tiefliegenden Augen; ein Mann mit zerfurchtem Gesicht; jemand, der -
Glimmer bekam Panik, wollte die Tür bereits wieder zuschlagen, da -
»Nur die Ruhe, Miss Lovelace. Ich bin nicht hier, um sie verhaften. Thor schickt mich.«
Seine Stimme war angenehm, jedoch alles andere als beruhigend. Auch seine Worte beruhigten sie nicht.
»Wieso ist er nicht selbst hier?«
»Sie treffen ihn in einer Kusche unweit des Trainingscenters. Wenn Sie mir nun bitte folgen würden.«
Glimmer haderte mit sich.
Was, wenn dies eine Falle war? Ein Test, was wenn -
Der Friedenswächter war bereits vorausgegangen, den Flur entlang.
Ehe Glimmer es sich anders überlegen konnte, schloss sie ihre Zimmertür hinter sich, und hastete ihm hinterher.
Die feenhaften Flurlichter waren deaktiviert worden - alles wirkte dunkel und verlassen.
( Kalt. )
Der Friedenswächter wartete im Fahrstuhl auf sie.
Er sagte nichts, als sie hineintrat, atemlos, noch immer misstrauisch - er zog nur einen purpurnen Schlüssel aus seiner Uniform und hielt diesen vor das Tastenfeld der Glaskabine.
Ein Summen ertönte und die Türen schlossen sich.
Sie fuhren nach unten - an der menschenleeren Eingangshalle vorbei, tiefer, immer tiefer, stiegen schließlich in einem schwarz marmorierten Gang aus; bahnten sich einen Weg durch die verzweigten Flure des Untergrunds, und kamen schlussendlich auf einer spärlich beleuchteten Straße, unweit des Trainingscenters, heraus.
Von irgendwoher ertönten Stimmen.
Noch immer rieselte der Schnee zu Boden, bedeckte die gepflasterten Straßen und gläsernen Gehsteige mit einem dünnen, weißen Teppich.
»Wir sind da.«
Vor Glimmers Augen befand sich eine altmodische Kutsche, die von zwei schwarzen Pferden gezogen wurde.
Fünfmal klopfte der Friedenswächter an die Kutschentür - zweimal schnell, dreimal langsam.
»Dillon?«
»Sir«, antwortete Glimmers Begleiter in respektvollem Ton.
Die Kutschentür öffnete sich und Thor spähte hinaus.
Als seine Augen Glimmer fanden, schenkte er ihr ein Lächeln.
»Irgendwelche Probleme?«, erkundigte er sich bei seinem Kollegen, während er ihr in die Kutsche half.
»Keinerlei Schwierigkeiten, Sir. Sehen Sie nur zu, dass Sie sie rasch wieder zurückbringen, bevor Sanders um zwei Uhr Wache hat«, bemerkte Dillon, und warf Glimmer, die nun gegenüber von Thor auf der gepolsterten Bank Platz nahm, einen schnellen Blick zu.
»Keine Sorge«, meinte Thor. »Wir verschwinden um Mitternacht. Und Dillon - damit sind wir quitt.«
Der Angesprochene neigte leicht den Kopf, schloss die Tür, und sprang auf den Kutschbock.
Einen Augenblick später setzte sich das Gefährt in Bewegung.
Neugierig spähte Glimmer aus dem Fenster - durch den Seidenvorhang konnte sie kaum etwas erkennen, und auch das Schneetreiben hatte zugenommen. Sie spürte, wie sie sich eine Anhöhe hinaufkämpften, doch sie konnte nichts sehen - nichts, rein gar nichts.
Enttäuscht zog sie den Kopf zurück.
Stille füllte das Innere der Kutsche - eine bedrückende Stile, die sich um ihren Hals legte, ihr die Luft abschnürte -
»Ich - das Kleid ist wunderschön. Vielen, vielen Dank«, durchbrach sie hastig das Schweigen, lächelte unsicher.
»Du brauchst dich nicht zu bedanken. Es steht dir vortrefflich. Blau ist eindeutig deine Farbe.«
Thor selbst trug einen schwarzen Schimmeranzug mit goldenen Akzenten. Seine Maske war im Gegensatz zu ihrer unglaublich schlicht - pechschwarz, mit einem bronzenen Rand.
