Sieben Tage
Caja
Langsam schlug sie die Augen auf, erblickte wandernde Baumkronen über ihrem Kopf. Sie hörte das Getrappel von Pferdehufen, gemischt mit den Stimmen vieler Männer.
Ihr Herz begann zu rasen, als ihr bewusst wurde, dass sie sich fortbewegte.
Sie wollte aufspringen, doch musste feststellen, dass sie auf einer Trage wie Gepäck festgezurrt worden war. Wohl um zu verhindern, dass sie herunterrutschte, oder floh.
Es war noch nicht ganz hell, die Morgendämmerung bahnte sich ihren Weg durch das dichte Geäst des Waldes, aber sie konnte dennoch erkennen, dass sie andere Kleidung trug. Die dunkelgrüne Hose und die hellbraune Tunika waren ihr viel zu groß. Sie bildeten Hohlräume gefüllt mit Luft, ließen sie dadurch beleibter aussehen als sie es war.
Sobald ihr Blick auf ihre Hände fiel bemerkte sie, dass sie sogar abgenommen hatte. Das und dass sie gewaschen worden war.
Ihre Knochen waren deutlicher zu erkennen, als jemals zuvor und ihre Haut war so von dem Schmutz freigeschrubbt worden, dass sie in einem leicht roten Ton schimmerte.
Ihr Atem ging auf der Stelle noch schneller.
Als junges Mädchen war sie auch rank und schlank gewesen, aber hatte sie niemals so dürr ausgesehen wie jetzt.
Wie lange hatte sie dieses Mal geschlafen?
War sie noch immer bei den Angelsachsen oder konnte es sein, dass sie sich bereits wieder unter Ihresgleichen aufhielt?
Sie lauschte den Stimmen um sich herum genauer und musste mit einem frustrierten Schnauben feststellen, dass es nicht ihre Sprache war, die dort durch die Winde getragen wurde.
Vermutlich wäre es das Klügste gewesen, sich einfach still zu verhalten, doch sie wollte wissen, wohin sie ritten und was geschehen war, während die Götter mit ihr kommuniziert hatten.
Wo nur steckte Adalar?
Ihr Blick glitt umher, doch sie erkannte nur den schwarzen Hintern des Pferdes, das sie über den Waldboden zog und den Rücken eines langhaarigen Mannes, der auf ihm saß und seine Zügel lenkte.
Niemand ging oder ritt hinter ihnen her. Sie bildeten das Schlusslicht.
Weshalb hatten die Götter sie so lange dem Hier und Jetzt entzogen?
Sie wagte es nicht, es laut auszusprechen, doch zürnte sie ihnen dafür.
Zwar waren ihre Bilder nie ohne Bedeutung, doch auch wenn sie mit neuem Wissen beschenkt worden war, fehlte ihr nun das um die Realität, die sie nun einholte.
Sie hatte Askwin in die Augen gesehen, war dann einer Vorsehung verfallen, die ihr Blut, Dunkelheit und Tod gezeigt hatte, aber auch Licht, einen weißen Vogel und wieder die zwei miteinander vereinten Herzen, die im Gleichtakt schlugen.
Dinge um sie herum schienen sich laufend zu verändern, doch das letzte Symbol blieb immer das gleiche.
Auch wenn sie die pochenden Organe nun schon zum dritten Mal gesehen hatte, wusste sie noch immer nicht um ihre Bedeutung.
Sie räusperte sich lauthals, um den Reiter, von dessen Tier sie gezogen wurde, auf sich aufmerksam zu machen.
Er wandte den Kopf über seine Schulter, fixierte sie einen Moment lang mit einem durchdringendem Blick. Mit einem, der sie an ihren Feind in diesen Reihen erinnerte. Sir Gregory Lyeson.
Er drehte sich wieder nach vorne um, rief denen, die sich vor ihnen befanden etwas zu.
Es dauerte nicht lange, da verließen sie den niedergetrampelten Weg, ritten querfeldein.
