
Prolog
Außer dem leisen Knarzen der Holzdielen, unter kleinen, schmalen Füßen, durchbrach nichts die bedrückende Stille. Vorsichtige Schritte, ein leises Geräusch nach dem anderen. Dann war es wieder totenstill. Wie jede Nacht konnte sie keine Ruhe finden. Obwohl sie sich nach nichts anderem sehnte, als endlich schlafen zu können - vielleicht sogar für immer. Und wie jede Nacht begann sie durch das Haus zu wandern, jeden einzelnen Zentimeter davon neu zu erkunden und zu erfühlen wie es einmal gewesen war, bevor sie sich hier ihr eigenes Gefängnis geschaffen hatte.
Am längsten verharrte sie in seinem Zimmer, das wie jeder andere Raum tot und leer erschien, kalt und abweisend als wäre hier niemand erwünscht, nicht einmal sie selbst. Es hatte seinen Zweck erfüllt und wurde nun nicht mehr benötigt - doch nichts konnte etwas daran ändern, dass sie es brauchte. Wie jede Nacht ließ sie ihre Finger vorsichtig über das unberührte Laken gleiten, hoffte in dem Kissen einen schwachen Abdruck zu erkennen, obwohl sie wusste, dass es ihn nicht mehr gab, ihn nie wieder geben würde. Das Bett würde unberührt bleiben wie jetzt, denn es gab niemanden, der noch darin hätte schlafen können.
Seit damals war hier nichts verändert worden als hätte man das Haus überstürzt verlassen, ohne auch nur das Geringste mit sich zu nehmen. Am Nachttisch lag nach wie vor das Buch, das niemals fertig gelesen werden würde. Über der Lehne des Stuhls hing ordentlich ein Hemd, in dem sie das Gesicht vergrub, nur in der Hoffnung noch den Hauch seines Geruchs aufzufangen. Diesen warmen, leicht herben Duft, der sich mit dem von Rauch und Tabak mischte. Doch sie wusste nicht, ob er tatsächlich existierte oder nur ein Produkt ihrer Fantasie war. Auf einem kleinen Tisch fand sich noch ein Aschenbecher und das silberne Zigarettenetui mit der edlen Gravur. Ein paar Mal schon hatte sie die gleichen Zigaretten, die sich auch darin fanden, gekauft und angezündet, nicht einmal unbedingt um sie zu rauchen, nein, sie wollte nur, dass der Geruch sie für einige Augenblicke in die Vergangenheit entführte. Obwohl sie eigentlich genau der entkommen wollte, dieser schrecklichen Vergangenheit. Diesem Alptraum, der ihr Leben gewesen war.
Mit zitternden Händen griff sie nach dem Buch, das sie immer mit hierher nahm, ließ sich sachte, fast wie ehrfürchtig, auf den Stuhl sinken und begann zu lesen. Laut, mit sanfter Stimme, genauso wie sie es zu jener Zeit immer gemacht hatte. Ihre Lippen formten die Worte, die sie selbst niedergeschrieben und genauso wie jetzt vorgelesen hatte. Damals hing so unglaublich viel davon ab. Von jedem einzelnen Wort, das für sie ein Stück Hoffnung war. Und wenn sie nur bis zum Sonnenaufgang anhielt, ihr nur diese wenigen Stunden der Sicherheit gab, dann war das bereits mehr als sie hätte erwarten können.
Während sie las, versuchte sie sich seine Reaktionen ins Gedächtnis zu rufen. Was hatte er dazu gesagt? Wie hatte er sie angesehen? Hatte er sie überhaupt angesehen oder waren seine Augen geschlossen gewesen?
Für einen Moment reiste sie in der Zeit zurück, zu Augenblicken, denen sie immer entkommen wollte. Aber jetzt, da sie wirklich vergangen waren, ließen sie sie nicht mehr los, verfolgten sie mehr denn je. Sie kam an den neusten Seiten des Buches an, deren letzte Zeilen sie gerade erst heute Abend geschrieben hatte, spürte beinahe Aufregung. Ob es ihm gefallen würde? Was würde er denken? Langsam sprach sie den letzten Satz aus und hob den Blick, beinahe so als wäre sie immer noch der törichten Hoffnung erlegen, dass er plötzlich vor ihr auf dem Bett liegen und ihr aufmerksam lauschen würde, so als wäre er niemals weg gewesen. Mit einem Schlag wurde ihr bewusst, dass es niemanden mehr gab, der ihr zuhören würde. Nicht auf diese Weise.
Sie hatte für einen Toten geschrieben und erhoffte sich... Was denn? Dass er plötzlich wieder hier wäre, dass er ihr lauschen würde wie damals? Dass er sie vielleicht einen Tag länger am Leben erhalten würde? Aber er hielt ihre Zukunft nicht mehr in seinen Händen, das tat sie nun selbst. Nur sie alleine.
So konnte sie doch nicht weiterleben, mehr in der Vergangenheit - einer schrecklichen - als in der Gegenwart. Das musste ein Ende haben, ein für alle Mal. Er war tot und er würde es bleiben. Nie wieder würde sie ihm die Chance geben, Macht über sie zu besitzen. Nie wieder würde sie sich in den Fängen dieses Teufels befinden. Nie wieder. Nicht über seinen Tod hinaus. Er war nicht mehr - und sie war frei. Nach all den Jahren der Angst und Schmerzen frei von ihm.
In dieser Nacht verbannte sie alles, was auch nur im Entferntesten an ihn erinnerte. Dieses Mal verschloss sie die Tür zu seinem Zimmer endgültig. Doch bei alledem vergaß sie eins: Er ging niemals wirklich fort. Er war immer noch hier, in jedem Raum des Hauses, in ihrer Vergangenheit und in ihren Gedanken.
Denn all diese Gefühle brachen immer wieder auf sie herein. Und sie war für einen Augenblick gefangen in der Hölle.
Die Kälte auf ihrer Haut.
Das Dröhnen in den Ohren.
Der beißende Gestank.
Schreie.
Schüsse.
Es war keine bloße Erinnerung, die sie verfolgte, sie war für diese wenigen Herzschläge tatsächlich dort, konnte all die alten Eindrücke sehen, riechen und fühlen, als wäre sie in diese Zeit und an diesen Ort zurückversetzt worden. In diesen Augenblicken war das Vergangene lebendiger als das, was sie tatsächlich umgab, je hätte sein können. Die Rückkehr in die Realität fiel ihr jedes Mal aufs Neue schwer. Als wollte sie der Teufel, der sie einmal in seinen Fängen gehabt hatte, selbst jetzt nicht gehen lassen. Nie wieder. Immer würde er sie an der Hand führen. Sie existierten gemeinsam. Seite an Seite. Sie würde nie frei sein. Niemals.
Wie jede Nacht träumte sie von ihm und spürte wie er durch die Zeit hinweg immer noch nach ihr griff, nicht bereit sie jemals loszulassen.
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