Glimmer nickte und wandte den Blick ab, von seiner knappen Antwort verunsichert.
Er war so schweigsam.
So abweisend.
( So kalt. )
Oh, er musste sie verurteilen.
( Wie könnte er es nicht? )
Sie dachte daran, wie sie sich während des Interviews verhalten hatte - dachte an die verächtlichen Blicke der anderen Tribute, die spöttischen Kommentare, die -
»Ich - es war - es war nicht echt«, platzte Glimmer heraus.
Thor hob träge eine Augenbraue.
»Was war nicht echt?«
»Das - das Interview. Wie ich mich verhalten habe, was ich gesagt habe ... es war nicht echt, es war - es war alles gespielt«, meinte sie gepresst, sich selbst dafür verabscheuend, dass sie es zugelassen hatte; dass sie sich so präsentiert hatte - als wäre sie nichts als ein billiges Flittchen - dass er sie so hatte sehen müssen ...
»Glaubst du, ich weiß das nicht?« Seine Stimme klang schroff. »Denkst du, ich würde dich dafür verurteilen?«
»Ich - ich weiß es nicht«, antwortete sie kläglich, unbestimmt mit den Schultern zuckend. »Ich könnte es verstehen. Ich hasse mich selbst dafür, dass ich es erlaubt habe, dass-«
Glimmer brach ab und räusperte sich.
Sie hasste diesen weinerlichen, quengeligen Tonfall, den ihre Stimme angenommen hatte.
»Es ist nur - ich schäme mich so«, stieß sie flüsternd hervor und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Nein, nein, nein - sie durfte jetzt nicht weinen, das würde alles ruinieren! Er sollte es doch nicht bereuen, sie mit zu diesem Ball genommen zu haben ...
Nicht weinen, ermahnte sie sich kalt. Ihre Hände umklammerten die Sitzbank; die scharfen Fingernägel gruben sich in den plüschigen Bezug. Fang jetzt bloß nicht an zu heulen.
»Ich weiß nur zu gut, wie es ist, anderen etwas vorzuspielen - Leuten das Gefühl zu geben, man würde einem bestimmten Ideal entsprechen - glaub mir«, sagte Thor, nun mit deutlich einfühlsamerer Stimme als zuvor. »Du darfst dich selbst nicht dafür verurteilen. Das, was du heute tun musstest, hat weder etwas mit deiner Vergangenheit zu tun, noch macht es den Menschen aus, der du wirklich bist.«
Glimmer nickte stumm, den Kopf noch immer gesenkt.
Sie spürte seinen Blick auf ihr lasten, prüfend und - besorgt?
»Wie ist es so?«, fragte sie leise, um das Thema zu wechseln.
»Wie ist was so?«
»Das Leben als Friedenswächter.«
Thor zuckte mit den Achseln. »Nun, es ist ... Ich kann nicht sagen, dass es mir Freude bereitet, Menschen zu foltern und Snow täglich ausführliche Berichte zu erstatten, aber ... es ist das, was ich nun mal tue. Ich kenne nichts anderes.«
Glimmer nickte. Ihre Hände spielten mit der Kordel der Seidenvorhänge.
»Du hast mir erzählt, du hättest früh angefangen, Friedenswächter zu werden. Wann genau?«
Thor lächelte schmal.
»Du bist heute wirklich erstaunlich neugierig.«
»Ich versuche nur, Konversation zu machen«, antwortete sie lahm und lächelte unbestimmt.
In Wahrheit hatte sie Angst.
Angst, erneut in dieses bedrückende Schweigen zu verfallen, Angst, dass er sie, seinen Worten zum Trotz, verurteilte ( wie sie sich selbst noch immer verurteilte ) - Angst, dass -
»Nachdem mein Vater entschied, dass ich in die Fußstapfen meines Bruders treten sollte, habe ich mich an der Trainingsakademie des Kapitols eingeschrieben«, durchbrach Thors Stimme ihre Gedanken. Glimmer sah auf. Sie war mehr als überrascht, dass er ihr das tatsächlich anvertraute. »Da war ich sechzehn Jahre alt. Du musst wissen, der Name Crane öffnet einem viele Türen - statt der vorgeschriebenen sechsjährigen Ausbildung, erhielt ich meinen Abschluss mit Mitte zwanzig - und schon nach zwei Monaten in der Kommandozentrale, sorgte mein Vater dafür, dass ich einen ernsthaften und äußerst wichtigen Auftrag bekam.«
»Was für einen Auftrag?«
Thor lächelte erneut.