Oft schrammte die Pritsche auf der sie lag nur wenige Zentimeter an Baumstämmen vorbei, die Erde unter ihr war hügelig und schüttelte sie durch, bis ihr schlecht wurde.
Was sie wunderte war, dass ihre Flanke nicht mehr schmerzte. Ein anderes Indiz das darauf hinwies, dass sie länger nicht bei Bewusstsein gewesen sein musste.
Darum kämpfend ihren Mageninhalt, der nicht aus viel bestehen konnte, nicht zu entleeren, schloss sie die Augen und wartete einfach, bis sie sich nicht länger weiterbewegten.
Als sie die Lider wieder aufschlug konnte sie den Mann der sie an Gregory erinnerte dabei beobachten, wie er sein Pferd an einem Baum festband.
Doch anders als erwartet näherte er sich Caja anschließend nicht, sondern entfernte sich von ihr nachdem er das Gepäck vom Rücken seines Reittiers genommen hatte.
Er ließ sie einfach weiter auf dieser Trage liegen, festgezurrt und ahnungslos, was gerade um sie herum geschah.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten. Die Seile hielten sie zu eng an die Pritsche gebunden, als dass es etwas gebracht hätte, hätte sie versucht sich durch Rütteln zu befreien.
Sie verfolgte die vielen Männer mit ihren Blicken, sah ihnen dabei zu, wie sie Zelte aufschlugen und Ölfackeln in den Boden rammten.
Wie es wirkte, würden sie hier diesen Tag und auch die darauffolgende Nacht verbringen.
Doch wo war hier? Irgendwo im Nirgendwo.
Schlussendlich löste sich eine Gestalt von den anderen und bewegte sich auf sie zu.
Sie erkannte Askwin in ihr, auch wenn er sich den Bart rasiert hatte.
Er trug seine Rüstung, die im Schein der aufgehenden Sonne funkelte.
Hinter ihm tauchten zwei weitere Personen auf, deren Gesichter sie kannte.
Adalar, der Mann, den sie im Geheimen zu ihren Verbündeten zählte und Gregory, der Mann, dem sie den Tod wünschte.
Langsam beugte Askwin sich zu ihr hinab, begann die Knoten zu lösen und half ihr dann auf die Füße.
Ihre Beine fühlten sich taub an, kribbelten, als würden tausende Ameisen über sie laufen. Kurz drohte sie einfach wieder auf dem Grund zusammenzusacken, doch ehe das passieren konnte, ergriff Askwin sie an den Schultern.
Überrascht glitt ihr Blick an ihm hoch. Ihre blaugrauen Augen trafen auf seine goldbraunen.
Ihre Muskeln begannen zu brennen, ihre Gliedmaßen zu zittern. Wie lange hatte sie gelegen?
Schwer atmend hielt sie sich an ihm fest, bis sie die Sicherheit in ihrem Stand halbwegs zurückgewonnen hatte.
Doch nur einen Moment später wäre sie beinahe wieder aus den Schuhen gekippt. Nicht aber, weil ihr schwindlig geworden war, sondern wegen der Worte, die den Mund Askwins verließen: „Du bist wohlauf. Das freut mich."
Sie traute ihren Ohren zunächst nicht. Es klang holprig und der Akzent war furchtbar, aber es bestand kein Zweifel daran, dass es ihre Sprache war. Wann hatte er sie gelernt?
Nun begann sich doch alles um sie herum zu drehen. Es war zu viel. Das alles.
Bei Odin nochmal, entweder lernte Askwin verdammt schnell, oder aber es mussten mehrere Wochen gewesen sein, die sie schlafend verbracht hatte.
„Wie ... wie ...", setzte sie an, doch ihre Kehle war so staubtrocken, dass nur dieses eine Wort herauskam und selbst dieses hörte sich mehr nach dem Gekrächze eines Raben als nach einer menschlichen Stimme an.
