Kapitel 19
Wie Rina vermutet hatte, führte Deamon sie nicht hinaus in den Garten. Es war das Haupttor, durch das er ging, bevor er über einen Hof auf die Stallungen zuhielt.
Rina folgte langsam, während sie sich umsah. Sie hatte aus den Fenstern diesen Teil oft beobachtet, doch noch nie war sie hier gewesen. Sie hatte sich nicht getraut, einfach so durch das Haupttor des Schlosses zu spazieren. Aber niemand schien auf sie zu achten, während sie Deamon folgte.
Dieser lief zwar voraus, war aber nicht so schnell, dass sie ihm nicht folgen konnte. Im Gegenteil. Er hielt immer wieder an, damit Rina sich in aller Ruhe umsehen konnte.
»Was machen wir hier?«, fragte sie, als sie die Pferde erreichten. Majestätische Tiere, die Rina mit Ehrfurcht erfüllten.
»Bist du schon einmal geritten?«, wollte Deamon wissen, der eines der Tiere aus der Stallung holte.
Rina schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe die Ställe ausgemistet, aber mehr auch nicht«, erklärte sie, während sie das Tier beobachtete. Es war wesentlich größer als sie, was nicht schwer war. Trotzdem sorgte es bei Rina für eine gewisse Unruhe. Schon damals, als sie im Dorf bei der Pferdepflege ausgeholfen hatte, war sie sehr vorsichtig gewesen. Es war nicht unbedingt Angst, was sie verspürte, doch Respekt. Ihr war die Stärke dieser Tiere durchaus bewusst.
»Komm her«, forderte Deamon, der Rina zu dem Pferd winkte. Es trug zwar ein Geschirr, aber keinen Sattel, weshalb Rina nicht ganz verstand, was sie damit anfangen sollte. »Nicht erschrecken«, meinte Deamon, als Rina direkt vor dem Tier stand. Er trat hinter sie, griff ihr unter die Arme und hob sie vorsichtig hoch.
Rina stieß einen angstvollen, aber leisen Schrei aus, als sich der Boden plötzlich wegbewegte und sie über das Tier hinausragte. Ihr Blut pulsierte in ihren Adern, während ihr Atem schneller ging. Es fiel ihr schwer, die Situation zu verstehen. »Spreiz die Beine, damit ich dich absetzen kann«, wies Deamon sie an.
Als Rina klar wurde, dass er sie auf den Pferderücken setzen wollte, versteifte sie sich zitternd. Wenn sie so blieb, würde Deamon sie irgendwann absetzen müssen.
Dieser lachte jedoch nur leise. »Komm schon, sein keine Spielverderberin«, neckte er sie, wobei er nicht einmal Anzeichen gab, dass es ihm schwerfiel, sie so zu halten. Er war ein Vampir und konnte das den ganzen Tag und die ganze Nacht machen. Es würde ihn erst erschöpfen, wenn der Hunger zu groß war. Oder wenn ihr Geruch seinen Verstand förmlich vernebelte.
Es war eine spontane Entscheidung gewesen, auszureiten und Deamon begann sich Gedanken darüber zu machen, ob es gut war, wenn sie ihm so nahe war. Auf dem Pferd konnte er nicht einfach ausweichen oder verschwinden, wenn ihr Duft zu anziehend wurde.
Bisher hatte er immer mehrere Tage gebraucht, bis er sich wieder gefestigt genug fühlte, um sie zu besuchen. So würde er nie Herr über diesen Duft werden. Er wollte nicht, dass allein ihr Geruch ihn ständig so aus dem Konzept brachte. Das würde gefährlich werden. Vielleicht änderte es sich aber, wenn sie ihm gestattete, von ihm zu trinken.
Etwas, worauf Deamon hinarbeitet, jetzt, da er wusste, wie alt sie war.
Rina war eine interessante Frau. Unschuldig, zerbrechlich, dafür aber ehrlich und wenn sie etwas störte schien sie damit nicht wirklich hinter dem Berg zu halten. Daher verstand er erst recht nicht, wie es dem verfluchten Orden möglich gewesen war, sie so zuzurichten.