Es war ein kaltes, gefährliches Lächeln, drohend und einschüchternd.
( Sie kannte dieses Lächeln. )
Dann verschwand das Lächeln, wurde ersetzt durch einen prüfenden Blick, ein Mustern, das sie zu verbrennen schien.
Er überlegt, ob er mir vertrauen kann, begriff sie langsam.
Ein glühend heißer Schmerz durchfuhr sie.
Oh, und wie er ihr vertrauen konnte.
( Glimmer wusste nur zu gut, was er in jenem Moment vor sich sehen musste; wen er in jenem Moment vor sich sehen musste: Jemanden, der in der Vergangenheit nie den Mund aufgemacht hatte - trotz zahlreicher Gelegenheiten, trotz zahlreicher Grausamkeiten, die sie mit ihren eigenen Augen erblickt hatte; jemand, der schwach war, der alles mit sich hatte machen lassen - zu nett, zu ehrlich, um wichtige Informationen als Druckmittel zu verwenden - )
»Ich war der Leibwächter der Prinzessin.«
Glimmer stockte der Atem.
»Prinzessin? Prinzessin - Prinzessin Estelle?«
Thor nickte knapp.
»Aber - aber sie ist - sie ist tot«, flüsterte Glimmer leise.
Prinzessin Estelle LaCroix Snow, einziges Kind des Präsidenten, starb während eines rauschenden Festes auf ihren Privatgemächern - ein Attentat, wie der Palast verkünden ließ. Der Täter wurde nie gefasst.
Und Thor ...
»Was ist - was ist passiert?«
»Ich habe mich zu sehr in gewissen Gefühlen verloren, und meine Aufgaben dadurch nicht ordnungsgemäß erledigt«, erklärte er kurz angebunden.
Glimmer schwieg bedrückt. Sie war eindeutig zu weit gegangen. Jetzt war er wütend - was kein Wunder war, wie hatte sie auch so sein können, so achtlos, so neugierig -
»Danach wurde ich als Wachmann eingesetzt, wie du ja weißt«, meinte Thor nun, in versöhnlicherem Tonfall.
Glimmer nickte rasch. Ihre Finger spielten mit einer ihrer Haarsträhnen, sie traute sich kaum, aufzusehen.
»Es tut mir leid, falls ich dich verärgert habe«, sagte sie schließlich und hob das Kinn. »Das lag nicht in meiner Absicht.«
»Das braucht es nicht. Es alles in Ordnung«, erwiderte der Friedenswächter, und lehnte sich in seinem Sitz zurück.
Just in diesem Moment kam die Kutsche zum Stehen.
Etwas knallte laut, dann öffnete sich die Tür.
»Wir sind da«, verkündete Dillon, und eilte dann nach vorn, um die Pferde zu versorgen.
Thor kletterte als erster hinaus, bot Glimmer dann seine Hand an, welche sie dankbar ergriff.
Der Schneefall war inzwischen weniger geworden; vereinzelte Flocken landeten auf dem cremefarbenen Steinboden der kreisrunden Auffahrt.
Auf dem Berggipfel, weit über ihren Köpfen, thronte das Haus von Hoshi Husaki, davor, eine Kristallglastreppe mit gut zweihundert Stufen. Der Himmel wurde erhellt von bunten Feuerwerkskörpern.
Thor lächelte und bot Glimmer seinen Arm an.
»Nun denn - wollen wir?«
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DAS HAUS - ODER BESSER, DIE VILLA, IN DER DER PRÄCHTIGE MASKENBALL STATTFAND, WAR UMWERFEND, WIE EIN KLEINER PALAST.