Adalar zögerte keinen Augenblick, löste seinen Trinkbeutel von seinem Gürtel und reichte ihn ihr.
Gierig ließ sie die klare Flüssigkeit ihren Gaumen benetzen, fühlte sich dadurch sogleich besser.
Ihr Magen knurrte lauthals und fühlte sich so leer an wie noch nie. Sie brauchte auch etwas zu essen.
Gregorys Augen fixierten sie die ganze Zeit über mit einem Blick, der ihr verriet, dass er es bereute, sie im Wald nicht einfach getötet zu haben. Hass wohnte seinen Seelenfenstern inne.
Caja ignorierte ihn, legte ihren Fokus lieber auf die wichtigen Dinge, denn so lange sie nicht allein mit dem ältesten der drei Anwesenden enden würde, würde er ihr nichts tun können.
„Wie lange habe ich geschlafen?", warf sie dann schließlich die Frage in die Runde, die zuvor nicht über ihre Lippen hatte kommen wollen.
Adalar nahm seinen Trinkbeutel wieder an sich und übernahm es nach einem Wink von Askwin ihr eine Antwort zukommen zu lassen: „Sieben Tage."
„Sieben ...", stammelte sie, umklammerte unbewusst fester den Arm Askwins und spürte wie das Eisen seiner Rüstung unter ihrer Berührung immer mehr ihrer Wärme annahm.
„Du musst etwas essen. Komm." Adalar klang sanft, ja beinahe schon fürsorglich, als wäre sie nicht mehr länger ihre Gefangene, sondern ein Gast.
Askwin führte sie wortlos zwischen den Zelten hindurch, hin zu dem größten von ihnen, das sie als seines kannte.
Die anderen Männer hatte es bereits mit den Teppichen ausgelegt, hatten die Pritsche aufgestellt und auf einem kleinen Tischchen stand ein mit Wein gefüllter Krug.
Auf dem Grund hockte ein blonder Knabe, eine Binde über einem seiner Augen tragend. Über das andere zog sich eine Wunde, die schon beinahe ausgeheilt war.
Er musste das Glück der Götter in sich tragen, denn trotz dieser Verletzung schien er noch darauf zu sehen.
Als Caja und Askwin, gefolgt von Adalar und Gregory eintraten, erhob er sich auf die Füße und verneigte sich. „Sir Seymour", begrüßte er den Mann, der Caja noch immer stützte und ihr schlussendlich dabei half, auf der Pritsche Platz zu nehmen. Auf seiner Pritsche.
Völlig verwirrt blickte sie in die Gesichter der Männer, als sie dort hockte. „Was ist geschehen seit ..."
„Iss erst und dann reden wir", fiel Askwin ihr ins Wort, nickte Gregory zu, der zähneknirschend das Zelt verließ um einer indirekten Aufforderung nachzugehen.
Er war der einzige, der sie mit solch einer Verachtung betrachtete. Daran hatte sich nichts geändert. Aber etwas war dennoch anders. Sie wusste nur noch nicht was.
Askwin nahm sich den Krug mit Wein, hielt ihn Caja entgegen, die mit einer Handbewegung ablehnte.
Auch wenn sie den Geschmack des fruchtigen Alkohols mochte, so war ihr doch der von Honigmet lieber. Zudem war ihr bewusst, dass man auf leeren Magen nicht trinken sollte.
Sie sah an sich hinab, tastete die Stelle ab, an der sich ihre eigene Verletzung befunden hatte. Doch auch jetzt tat es nicht weh.
Stutzig schob sie die Tunika so weit nach oben, dass sie ihre Seite begutachten konnte und musste feststellen, dass die Wunde, ähnlich wie die des blonden Burschen, beinahe nur noch mehr aus Narbengewebe bestand.
Adalar und die anderen Ärzte hatten gute Arbeit geleistet.
Eben dieser bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick, so als würde er etwas sagen wollen, doch sein Mund blieb verschlossen.
