Von Ragnarök und Lokis Kindern
Caja
Nasse, blonde Strähnen klebten ihr im Gesicht.
Das leise Plätschern von Wasser drang an ihr Ohr und sie streifte mit den Fingern über das raue Holz der Wanne, in der sie saß.
Sanft rieb ihr jemand mit einem Stück Stoff über den Rücken, reinigte sie von dem Schweiß und dem Dreck, der sich auf ihrer Haut festgesetzt hatte.
Während die Sklavin aus dem Süden sie wusch, summte sie die Melodie eines Liedes vor sich hin. Ein Lächeln breitete sich auf ihren schmalen, aber dennoch schön geschwungenen Lippen aus. Die Augen hielt sie geschlossen, in Gedanken noch immer beim vorherigen Kampftraining mit Munin.
Er hatte ihr alles abverlangt und doch war es unglaublich erfrischend gewesen.
Sie hatte sich bei jedem seiner Hiebe, der gegen ihr Schild geprallt war, so lebendig gefühlt. So frei.
Und jedes Mal, wenn sie ihn getroffen und ihn zu Fall gebracht hatte, war sie sich wie der stärkste Mensch auf dieser Welt vorgekommen.
Bald schon würden sie nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander kämpfen.
Heute war es soweit. Ihr achtzehnter Namenstag war gekommen und dies bedeutete, dass sie ihren Vater auf seiner nächsten Reise begleiten würde.
Sie würde Angelland sehen, Seite an Seite mit ihrem Volk die Dörfer und Städte plündern und dieses Mal würde sie es sein, die ihrer Mutter am Ende ein schönes Geschenk mitbrachte.
Vielleicht ja sogar die schöne goldene Münze, die sie in ihrer Vorsehung, die nun bereits einen Mondzyklus zurücklag, gesehen hatte.
„Ein wunderschönes Lied", hauchte die Sklavin kaum hörbar, wrang den nassen Stoff aus und begann dann das mit Wasser benetzte Haar ihrer Herrin zu kämmen.
Caja schlug die Augen auf und wandte ihren Blick über ihre Schultern, musterte das junge, rothaarige Mädchen, mit den sonderbar dunklen Augen, die an Kohle erinnerten.
Sie hatte es schnell gelernt, die Sprache des Nordens zu sprechen.
„Du kennst den Text doch gar nicht", meinte die Tochter des Jarl schmunzelnd.
Anders als ihre Mutter, behandelte sie selbst die Sklaven gut.
Solvey hätte der Südstämmigen nun angedroht, ihr die Zunge mit einem glühenden Eisen herauszuschneiden, da sie unaufgefordert gesprochen hatte.
„Aber die Melodie", meinte die Dienerin sanft lächelnd, wagte es nicht, Caja dabei anzusehen. „Sie ... sie erinnert mich an ...", sie stockte etwas, schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Sie erinnert mich an ... Heimat. Meine Heimat."
Caja drehte sich wieder um, sodass das Mädchen besser an ihr Haar herankam. Vorsichtig trennte dieses die einzelnen Strähnen voneinander, die sich durch die Nässe miteinander verknotet hatten.
„Kennt ihr in eurer Heimat denn unsere Götter?"
„Nein", gestand die Sklavin leise. „Wir haben nur den einen Gott. An mehrere Götter zu glauben, das ist ...", erneut versuchte sie sich verständlich auszudrücken. „Gotteslästerei."
„Wie kann dich das Lied dann an deine Heimat erinnern? Es handelt von Odin und Freya. Von dem Halbriesen Loki, seinen Kindern - dem Fenris Wolf und der Midgard Schlange."
„Ein Halbriese, der einen Wolf und eine Schlange gebärt?" Die Sklavin klang mehr als nur verdutzt, über diese Geschichte.
Ungläubig schüttelte sie den Kopf.
„Aber nein", antwortete Caja amüsiert und lachte dabei sogar ein wenig. „Angroboda, ein Riesenweib, schenkte ihm die drei Kinder. Die Asengötter fürchten sie, weil sie einst für ihren Untergang verantwortlich sein werden, wenn Ragnarök sie überkommt."