Goldene Stuckverzierungen, kristallbesetzte Kronleuchter und cremefarbene Steinböden; purpurfarben gekleidete Dienstboten, Tabletts voller Köstlichkeiten, kristallverzierte Champagnerflöten; die sehnsuchtsvollen Klänge eines Streichorchesters, das leise Rascheln farbenfroher Ballkleider, und die vielen kunstvollen Maskierungen - alles war um so vieles prachtvoller, um so vieles beeindruckender, als Glimmer es sich je hätte vorstellen können.
»Gefällt es dir?«, fragte Thor, als sie an seinem Arm die breite Steintreppe hinunter, in den kreisrunden Ballsaal schritt.
»Es ist traumhaft«, entgegnete sie freudestrahlend und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. »Oh, es ist wunderschön. Danke, vielen, vielen Dank.«
Thor lächelte.
»Es freut mich, dass du so empfindest. Champagner?«
Glimmer nickte eifrig, noch immer überwältigt von der Schönheit des Hauses und der märchenhaften Atmosphäre.
Die Gärten, das Feuerwerk, die vielen Kutschen, und nun dieser traumhafte Ballsaal ...
Es war so wunderschön.
Besser noch, als in jedem Märchen.
»Willst du tanzen?«, fragte Thor.
Glimmers Blick traf seinen, und sie nickte langsam.
Zusammen betraten sie die Tanzfläche.
Der Friedenswächter legte seine Hand um ihre Tallie - und dann schwebten sie inmitten fünfzig anderer Paare durch den Saal. Glimmer hatte keine Schwierigkeiten, sich in dem einfachen Walzer zurechtzufinden - in Distrikt eins war es Tradition, jedes Jahr einen Tanzkurs zu besuchen.
Nachdem sie eine Stunde lang getanzt hatten, taten ihr die Füße weh, und sie machten sich stattdessen über die vielen Köstlichkeiten des Buffets her.
Eine Glocke schlug.
Noch eine Stunde.
Eine Stunde, und sie waren gezwungen, den Ball wieder zu verlassen, und ins Trainingscenter zurückzukehren. Und dann - nur noch eine einzige Nacht, bis sie am nächsten Tag -
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Thor in diesem Moment.
Inzwischen hatten sie in einem kleinen Restaurantbereich Platz genommen, unweit von der Tanzfläche entfernt.
Glimmer nickte stumm, verputzte den letzten Rest ihrer Zitronencremeschnitte, und ließ den Blick dann erneut durch den Raum schweifen - versuchte alles in sich aufzunehmen; die gewölbten Fenster aus Kristallglas, die weißen Flocken, die wie wild in der Nacht umherwirbelten, die vielen Gäste in ihren prächtigen Ballkleidern - ja, selbst die Kapitolbewohner, die eng beieinander standen und über die neusten Entwicklungen tratschten.
Sie wandte sich ab, ein wehmütiges Lächeln auf den Lippen.
Thor überreichte die leeren Teller derweil einem herbeieilenden Dienstboten.
Glimmer räusperte sich.
»Lust, den Abend mit ein paar Tänzen ausklingen zu lassen?«
Der Friedenswächter stöhnte unterdrückt, offenbar gar nicht begeistert von dieser Idee - gab sich dann jedoch geschlagen, und ließ sich von ihr auf die Tanzfläche ziehen, wo sie sich zu den anderen Gästen gesellten, und sich im Takt der festlichen Musik im Kreis drehten.
»Bist du glücklich?«, fragte Thor leise - nachdem sie bereits fünfundzwanzig Minuten lang getanzt hatten - und zog sie in eine letzte, schwungvolle Drehung, woraufhin sie sich kichernd an seiner Schulter festhielt.
Glimmer nickte strahlend. »Sehr.«
Das stimmte. Es war ein zauberhafter; ein wunderbarer, magischer Abend gewesen.
»Ich bin sehr glücklich.«
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WIE EINE WAND AUS EIS SCHNITT DIE KALTE NACHTLUFT IN IHR GESICHT.
Glimmer fröstelte.
Sie war nur kurz auf der Toilette gewesen - Thor hätte im Ballsaal auf sie warten sollen, doch als sie zurückkam, war er unauffindbar gewesen.
Nun stand sie hier, auf dem steinernen Balkon, unweit des Buffets, und hielt nach ihm Ausschau.
Wo konnte er bloß sein?
( Dort. )
Ein Schatten.
