9 - Tag X der neuen Zeitrechnung
Laurie
Wo bin ich hier? Ich höre ein Summen, entfernt, elektrisch. Sehen kann ich nichts, noch nicht. Meine Augen haben sich noch nicht an diese Dunkelheit gewöhnt. Erst nach und nach kann ich Schatten von schwachen Lichtern unterscheiden. Der Raum scheint nicht gross zu sein. Ich mache etwas aus, das nach einer Toilette ausschaut - und riecht. Boah. Mein Kopf brummt. Worauf ich liege, kann ich nicht sagen. Es scheint eine Pritsche mit einer billigen Matratze zu sein. Langsam setze ich mich auf. Sofort beginnt eine kleine Glühbirne an der Decke zu leuchten. Bewegungsmelder. Ihr schwaches Licht blendet mich kurz, dann kann ich den Raum überblicken.
Er ist ungewöhnlich hoch, fensterlos. Die Glühbirne hängt an ihrem kurzen Kabel von der Decke. Neben der blechernen Toilette hängt ein Waschtisch an der Wand, in der Ecke scheint es eine Art Dusche zu haben, ohne Vorhang. Das ist eine Gefängniszelle. Bravo, Laurie! Hast du super hingekriegt.
Das erinnert mich irgendwie an ein Buch, das ich mal gelesen habe. Da ging es um Jugendliche, in einem Bunker. Sie wurden alle verarscht. Doch das Ende kriege ich nicht mehr zusammen. Trotzdem lässt mich die Erinnerung erschaudern. Was geschieht hier? Wie spät ist es? Welchen Tag haben wir? Wie lange war ich bewusstlos?
Luzie! Erwache! Höre auf zu heulen und nimm dein Schicksal als Herausforderung an! Du hast dich hierher gebracht - nun bring dich wieder raus!
Schon eigenartig, was mit einem geschieht, wenn man allein in einem dunkeln Raum sitzt. Luzie und Laurie streiten sich in meinem Kopf um die Wette, Catfight vom Gröbsten - und ich habe Durst.
Ich höre Schritte. Die Person scheint vor meiner Türe stehengeblieben zu sein.
"Setz dich auf dein Bett!" Eine blecherne Stimme erklingt aus einem kleinen, runden Lautsprecher, der gleich neben der Lüftung, hoch oben bei der Decke hängt.
Ich tu wie befohlen. Eine kleine Klappe im unteren Bereich der Türe wird geöffnet. Zwei Hände stellen ein Tablett mit zwei Flaschen Wasser und einem zugedeckten Teller herein. Dann wird die Klappe geschlossen und die Schritte entfernen sich wieder.
Wasser! Ah, tut das gut! Ich leere die erste Flasche fast in einem Zug. Die zweite werde ich mir aufsparen, ich weiss nicht, wann es Nachschub gibt.
Mein Verstand muss eine Art Instant-Verstand sein: Mit dem Wasser erwacht er. Die können mich sehen. Es hat Kameras hier. Wenn ich die finde und verdecke, dann verbessere ich meine Situation. Essen!
Schmeckt nicht schlecht, das undefinierbare Eintopfgericht aus einer Art Fleisch, Gemüse und Reis. Am Koch haben sie sicher nicht gespart; danke! Frisch gesättigt, suche ich die Kameras.
War ja logisch: Sie liegen unerreichbar hoch oben, eine neben der Lüftung, eine bei der Glühbirne. Toll. Ich brauche einen neuen Plan. Zum Nachdenken lege ich mich auf meine Matratze. Nach wenigen Sekunden geht die Glühbirne aus.
***
Daniel Jones telefoniert mit einem Kollegen in Washington. "Definitiv ja. Wir brauchen eine grössere Truppe von Spezialisten. Technik, Aufklärung, Waffen - das volle Programm. Wir wissen noch nicht, womit wir es zu tun haben. Aber ich vermute, es könnten unsere ausgebüxten 'Freunde' sein. Also äusserste Vorsicht und Geheimhaltung!"
Claire hat sich unterdessen wieder gefasst und ist im CIA-Modus. "Danke, dass ihr uns informiert habt. Euer Handeln war leichtsinnig, aber wir werden versuchen, die Situation zu klären und vor allem Laurie zu finden. Verhaltet euch ab jetzt bitte ruhig. Kevin, du kommst mit mir. Meine Spezialisten haben bestimmt einige Fragen an dich."