Allein der Gedanke ließ ihn knurren.
Er bemerkte es jedoch erst, als Rina zuckte und endlich ihre Beine auseinandermachte, damit er sie auf das Tier setzen konnte.
Es ärgerte ihn, dass sie glaubte, das Knurren ging an sie, doch zumindest war sie jetzt auf dem Pferd. »Halt dich in der Mähne fest«, wies er an, als sie etwas hin und her rutschte.
Das Tier, das gut ausgebildet war, blieb ruhig, während sich Deamon auf seinen Rücken schwang und hinter der überraschten Rina platz nahm.
Er war ihr so nah, dass ihr Duft seine Sinne sofort einnahm.
Für einen kurzen Moment stieg Sorge in ihm auf, ob die Idee wirklich gut war, doch er wollte, dass sie die Insel sah. Dass sie zumindest die leichte Illusion von Freiheit bekam. Denn auf dieser Insel war niemand frei. Nicht einmal ihm war gestattet, sie einfach so zu verlassen.
»Ich ... Ich glaube nicht ...«, setzte Rina mit zittriger Stimme an, doch Deamon ignorierte es. Stattdessen schlang er einen Arm um ihren Bauch und zog sie an sich.
Ihren zierlichen Körper an sich zu spüren, ließ Schauer seinen Rücken hinabjagen und das Wasser in seinem Mund zusammenlaufen. Er verstand einfach nicht, warum sie ihn so anzog! »Keine Sorge, ich halte dich«, sagte er mit rauer Stimme, die ihn selbst überraschte. Er war eigentlich aus dem Alter raus, in dem er seine Gefühle, ob es nun Hunger oder Verlangen war, offen zur Schau stellte. Als Vampirprinz sollte er sich eigentlich besser im Griff haben, doch das war bei Rina einfach viel zu schwer.
Als sie sich an ihn lehnte, weitete er kurz die Augen, denn das war das erste Mal, dass er das Gefühl hatte, sie vertraute ihm.
Er wusste aber auch nicht, dass Rina im Moment mehr Angst davor hatte, vom Pferd zu fallen, als dass er sie biss. Sie vertraute seinen Worten. Ohne ihre Erlaubnis würde er nichts tun. Sie musste es einfach glauben, denn sonst würde sie ständig mit der Angst leben, dass er über sie herfiel. Mit dieser Angst würde sie hier nie überleben.
Deamon bewegte seine Beine und kurz darauf setzte das Pferd sich in Bewegung.
Rina keuchte erschrocken auf und krallte sich in die Mähne. Warum saß sie vor und nicht hinter Deamon, um sich an ihm festkrallen zu können? So hatte das zwar das Gefühl, das seine Arme, die rechts und links von ihr waren, sie hielten, doch sie selbst konnte sich nicht halten. Das war auch der Grund, warum sie sich etwas mehr an ihn drückte. Weil es ihr das Gefühl gab, Halt zu finden.
Rina dachte nicht zu viel darüber nach, dass sie sich an Deamon schmiegte, wie eine Frau sich nicht an einen Mann schmiegen sollte. Ihre Gedanken waren bei dem Tier, das unter ihr wackelte, während sie vorwärts auf ein großes Tor zuschritten.
Rina wusste, wie schnell Pferde sein konnten, weshalb sie dankbar war, dass Deamon scheinbar entschied, dass sie nur langsam liefen.
Selbst, als sie das Tor verlassen hatten, blieb das Tempo gleich, was dafür sorgte, dass Rina langsam ein Gefühl dafür bekam.
Je weiter sie liefen, desto mehr entspannte sie sich, sodass sie schließlich auch die Umgebung begutachten konnte.
Die gesamte Insel schien wild zu wuchern, denn die Wälder waren viel dichter als Rina es kannte. Trotzdem schien hier irgendwie Leben möglich. »Gibt es hier Städte oder Dörfer?«, wollte Rina wissen, da Deamon bisher eher geschwiegen hatte.