Stille breitete sich über dem kleinen Raum aus, ehe die Seherin sich aus der Wanne erhob. Sie hatte lang genug in dem Wasser gesessen und sich von diesem reinigen lassen.
Sofort legte die Sklavin ihr ein Leinentuch um die Schultern und führte sie zum warmen Feuer, das unweit im Kamin brannte und das Zimmer erhellte.
„Darf ... darf ich fragen, was das dritte Kind war, wenn die ersten beide Tiere waren?", fragte das Mädchen leise.
Nur zu gerne erzählte Caja ihr mehr über die Welt ihrer Götter. Immerhin waren sie die einzig Wahren und existierten wirklich in Walhalla, anders als der Gott, an den die Sklavin zu glauben schien.
„Fenrir, der Wolf, er war so stark, dass ihn keine Kette halten konnte", begann sie vom ersten Sohn Lokis zu berichten. „Aus Angst vor dem Unheil, das Fenrir und die anderen Kinder Lokis in den neun Welten anrichten könnten, beschlossen die Götter der Asen, den Wolf einzusperren. Zweimal schmiedeten die Götter Ketten für Fenrir, und zweimal befreite sich der Wolf mit Leichtigkeit. Als sie erkannten, dass noch mehr nötig war, wandten sie sich an die Zwerge, die Meister des nordischen Kosmos, und baten sie, eine unzerbrechliche Kette zu schaffen.
Sie schufen Gleipnir, das mehr einem Band als einer Kette ähnelte, aber aus unmöglichen Dingen gemacht war, sodass es das Unmögliche tun konnte."
Während sie von Fenrir sprach, trocknete die Sklavin sie und steckte ihr halbnasses Haar nach oben.
„Das zweite von Lokis Kindern war Jormungandr, eine Schlange, deren Wachstum keine Grenzen zu kennen schien. Odin fürchtete diese Bestie und warf sie in das Meer, das Midgard, unsere Welt, umgibt. Dort wuchs sie zu einer solchen Größe heran, dass sie die ganze Welt umkreisen und ihren eigenen Schwanz im Maul halten konnte."
Caja ließ sich von der Rothaarigen in ein weißes Kleid helfen, das sich perfekt an ihren Körper schmiegte und ihre Rundungen küsste. Sie war eine richtige Frau geworden, war schon lange kein Kind mehr.
„Und Hel war das dritte Kind, das zwar weniger monströs erscheint, aber dafür umso unheimlicher ist. Eine Riesin, von der es heißt, dass die eine Hälfte ihres Körpers die einer schönen Frau und die andere Hälfte die einer Leiche ist. Odin beschloss, dass sie gut geeignet war, über das Land der Toten zu herrschen, den Ort, an den die Wikinger gehen, die nicht tapfer auf dem Schlachtfeld gestorben sind. So wurde ihr die Gerichtsbarkeit über dieses Reich übertragen, das nach ihrem Namen Helheim genannt wurde.
Dort wartet sie auf ihre Zeit und bewacht eifersüchtig die Seelen ihres Reiches bis zum Ragnarök."
Die Sklavin durchzuckte ein Schauder bei den Geschichten, die ihr Caja erzählte und doch funkelten ihre fast schwarzen Augen neugierig. „Was genau ist Ragnarök?", fragte sie, lechzte danach, mehr über die Welt der nordischen Götter zu erfahren.
Währenddessen richtete sie ihrer Herrin das Haar, das dieser am Ende in sanften Wellen über die Schultern fiel und ihr Gesicht umspielte. Sie sah wie Freya höchstpersönlich aus.