Kevin nickt bloss. Danach verabschieden sich Danny und Claire von den Phengs mit dem Versprechen, sie auf dem Laufenden zu halten. Draussen wird es bereits wieder hell. Claire fährt mit Kevin im Pickup, Danny nimmt den Camaro. Zuhause setzen sie sich in den Büroraum im Keller.
"Wow. Davon hat mir Luzie nichts gesagt." Kevin ist beeindruckt.
Claire schmunzelt. "Sie weiss auch nichts davon. Diesen Raum kennt sie nicht. Das Haus wurde vor unserer Ankunft umgebaut. An die Arbeit. Wir haben zirka eine Stunde, bevor die Einheiten hier sind und die Presse über uns herfallen wird. Lasst uns die Zeit nutzen."
"Sie belügen Ihre eigene Tochter?"
"Belügen ist ein hartes Wort, Kevin. Beschützen, wäre wohl angebrachter. Wenn Laurie nicht weiss, wer wir sind und was wir tun, kann sie auch nicht zur Erpressung angegriffen werden und ist vor Fragen geschützt. Wir hätten sie informiert, an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag."
Danny erhält einen Anruf. "Claire - ich muss weg. Sie haben deinen Wagen gefunden!" Er eilt aus dem Haus, dann rauscht der Camaro dröhnend weg.
"Also, dann zeige mir mal, was du bisher entdeckt hast. Hier, diesen Computer kannst du nutzen."
Kevin setzt sich an das Gerät und tippt unglaublich schnell einige Befehle ein. Claire ist beeindruckt. Als Kevin im Netz ist, starrt er Claire an.
"Was ist das? Sie müssen eine gewaltige Leitung haben; so ein schnelles Internet habe ich noch nie erlebt."
Claire schmunzelt. "Du bist im militärischen, staatlichen Internet, Kevin. Wir haben leicht mehr Bandbreite als die Bevölkerung. Come on, zur Sache, was hat du?"
Kevin zeigt Claire alles, was er bisher gelesen und kombiniert hat. Sie setzt sich an den Computer neben ihm. Zusammen suchen sie nach weiteren Puzzleteilen, um sich ein besseres Bild von dieser Anlage machen zu können.
"Du bist gut. Nach dem College werden wir sehen, was wir mit dir machen. Entweder wir stellen dich ein oder du wanderst ins Gefängnis." Claire lacht, als sie das schockierte Gesicht Kevins sieht.
***
Danny rast mit seinem Wagen auf der I90 nach Osten. Bei Livingston zweigt er auf die 89 nach Süden ab. Den Wagen hat man bei Gardiner, am nördlichen Eingang zum Yellowstone Park entdeckt.
Bloss eine Stunde nach Abfahrt sieht Danny die blinkenden roten und blauen Lichter der Einsatzwagen. Zwei Armeefahrzeuge stehen ebenfalls da, die Touristen werden langsam um die Szene herumgeführt. Im Park gibt es Stau.
Danny stellt den Camaro auf den Seitenstreifen. Ein Uniformierter will ihn daran hindern, erkennt ihn aber und steht stramm. "Hi! Stehen Sie bequem. Wo ist der Wagen?"
"Dort hinten, Sir, bei der Brücke. Er liegt halb im Fluss."
Danny und der Soldat klettern über die klobigen Steine, die das Flussufer säumen. Halb unter der Brücke liegt Claires Toyota. Neben den Schleifspuren vom Unfall haben die Spurensicherer auch Kratzer entdeckt, die von einem Bären stammen könnten.
"Wir vermuten, der Wagen ist von der Strasse abgekommen und hier gelandet. Danach hat ein Bär die Insassen angegriffen. Hier ist Blut, aber wir wissen nicht, von wem."
"Dann finden Sie es heraus, zum Teufel! Es handelt sich hier auch nicht um 'die Insassen'. Das waren nicht mehrere, sondern eine junge Frau, meine Tochter. Finden Sie sie."
"Jawohl, Sir. Wir sind dran, Sir."
"Lassen Sie den Sir-Scheiss. Wir sind hier nicht in der Kaserne. Wir arbeiten zusammen und müssen aus dem hier", er zeigt auf den Wagen und das viele Blut auf den Steinen, "schlau werden und die Schuldigen finden. Das macht hier alles keinen Sinn."