( Thor. )
Düster starrte der Friedenswächter auf die steil abfallenden Klippen unter dem Balkon - und auf den See, der sich vor ihnen erstreckte; der bis zum Horizont zu reichen schien.
»Thor?«
Er sah auf. In seinen Augen, im Licht der Laternen dunkelblau schimmernd, tobte ein Sturm.
»Ist alles ...?«
In Ordnung, beendete sie in Gedanken stumm, verunsichert von der Kälte, der Ablehnung, die er so plötzlich ausstrahlte.
Thor schüttelte den Kopf, kam mit raschen Schritten auf sie zu, überlegte es sich dann jedoch anders, hielt inne, wandte sich um, starrte düster in die Nacht hinein.
»Es tut mir leid.«
»Was dir leid?«
Der Friedenswächter fuhr sich gereizt durch die Haare, hätte dabei fast seine Maske heruntergerissen. »Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt - Nun, im Grunde habe ich das schon, aber das spielt keine Rolle, wo es so viel gibt, das du nicht weißt, und ich-«
»Thor, das ist - das ist jetzt egal-«
»Nein, ist es nicht. Verstehst du es denn nicht? Du - du bist so - so liebenswürdig, so gut, und ich - In meinem Innern weiß ich, dass du nichts von dem verdient hast, was du erhalten wirst - gleichzeitig kann ich dich kaum davor bewahren. Ich fühle mich ... komplett hilflos. Etwas, das ich so nicht gewohnt bin. Und es macht mich ... es macht mich wütend«, sagte er und ballte die Fäuste.
Glimmer wusste nicht, was sie daraufhin tun sollte - sie wusste nicht, was sie sagen sollte; ob sie wütend sein sollte, oder traurig, oder -
»Estelle - Estelle war ein liebes Mädchen - zumindest, bevor er sie verdorben hat«, meinte Thor urplötzlich, ohne sie zu beachten, als wollte er es einfach loswerden, als spräche er gar nicht mit ihr, sondern mit jemand ganz anderem - vielleicht auch nur mit sich selbst.
»Wer?«, fragte Glimmer leise und trat ein Stück weit an ihn heran. »Ihr Vater?«
»Nun ja - aber sie hatte zumindest den Mut, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, auch wenn er natürlich ein Monster aus ihr gemacht hat.«
Er zuckte mit den Achseln, teilnahmslos, als würde es ihn nicht kümmern.
»Aber sie war - sie hatte - ihre Momente - Momente, in denen sie gütig war. Gütig und liebevoll und freundlich, und - sie war meine beste Freundin. Sie hat mir vertraut, in einer Zeit, wo man niemandem vertrauen konnte. Ich habe sie geliebt.«
Seine Stimme war nur mehr ein Zischen. Als bereite es ihm seelische Qual, sich dies überhaupt einzugestehen.
Glimmer schluckte schwer, verdrängte den Anflug der Eifersucht, der bei diesen Worten an die Oberfläche drang. Sie hatte kein Recht, eifersüchtig zu sein.
»Und sie ...?«
»Sie hat ihn geliebt«, erwiderte er flach. »Iron Gold. Sieger der siebenundfünfzigsten Hungerspiele. Den Sieger, den niemand kontrollieren konnte - auch nicht Präsident Snow.«
»Aber - aber Iron Gold war ...«
»Ein Held? Der Retter eures Distrikts - der Häuser wiederaufbaute, Kindern in Not half, und Distrikt eins in einen Ort der Schönheit verwandelte?«
Glimmer senkte den Kopf. Dies hatten ihr zumindest ihre Geschichtsbücher zu vermitteln versucht.