„Ragnarök beginnt durch einen drei Jahre andauernden Krieg, gefolgt von drei Jahren Winter in denen kein einziges Mal die Sonne zum Vorschein kommt. Dadurch wird Chaos in ganz Asgard und Midgard ausbrechen, das die Welten verschlingen wird. Während die Frostriesen über den Bifrost in Asgard einmarschieren, wird diese zerstört. Die Asen beleben ihre verstorbenen Krieger wieder und ziehen mit diesen in den Kampf. In der großen Schlacht von Asgard fallen beinahe alle Krieger auf beiden Seiten und ein Feuersturm verwüstet die Welt. Aber bald steigt aus dem Meer eine neue Erde und Lif und Lifthrasir gründen ein neues Menschengeschlecht, neue Sterne steigen auf, neue Menschen erblicken das Licht der Welt und alles hat einen neuen Anfang."
Ein sanftes Lächeln breitete sich auf den Lippen des Mädchens aus. „Das klingt gar nicht so unheimlich. Nein, es klingt sogar schön. Wie ist das mit den Welten, von denen du gesprochen hast? Neun hast du gesagt, gibt es. Unsere Welt und die der Götter hast du bereits genannt. Welche sind die anderen?"
So gerne Caja den restlichen Tag hier bei ihrer Sklavin verbracht hätte, es war ihr nicht möglich. Sie wurde bereits in der großen Halle zur Feier ihres achtzehnten Namenstages erwartet. „Diese Geschichte erzähle ich dir ein anderes Mal." Ganz behutsam strich sie der jüngeren eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht. „Und dann musst auch du mir von den Sagen aus deiner Heimat berichten ...", sie stockte, hatte den Namen der anderen sagen wollen, doch da fiel ihr auf, dass sie nie danach gefragt hatte.
Die Sklavin aber schien zu verstehen, hielt sich die Hand vor ihr Grinsen. „Órla."
„Was bedeutet er?" Sofort verliebte sich Caja in den Klang dieses seltsamen und doch wunderschönen Namens.
„Die goldene Prinzessin."
Warm lächelte Caja Órla ein letztes Mal zu, die mehr eine Freundin, als eine Dienerin für sie war, ehe sie die Hütte verließ.
Ein weiterer Vollmond war vergangen, seit ihr Vater zurückkehrt war und mittlerweile hatte sich die Kälte des Winters gänzlich verabschiedet.
Blütenstaub tanzte durch die klare Luft, ebenso wie die vielen kleinen Insekten, die wieder aus ihren Verstecken kamen.
Caja blickte gen Himmel, dessen strahlendes Blau nach und nach von einem zarten Rosa und einem leuchtenden Orangerot abgelöst wurden.
Kurz schloss sie die Augen und genoss den kühlen Abendwind, der ihre Nase und ihre noch immer leicht feuchten Haare umspielte.
Der sandige Untergrund knirschte unter ihren nackten Füßen.
Wenn sie schon ein Kleid tragen musste, wollte sie zumindest das Gefühl von blanken Sohlen und Fersen nicht missen müssen.
Es verlieh ihr ein Stück weit Freiheit.
Je näher sie der großen Halle kam, desto deutlicher hörte sie die rhythmischen Trommelschläge und den Gesang von Frauen und Männern.
In freudiger Erwartung auf die heutige Feier, betrat sie schlussendlich die Räumlichkeit.
Die Musik verstummte und sämtliche Blicke richteten sich auf sie. Die, die bereits ausgelassen getanzt hatten, setzten sich und die Trinkenden senkten ihre Hörner.
Die Stille, die sich nun über ihren Köpfen ausbreitete, war unheimlicher als jede Vorsehung, die Caja je geschickt worden war.
Sie schluckte, blinzelte ihrem Vater und ihrer Mutter entgegen, die auf zwei imposanten, mit Fellen ausgekleideten Stühlen, auf einer kleiner Empore saßen, sich aber aufrafften, sobald sie ihre Tochter erblickten.
Melker hob seinen mit Met gefüllten Krug in die Höhe, ehe seine Stimme durch die Halle donnerte: „Männer und Frauen, Caja, meine Tochter ist eingetroffen! Stoßt mit mir an, meine Brüder und Schwestern und feiert mit uns ihre Reifung zur Frau!"
Sofort brach Gejohle und Gegröle unter den Anwesenden aus und die angespannte Stimmung kippte, machte Ausgelassenheit Platz.