"Jawohl, ... Sir." Danny verdreht die Augen. Er klettert wieder zur Strasse hoch und ruft Claire an.
"Schatz, es ist definitiv dein Wagen, kein Zweifel. Von Laurie keine Spur. Ausserdem liegt der Wagen unter einer Brücke im Fluss. Das kann unmöglich Laurie gewesen sein. So schlecht fährt sie nun auch nicht."
"Wo bist du? In der Nähe der Anlage an der Bridger-Road?"
"Ah, nein! Ich bin beim Yellowstone, in Gardiner."
"Was? Wieso denn da? Das macht keinen Sinn!"
"Sag ich auch. Aber dein Wagen liegt nun mal hier! Und wir müssen wohl versuchen herauszufinden, weshalb."
"Ich lasse Franklin verhaften. Die soll uns endlich etwas erzählen!"
"Sei vorsichtig, Claire. Noch haben wir nichts als Vermutungen, du hast nichts gegen sie in der Hand. Ich bleibe noch hier und leite die Bergung deines Autos. Vielleicht finden wir was."
Ein gewaltiger Abschlepper hält zischend hinter Dannys Camaro an.
***
Laurie
Wieder höre ich die Schritte; von zwei Personen, dieses Mal. Ich setze mich auf, das Licht geht an. "Bleib sitzen, wir kommen rein. Wenn du dich bewegst, erschiessen wir dich."
Dann bleibe ich besser sitzen. Der Riegel wird zurückgeschoben, die Türe schwenkt auf. Vor mir stehen ein Wärter und jemand, der wie ein Arzt aussieht. Sie tragen keine Waffen - das war ein Bluff. Arschlöcher!
Bevor ich meine eingerosteten Beine und Arme bewegen kann, hält mich der Wärter fest. Wow, ein Schraubstock. Der Arzt zückt eine Spritze mit einer weissen Flüssigkeit drin.
"Hey, was ist das?"
"Halt still, du wirst kurz schlafen." Er spritzt mir das Zeugs in den Hals, es brennt.
"Lass das! Ich will nicht schlafen. Ich will endlich wissen, ..." Wow, das ist echt guter Stoff. Der Arzt und der Schraubstock schweben weg. Die Glühbirne hat einen Schimmer wie der Vollmond, wenn es Nebel hat. Aber sie wird heller, es wird alles weiss, meine Muskeln werden schlaff.
Die Männer heben mich hoch, ich schlafe nicht voll, döse bloss, stelle mich jedoch schlafend. Auf einer Bahre liegend, schieben mich die Männer durch einen langen Gang. Die meisten Türen sind geschlossen, sie sind mit Zahlen beschriftet, wie Lagerräume. Nach einigen Minuten fahren wir an einer geöffneten Türe vorbei.
Menschen! Sie hängen von der Decke, an Schläuche angeschlossen. Blaues Licht. - Dann sind wir auch schon weiter. Ich bin verwirrt und schockiert zugleich. Wo bin ich da bloss reingeraten? Vage Erinnerungen an einen Film, den ich vor langer Zeit mit meiner Mutter geschaut habe, glimmen auf. Wie war das noch? Ich erinnere mich nicht. Wir halten. Der Arzt klopft an, öffnet die Türe und schiebt mich hinein.
"Mam, die Kleine zum Interview!"
"Danke dir. Wie lange schläft sie noch?"
Franklin!
"Nur noch Sekunden, sie sollte jeden Moment aufwachen."
Ein Telefon klingelt. Franklin nimmt den Anruf entgegen. "Was soll ich? Wohin? Okay, halten Sie die Stellung, ich komme. - Ich muss weg. Die CIA will mich an der Schule sehen. Wir müssen das hier verschieben. Bringt sie zurück in ihre Suite, bevor sie voll aufwacht. Und schliesst alle Türen unterwegs. Sie darf nichts sehen. Los!"
Ha! Das ist zu spät. Ich kenne dein Geheimnis schon, du Monster. Wir fahren den Gang zurück. Franklin eilt zu einem Aufzug.
***
Am Nachmittag sitzen Claire und Kevin auf der Veranda. Vor dem Schulhaus hat ein gewaltiger Sattelschlepper Stellung bezogen, die CIA-Spezialisten haben übernommen. Mobile Einheiten sind daran, die Überwachung des Industrieareals einzurichten.