»Sie haben dich belogen«, sagte Thor leise, beinahe mitfühlend. »Iron Gold war kein Held. Er war ein Monster.« Er schüttelte den Kopf, in Gedanken offenbar ganz woanders. »Oh, ich kenne die Geschichten, die sie erzählen, die Legenden, die sich um ihn ranken. Es ist alles gelogen. Er scherte sich einen Dreck um die Armen und Bedürftigen, und ganz sicher hatte er kein Interesse daran, die Welt zu verbessern - erst recht nicht das Waisenhaus, aus dem er stammte. Das war ihre Idee. Sie wollte das Volk damit auf ihre Seite bekommen. Sie hoffte, wenn alle Welt ihn liebte, würde ihr Vater ihnen erlauben, zu heiraten. Iron hat sie machen lassen - ihn hat nie etwas anderes interessiert, als sie zu heiraten, und damit die ultimative Kontrolle über Panem zu erhalten. Oh, natürlich hat er sie geliebt - irgendwie, auf seine Art. Er hätte wohl alles für sie getan - und sie für ihn. Aber am Ende - er war grausam, machtbesessen und manipulativ, und er hat sie zerstört.«
In seiner Stimme schwang so viel Hass mit, so viel Wut.
Glimmer wandte den Blick ab, starrte auf die perfekt marmorierten Fliesen des Balkons.
»Das - das tut mir leid«, wisperte sie.
»Nun, es ist lange her. Zu lange. Ich weiß nicht mal, wieso es mich überhaupt noch kümmert.«
Irgendwo knallte eine Tür und Glimmer zuckte zusammen.
»In all der Zeit, trotz allem - ich habe nie ein Band gesehen, das stärker war, als ihres. Wahre Liebe, nannte sie es. Es hat mir das Herz gebrochen, zu sehen, wie sie sich veränderte. Ich war beinahe froh, dass sie gegangen ist.«
Glimmer runzelte die Stirn.
»Gegangen?«
Thor räusperte sich, ein schuldbewusster Ausdruck huschte über sein Gesicht.
»Nun - auch das war eine Lüge. Dass Estelle bei einem Attentat ums Leben kam; dass Iron infolge einer Explosion beim Wiederaufbau eines Krankenhauses starb - aber es war eine plausible Ausrede - schließlich durfte niemand erfahren, dass Panems Prinzessin sich mitsamt des goldenen Siegers auf und davon gemacht hat.«
Glimmer sog scharf die Luft ein.
»Also sind Prinzessin Estelle und Iron Gold am Leben?«
Thor zuckte mit den Achseln.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber es wäre schön - nicht wahr? Eine Liebesgeschichte mit Happy End. Sowas hören wir doch alle gern.«
Seine Stimme war durchtränkt von Bitterkeit.
»Sie hat dich im Stich gelassen«, begriff Glimmer. Tiefes Mitgefühl durchströmte sie. »Sie hat dir nichts von ihren Fluchtplänen erzählt.«
Thor schüttelte stumm den Kopf.
»Nein.«
Die Blondine schluckte, legte dann, einem Instinkt folgend, die Hand auf seinen Arm.
»Es tut mir so leid. Sie - sie hatte dich nicht verdient.«
»Da hast du Recht«, schnaubte er. »Aber wie kann ich sie hassen - wie kann ich sie verurteilen, wenn ich selbst nicht besser bin?«
»Wie meinst du das?«
»Nach allem, was ich dir angetan habe - nach allem, was man dir noch antun wird - du solltest es wirklich besser wissen, als nun mit mir hier zu sein.«
»Aber das bin ich«, sagte Glimmer leise. »Und ich bereue es nicht.«
»Solltest du vielleicht.«
»Vielleicht. Aber das ist nicht deine Entscheidung«, flüsterte sie.
Der Schneefall nahm zu. Flocken verfingen sich in ihrem goldenen Haar und auf Thors schwarzer Kleidung.
Eine Uhr schlug zwölf.
( Mitternacht. )
»Danke für den schönen Abend«, wisperte Glimmer, und ein sanftes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Das war so viel mehr, als ich mir je erträumt habe.«
»Und doch war es weniger, als du verdient hättest«, merkte er an.
Seine Hände verirrten sich in ihrem Haar, rückten die Bänder ihrer Maske zurecht, welche zu verrutschen drohte.
Glimmer hatte plötzlich Mühe, zu atmen.
Die Glockenschläge nahmen zu.
Im Ballsaal wurde Gelächter laut, Gläser klirrten.
Er wird dich zerstören, zischte ihr Unterbewusstsein ihr zu.
( Ich weiß. )
Es ist wie damals -
Ist es nicht, dachte Glimmer leise. Es ist ganz anders als damals.