Es dauerte nur wenige Momente, bis Gregory zurückkehrte, in der Hand mehrere Streifen getrocknetes Fleisch haltend.
Askwin nahm sie ihm ab, schickte ihn dann wieder fort, wofür Caja mehr als nur dankbar war.
Es machte ihr nichts aus, wie er sie ansah, denn sie empfand ebenso für ihn, doch in seiner Abwesenheit konnte sie wesentlich besser zur Ruhe finden.
„Hase", erklärte Askwin ihr knapp, ehe er ihr das Essen reichte.
Sie zögerte nicht, ergriff die fünf Streifen und biss vom ersten ab. Er war zäh, teilweise hart, aber es war besser als nichts.
Nach und nach vertilgte sie die ihr angebotene Speise und bildete sich dabei ein spüren zu können wie ihr Körper an Kraft zurückgewann.
„Heute Abend, wenn ein Teil der Männer auf der Jagd war, gibt es hoffentlich Wildschwein oder Reh", meinte Adalar, der sie dabei beobachtete, wie sie auch das letzte Bisschen schluckte.
„Darf ich?", fragte sie beinahe schon höflich und deutete nun doch auf den Wein.
Askwin gab ihr den Krug.
Sie setzte ihn an ihren Lippen an und nahm mehrere kräftige Züge, setzte ihn dann wieder ab und wischte sich die Reste aus den Mundwinkeln.
Dabei entgingen ihr die Blicke der Männer nicht, wenngleich sie auch nicht verstand, weshalb sie sie auf diese Art und Weise musterten - so verwirrt von ihrem Verhalten. Dabei hatte sie doch einfach nur getrunken.
„Nun habe ich gegessen", meinte sie dann, sah Askwin durch funkelnde Augen an. Immerhin hatte Adalar ihr versprochen sie würde die Antwort auf ihre unvollendete Frage erhalten, sobald dies geschehen war.
Sie konnte den von ihr Angesprochenen zögern sehen, doch schließlich setzte er sich in Bewegung und ging vor ihr in die Hocke, was sich in seiner Rüstung als nicht ganz so einfach erwies.
Zumindest sah es nicht wirklich elegant aus und er kam auch nicht so tief, wie er es ohne sie wäre.
„Dein Volk ist fort", verkündete er ihr die Botschaft, die ihre Atmung dazu brachte, auszusetzen.
Sie waren fort? Das konnte nicht sein! Bei den Göttern! Ihre Familie würde sie niemals zurücklassen! Ihr Vater ...
„Ich weiß, was du denkst."
Askwins goldbraune Seelenfenster funkelten im gedimmten Licht wie flüssiger Honig. „Du denkst, dass ich dich belüge. Doch was für einen Nutzen hätte ich davon?"
„Wenn sie zurück nach Norwegen gereist sind, weshalb habt ihr mich dann nicht getötet?", fragte sie ihn, ihre Stimme so leise wie das Fiepen einer Maus.
All das ergab keinen Sinn. Weshalb sollten sie ohne sie gehen? Sie im Stich lassen? Und weshalb war sie dann noch am Leben? Immerhin brauchten die Angelsachsen sie, wenn dem wirklich so war, nicht länger als Druckmittel.
Und Askwin hatte sich wohl kaum in sie verliebt, sodass er es nicht mehr übers Herz bringen konnte, ihr die Kehle durchzuschneiden oder ihr den Kopf abzutrennen.
„Wir haben dich als ...", ihm schien das Wort zu fehlen, weshalb er hilfesuchend zu Adalar sah, der ohne Müh und Not das passende Vokabular ergänzte: „ ... als Pfand behalten. Wir garantierten deinem Vater, dir würde es bei uns an nichts mangeln und wir würden dafür Sorge tragen, dass es dir gut geht, so lange er keinen weiteren Krieg beginnt und mit eurem Volk zurück über das Meer segelt, dorthin, wo ihr hergekommen seid."
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