"Wir haben eure Schulleiterin mit den Beobachtungen und Vorwürfen konfrontiert. Sie ist aalglatt, hat alles abgestritten und dafür stichhaltige Beweise geliefert. Wir können ihr nichts anhängen. Aber eure Beobachtungen und Nachforschungen waren trotzdem zu etwas gut. Wir werden das Areal überwachen, die Schule und auch die Frau weiter beobachten."
"Ich hoffe, Sie finden Laurie rechtzeitig."
"Was wollte sie? Was weisst du über sie?"
"Wir wollten den Filmabend machen. Bevor sie ging, sagte sie uns, sie müsse dringend mit Ihnen reden."
"Mit mir? Das war dann wohl die Ausrede. Wie hat sie von mir geredet?"
"Ehrlich? Nicht gut. Bevor ich Sie kennenlernen durfte, dachte ich, Sie seien eine langweilige, spiessige Kontrollmutter."
"So spricht sie von mir? Gut, obwohl es mir einen Stich ins Herz gibt. Aber dann hat meine Tarnung funktioniert. Immerhin das. Von dir schwärmt sie, hat Danny erzählt. Ihm erzählt sie alles."
"Ich mag sie auch ganz gut."
"Dann lass uns sie finden. Meine Einheit ist die beste, die es gibt. Ich bin zuversichtlich."
Ein klassischer Mustang biegt in die Strasse ein. Kevin springt auf. "Loupine!"
Claire greift sofort zum Telefon und ruft ihre Leute her. Die Blondine hat ihren Wagen unterdessen vor dem Haus geparkt und lässt Kevin zu sich rennen. "Nerdie! Tut mir leid, was passiert ist." Sie umarmen sich.
"Woher weisst du?"
"Nicht jetzt. Du solltest jetzt gehen, Kevin. Denn nun wird es hässlich."
"Halt! Das ist Luzies Mutter! Sie ist nett. Du wirst sie nicht fressen! Das lasse ich nicht zu!"
"Nicht doch, Dummerchen. Diesmal wird es andersrum sein. Und ich kenne Claire. Steig in deinen Pickup und fahre heim, bevor ich knurren muss. Bitte, Kevin."
Er versteht kein Wort, tut aber, was sie ihm aufgetragen hat. Die beiden Frauen stehen sich einige Minuten lang wortlos gegenüber, keine blinzelt, keine bewegt sich. Wie im Western, bevor die Schiesserei losgeht, denkt sich Loupine und schmunzelt. Anstelle der berühmten Melodie von Ennio Morricone erklingen die Sirenen.
"Echt jetzt, Claire? Du vertraust mir noch immer nicht!"
"Wenn du meiner Tochter etwas angetan hast, werde ich einen hübschen Wandteppich aus dir machen, Loupine!"
"Du weisst, dass du mich nie kriegen würdest, wenn ich nicht freiwillig hier wäre. Also lass die Kavallerie weg. Wir müssen reden."
"Ich wüsste nicht, worüber wir reden sollten. Du hast schon wieder vier Menschen auf dem Gewissen."
"Du weisst, was ich bin. Verhafte mich deswegen, wenn du das musst. Aber du brauchst meine Hilfe, und das weisst du auch."
Die Beamten wollen Loupine festnehmen. Sie knurrt, die Männer treten zurück und zielen mit ihren Waffen auf sie.
"Stopp! Wartet! Miss Wolff scheint einen Deal vorschlagen zu wollen. Ich möchte sie anhören. Beim geringsten Fluchtversuch erschiesst ihr sie." Claire geht auf Loupine zu.
"Rede, Bestie!"
Loupines Augen sind gelb, ihre Muskeln angespannt. "Fordere mich nicht heraus, Claire. Treibe es nicht zu weit. Du und dein Mann, ihr braucht mich."
"Warum sollte das so sein? Deine Augen machen mir keine Angst, das solltest du eigentlich wissen, du kannst dich wieder beruhigen."
"Ich weiss, was Michelle Solange Franklin seit Jahren tut. Ich weiss wo, wie und vor allem weiss ich, was sie ist; und ich spreche nicht vom Reh."
Claire zögert. "Lass uns drinnen reden." Sie führt Loupine zum Haus und gibt den Männern geleichzeitig den Befehl, das Haus weiterhin zu bewachen.
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