Und als ihre Lippen sich schließlich zu einem Kuss trafen, da schaltete Glimmer ihr Unterbewusstsein aus - machte die Tür zu, warf den Schlüssel weg.
Es war ihr egal. Egal, was richtig war - was vernünftig gewesen wäre
Sie wollte das hier.
Ein perfekter Abend.
( Ein Happy End. )
Als sie sich schließlich voneinander lösten, war ihr schwindelig; der Boden schien sich unter ihren Füßen zu verlieren, und sie befürchtete, jeden Moment hinunter in den spiegelglatten See zu stürzen.
Türen knallten an die Wand, Stimmen wurden laut, und Schneeflocken wirbelten umher.
»Wir sollten gehen«, meinte Thor leise und ergriff sanft Glimmers Hand.
Sie nickte atemlos und folgte ihm die gewundene Treppe hinunter; an der Rückseite der Villa entlang, bis zur kreisrunden Auffahrt, in der Dillon mit der Kusche wartete.
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SIE STAND VERLOREN NEBEN DEM BETT, WÄHREND THOR DAS ZIMMER, IHR ZIMMER, ÜBERPRÜFTE.
Kameras, Abhörgeräte - irgendetwas, das darauf schloss, dass jemand ihr Verschwinden bemerkt hatte.
»Und?«
»Nichts zu finden. Wir haben wohl Glück gehabt.«
Sein Lächeln erschien ihr gezwungen; ihr eigenes war jedoch kaum ehrlicher.
Sie beide wussten nicht, was sie sagen sollten - und noch weniger, was sie tun sollten.
»Glimmer?«
»Was?«
»Ich habe gehört, dass ihr morgen bei Sonnenaufgang geweckt werdet. Du sollest etwas schlafen.«
Seine Stimme war voller Mitgefühl, als wüsste er ganz genau, dass dies wohl leichter gesagt, als getan war.
Glimmer schwieg.
( Wie sollte sie diese Nacht bloß überstehen? )
»Was hast du?«
»Ich weiß nicht, ich - ich will nicht undankbar erscheinen. Heute Abend war mehr als ich mir gewünscht habe, aber - es - es bringt mich um, zu wissen, dass - Ich könnte morgen sterben. Und ich kann nicht - ich hab so furchtbare Angst, und ich kann Marvel nicht damit belästigen, weil ich es ihm nicht noch schwerer machen will, und-«
»Willst du, dass ich bleibe?«
Sie nickte stumm, fürchtete die unvermeidliche Zurückweisung, die nun folgen musste.
»Dann bleibe ich«, sagte er schlicht.
Glimmer traute ihren Ohren kaum.
»Danke«, stammelte sie und warf sich in seine Arme, drückte ihm verzweifelte Küsse auf die Lippen. »Danke, danke, danke-«
Der Friedenswächter ließ sie gewähren - doch dann, plötzlich, schob er sie von sich, schüttelte den Kopf.
»Was ist?«
»Ich bleibe bei dir - ich bin für dich da, aber das - das ist keine gute Idee«, sagte er leise.
Glimmer wich zurück.
Er hatte Recht. Es war nicht klug, es war nicht vernünftig, es war vor allem nicht richtig - Doch in seinem Blick erkannte sie, dass er seine Worte zwar durchaus ernst meinte - dies aber nichts daran änderte, dass er sie wollte -
( Gleichzeitig wollte er allerdings nicht dafür verantwortlich sein, falls sie es bereute. )
»Ich habe mein Leben lang falsche Entscheidungen getroffen«, flüsterte Glimmer, in Gedanken bitter auflachend. ( Mach es nicht kaputt, ermahnte sie sich. Es ist nicht wie damals, es ist - ) »Wieso jetzt damit aufhören?«
( Schweigen. )
»Was willst du, das ich tue?«, fragte Thor schließlich, nicht mehr kalt, nicht mehr abweisend -
»Küss mich.«
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DAS GLAS UNTER IHREN FINGERN WAR KÜHL.
Die Welt schien sich gegen sie verschworen zu haben - selbst die Schneeflocken vor dem Fenster wirbelten zornig umher, wurden ab und an von eisigem Regen abgelöst, der gegen die Scheibe prasselte.
Thors gleichmäßige Atemzüge füllten den Raum.