Ein Grinsen legte sich auf Cajas Lippen, sobald sich die Blicke wieder von ihr abwendeten und ein jeder seinem vorherigen Tun nachging.
Sie durchschritt die Gäste, lief auf ihre Eltern zu. Ihre Mutter empfing sie, indem sie ihr Gesicht in ihre Hände nahm und ihr einen sanften Kuss auf die Stirn drückte und ihr Vater zog sie in eine kurze, dennoch innige Umarmung.
Eine blonde Sklavin überreichte Caja einen mit Met gefüllten Hornkrug, mit welchem diese erst mit Solvey und dann mit Melker anstieß.
Während sich die Gemahlin des Jarl anschließend wieder setzte, legte er seine starke Hand an die schmale Schulter seiner Tochter.
Seine Lippen kamen nah an ihr Ohr und als er zu sprechen begann, spürte Caja seinen heißen Atem auf ihrer Haut und sie roch den Geruch des Alkohols, der darin lag: „In zwei Sonnenaufgängen segeln wir los. Fühlst du dich bereit?"
Cajas Grinsen wurde nur noch breiter und sie nickte. „Ich kann es kaum erwarten." Sie konnte sich nicht daran entsinnen, wann der Wunsch nach Angelland zu reisen, das erste Mal durch ihre Gedanken gekreist war.
Ein warmes und zugleich vor Stolz triefendes Lächeln legte sich auf Melkers spröde Lippen. Er lachte. „Das ist meine Tochter!" Leicht schüttelte er sie an der Schulter. „Du wirst uns den Weg zeigen. Wir werden das Dorf finden, von dem du geträumt hast. Ich bin mir nach wie vor sicher, dass die goldene Münze uns sagen wollte, wie reich an Schätzen dieser Ort ist."
Caja hegte Zweifel an seiner Deutung, doch sie hatte ihm nicht widersprochen, als er sie am Tag ihres Erwachens ausgesprochen hatte und sie tat es auch jetzt nicht. Vielleicht hatte er doch recht und das seltsame Gefühl, das sich in ihrem Magen ausbreitete, sobald er davon zu redete, wollte sie nur in die Irre führen.
Er war älter als sie, weiser und er hatte Daneland schon so oft gesehen. Sicher war an seiner Interpretation ihrer Vorsehung etwas Wahres dran.
„Wir werden es finden und werden Gold und Silber nachhause bringen", antwortete sie ihm daher nur, sich wie immer auf seine Erfahrung verlassend.
Mit ihren Fingern umgriff sie den Bären, der um ihren Hals baumelte und dem sie den Namen Mina, die Beschützerin, gegeben hatte. Dabei ließ sie den Blick durch die Halle gleiten.
Schließlich entdeckte sie Munin, löste sich los von der Berührung ihres Vaters und steuerte direkt auf ihren Freund zu.
Dieser schloss sie in seine Arme, strich ihr dann mit einer flinken Handbewegung eine ihrer blonden Wellen aus dem Gesicht und stieß mit ihr an. „Skøl!", rief er so laut, dass es sogar kurz die Stimmen der singenden Frauen übertönte.
Dann nahm er ihr den Krug ab, stellte ihn zu irgendwelchen Männern und Frauen auf den Tisch und begann mit Caja zu tanzen.
Ausgelassen lachte diese dabei, begegnete immer wieder dem Funkeln von Munins waldgrünen Augen, die sich so sehr nach Heimat anfühlten.
Auch er würde erneut mit nach Angelland segeln und sie konnte nicht froher darüber sein, ihn in ihrer Begleitung zu wissen.
Mit ihm an der Seite hatte sie sich stets sicher gefühlt. Sicher, stark und doch frei.
Der Abend und die Nacht hätten Ewigkeiten andauern können. Caja war sich sicher, dass die Götter und auch die gefallenen Krieger in dem Ausmaß wie sie und ihr Volk es heute taten, in den Hallen Walhallas das Leben nach dem Tod feierten.
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