Sie wusste nicht, warum er mit ihr ausritt, doch sie würde die Gelegenheit nutzen.
»Nicht im üblichen Sinne. Das Schloss ist so groß, dass es mehrere Bereiche beherbergt, in dem alle Bewohner leben. Die Insel ist zu gefährlich, um hier einfach ein Dorf zu bauen«, erklärte Deamon, was Rina dazu veranlasste, sich anzuspannen.
»Warum ist die Insel gefährlich?«, fragte sie mit zittriger Stimme. War es überhaupt gut, dass sie hier waren?
»Die wilden Tiere«, erklärte Deamon ungerührt. »Vor mir haben sie Angst, weshalb sie sich uns nicht näher werden, aber Menschen sind sehr leicht in Gefahr.« Deamons Stimme klang entschuldigend, fast schuldbewusst.
Rina verstand, dass diese Insel ein natürliches Gefängnis bildete.
Selbst, wenn es ihr gelang zu fliehen, würde sie hier nicht überleben. Vermutlich hatte sie sogar großes Glück gehabt, dass Edmund sie am Wasser gefunden hatten. Was wäre gewesen, wenn sie auf ein wildes Tier getroffen wäre?
Rina erinnerte sich an die riesigen Wildscheine, die Deamon zum Essen gejagt hatten. Sie waren viel größer als die Schweine, die in ihrem Dorf gehalten worden waren. Dazu hatten sie auch große Hauer besessen. Nichts, womit sich Rina anlegen wollte.
»Warum sind wir hier?«, fragte Rina unsicher. Was, wenn er sie hier einfach aussetze? Wollte er sie vielleicht loswerden?
Nein. Das ergab keinen Sinn. Er würde ihr doch nicht extra Kleider anfertigen lassen, nur um sie dann hier im Wald auszusetzen.
»Weil ich dir die Insel zeigen wollte. Du warst so viel drinnen, dass ich dachte, du musst ein wenig raus«, erklärte Deamon, auch wenn das nicht der einzige Grund war. Er wollte Rina zeigen, wie sie hier lebten. Mit was sie zu kämpfen hatten und gleichzeitig wollte er irgendwo mit ihr sein, wo sie allein waren. Ganz für sich, ohne, dass jemand zusah.
Selbst Rina war der Meinung, dass das ein eher schwacher Grund war. »Bist du dir sicher, dass es nicht gefährlich ist, hier zu sein?«, fragte sie leise, während sie sich immer wieder umsah. Sie konnte keinen wilden Tiere erkennen und fragte sich, ob diese sich von ihnen fernhielten.
»Solange du bei mir bleibst, bist du sicher«, hauchte er ihr ins Ohr, was ihr einen angenehmen Schauer bescherte.
Rina wurde rot, während sie über seine Worte nachdachte. Bei ihm war sie sicher? Er klang so, als beziehe er das nicht nur auf die wilden Tiere.
Rina schloss für einen Moment ihre Augen, während sie die warme Sonne und Deamons starke Brust auf sich wirken ließ.
Vampire und Menschen. Sie waren so unterschiedlich und doch ähnelten sie sich. Wenn Rina nicht wüsste, dass Deamon ein Vampir war, hätte sie ihn nie für einen solchen gehalten.
Wäre sie ihm anders begegnet und wäre er menschlich, hätte sich Rina vielleicht sogar ausmalen können, dass sie eine Familie gründeten.
Sie wusste nicht genau, woher der Gedanke kam, doch sie sah in Deamon einen Mann, dem sie sich anvertrauen wollte. Von dem sie das Gefühl hatte, dass er sie gut behandelte.
Nur leider gab es da dieses blutige Problem.
Er war nicht einfach nur ein Mann. Er war ein Vampir. Noch dazu ein Lord.
Eine salzige Meeresbrise streichelte ihre Nase und wehte ihr durch die Haare.
Rina öffnete ihre Augen und blickte hinaus auf das Meer, das sich vor ihnen erstreckte.