Glimmer wandte sich von der Glasscheibe ab und huschte zurück ins Bett, ließ sich in die weichen Kissen sinken, zog sich die Decke bis über das Kinn.
Ihr Unterbewusstsein verhöhnte sie.
( Verurteilte sie. )
Zu recht?
Nein, dachte sie. Ich habe nichts falsch gemacht. Ich habe nicht - Es ist nicht wie bei -
Sie spürte, wie ihr der Atem stockte.
Panik überkam sie.
( Oh, nein, nein, nein - )
»Ich bin in Sicherheit«, wisperte Glimmer, ein stetiges Mantra.
In Sicherheit, in Sicherheit, in Sicherheit -
Panik vermehrte das Auftreten der Erinnerungen.
( In Sicherheit. )
Doch es half nicht. Ihr Herz raste, Panik machte sich in ihr breit, sie -
( Ein kaltes Badezimmer. Eiskalt. Die dünne Tapete drohte sich von den Wänden zu lösen. Ein Fenster, eine gesprungene Scheibe. Überall roch es nach Lavendel. Sie hasste Lavendel. Eine Hand, eine starke Hand, die sich um ihren schlanken Hals legte - ihr mit einem blütenweißen Tuch das goldene Haar wusch. Eine Stimme. Seine Stimme. Scherben. Blutspuren. )
Ich bin in einen Tisch gefallen, erinnerte sie sich, und ihr entfuhr ein Wimmern.
( Ein dunkles Lachen. )
Ich bin in einen Tisch gefallen - und - und jetzt ist überall Glas, überall Blut -
Er hat mich hineingestoßen.
Nein, nein, nein -
In Sicherheit, in Sicherheit -
( Eine dunkle Gasse. Überquellende Müllsäcke. Laute Stimmen. Ein Messer und ein weißes Kleid - )
»Ich bin in Sicherheit«, flüsterte Glimmer, bohrte ihre Nägel in die Decke. Sie zwang sich dazu, die Augen offen zu halten, nicht zu blinzeln -
( Es brannte. Alles brannte, alles tat weh. )
NEIN.
»Nicht einschlafen«, ermahnte sie sich, tastete in der Dunkelheit nach Thors Arm, wollte sich von ihm in die Gegenwart zurückholen lassen, doch -
Sie spürte, wie ihr die Augen zufielen.
Ihre Hand verweilte auf der Matratze.
Dann spürte sie nichts mehr - außer Schwärze.
( Und dann rannte sie. )
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( author's note: )
Mᴇʀʀʏ Cʜʀɪsᴛᴍᴀs, ɪʜʀ Lɪᴇʙᴇɴ!
ich wünsche euch von ganzem herzen ein wundervolles weihnachtsfest! ich hoffe, all eure wünsche gehen in erfüllung - auf dass ihr viel spaß habt & eine schöne zeit mir euren lieben verbringt!
noch ein weiteres kapitel wird kurz vor jahresende veröffentlicht werden - das allerletzte, was act eins betrifft, danach kommen wir zu ( strange lands ) beziehungsweise zur arena. danken möchte ich an dieser stelle jedem, der mich seit anfang dezember unterstützt hat - TheDarkTemptation, Rosexstory, July112, Chrissitinchen, BlackGirlNumber1, AnnixEspinosax und Bananenmatsch. frohe weihnachten, ihr lieben! ich werde nun mal märchen & ein paar biathlonwiederholungen schauen, bis bei uns die bescherung anfängt. ich wünsche euch allen fröhliche weihnachten & besinnliche feiertage!
➤ dieses kapitel ist meiner schwester TheDarkTemptation gewidmet. du warst ( außer mir selbst natürlich ) wahrscheinlich die erste, die glimmer & thor geshippt hat, also hast du dir diese ehre verdient - außerdem hatte ich es ja versprochen! ich liebe dich, mausi! ich hoffe, wir verbringen ein wunderschönes weihnachtsfest ♥
➤ des weiteren wollte ich euch nur informieren, dass ich morgen ( 25. DEZEMBER 2O17 ) eine zweite geschichte auf wattpad posten werde - eine, von meinem lieblingsfilm ( anastasia ) inspirierte story namens BEAUTIFUL TRAGEDY.
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