Das blaue Wasser schimmerte im Licht der Sonne, doch das war es nicht, was Rina nach Luft schnappen ließ.
Es war die durchsichtige Frau, die mitten auf dem Wasser schwebte und zu ihnen hinübersah.
Das Haar wallte im Wind, während sie Rina fixierte. »Können wir bitte anhalten?«, fragte Rina, deren Herz aufgeregt klopfte.
Wieso war sie hier? Wie konnte es sein? Rina hatte geglaubt, sie nie wiederzusehen.
»Was ist los?«, fragte Deamon, der das Pferd anhielt und abstieg.
Als Rina Anstalten machte, vom Pferd zu rutschen, griff er nach ihr, um ihr zu helfen.
Kaum stand sie am Boden, rannte sie los, auch wenn ihre Beine anfangs zitterten und ein wenig schmerzten. Trotzdem lief sie in das Wasser hinein, bis sie kaum noch vorwärts kam und der Widerstand zu groß wurde.
Dass ihre Zehen ganz kalt wurden und ihre Beine stachen, interessierte sie nicht. Sie wollte nur näher an die Gestalt heran, die noch immer zu weit weg war.
Rina spürte Trauer in sich aufsteigen.
Anders als die anderen Erscheinungen war diese hier nicht in der Lage, zu sprechen. Sie erschien nur im Wasser. So weit weg, dass Rina sie nur erreichte, wenn sie zu ihr schwamm. Was sie im Moment jedoch nicht konnte.
»Rina, was machst du da?«, fragte Deamon, der zu ihr ins Wasser kam.
Er wirkte nicht, als würde ihn der Widerstand stören.
Für einen Vampir war es kaum ein Problem durch das Wasser zu gehen, doch er machte sich Sorgen um Rina. Sie stand bis zu den Knien im Wasser und wirkte, als würde sie am liebsten noch weiter hinein.
Wollte sie sich ertränken? Was, wenn sie durch die Kälte krank wurde?
Rina stieß ein Schluchzen aus und streckte ihre Hand aus, als wäre da jemand, zu dem sie unbedingt wollte.
Als Deamon auf das Wasser sah, bemerkte er eine leichte Ansammlung von Magie, die über das Wasser flirrte. Nicht viel und kaum wahrzunehmen.
Wüsste er nicht, dass Rina auf diesen Punkt deutete, hätte er angenommen, dass unter Wasser vielleicht ein Artefakt lag, welche das auslöste.
Deamon legte seine Hände auf Rinas Arme, wobei er bemerkte wie stark sie zitterte. Das war nicht gut. Sie war erschöpft und die Kälte tat ihr übriges. »Du kannst nicht hier bleiben«, sagte er entschieden, bevor er sie einfach auf seine Arme nahm, wie er es schon einmal getan hatte.
Während er sie zurückbrachte, streckte Rina weiter ihren Arm aus und versuchte sogar halbherzig zu entkommen. »Nicht gehen«, flüsterte sie mit tränennasser Stimme. »Nicht, Mama.«
Deamon hörte sie zwar, doch die Angst, dass sie weiter ins Meer ging und dort vielleicht verunglückte, war zu stark. Sie schien nicht ganz da und in einer Art Traum oder Erinnerung gefangen. So konnte er sie nicht allein lassen. Darum setzte er sich auch nicht gleich wieder ab, als sie am Strand ankamen.
Stattdessen nahm er die Zügel des Pferdes und führte es hinein in den Wald. Weg vom Meer, was Rina leise wimmernd zurückließ.
Besorgt hielt Deamon auf einer großen Wiese inne und ließ Rina langsam nieder. »Was ist denn los?«, fragte er besorgt und hockte sich zu ihr. So hatte er sie noch nie gesehen und wollte sie auch nie wieder sehen. Sie sah fertig aus und ihre Augen waren völlig verweint.
Sie hatte nicht ein einziges Mal geweint, seit sie bei ihm war und jetzt das. Was hatte sie gesehen?
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