|7| Ankunft im Nirgendwo
Letzte Woche feierte ich den Schabbes in Berlin im Kreis meiner Familie. Heute in einem stickigen Viehwaggon und im Nirgendwo. Niemandem wäre das „Schabbat Schalom" jetzt über die Lippen gekommen, das ich jahrelang ganz selbstverständlich ausgesprochen hatte, und mir schienen die Worte plötzlich auch ein bisschen fremder. Die Erinnerung an den Rest bis vor sieben Tagen jeder Erschütterung standhaltende Friedlichkeit ein bisschen ferner. Selbst jene an maminkes duftendes Tscholent, das trotz aller Mängel seit dem Krieg nichts an Köstlichkeit eingebüßt hatte, konnte ich in dem Gestank nach Schweiß, Angst und anderen Körperausscheidungen nicht aufleben lassen.
Es war besser so, das wusste ich, denn andernfalls hätte es mich zu sehr an die schmerzhafte Leere in meinem Magen erinnert. Und wäre es mir gelungen, mich zurück an den Tisch zu meinen Eltern zu versetzen, hätte ich bei der Rückkehr vieles an Lebensmut dort zurückgelassen.
„Ich sehe Gebäude!", rief eine junge Frau aus, in der ich Miriam von unserer Fahrt aus Berlin wiederzuerkennen glaubte. Köpfe ruckten in ihre Richtung, Menschen drängten sich an die Fenster. Diesmal nicht, um der drückenden Luft im Waggon zu entkommen, sondern um auch einen Blick darauf werfen zu können.
Lediglich der alte Mann zeigte keinerlei Reaktion. Nicht einmal ein Öffnen der Augen oder Zucken der Mundwinkel. In meiner Magengrube regte sich der Wunsch, nach ihm zu sehen, doch die dunkle Ahnung, die sich mir aufdrängte, hielt mich fest an meinem Platz.
Ein Bild von Asche, Scherben, Blut und toten Augen blitzte vor mir auf – Schatten einer Nacht, die ich längst hatte vergessen wollen.
Mit ihnen schlich sich die Angst zurück in meine Gedanken. Alles, was diese Menschen brachten, die ihr gestohlenes Kreuz über ihren Köpfen und Herzen trugen und seine Botschaft auf den Lippen, war Zerstörung. Und nie schien sie ihnen genug. Sie waren damals schon vor nichts zurückgeschreckt. Wie weit waren sie jetzt bereit zu gehen?
Ich zwang meinen Geist, sich davon abzuwenden und diese Erinnerung zurück in die Tiefen meines Bewusstseins zu verbannen, von wo sie soeben ausgebrochen war. Es wollte mir nicht gelingen.
Der Zug bremste abrupt, ließ diejenigen, die auf den Zehenspitzen stehend versuchten möglichst viel von der neuen Umgebung zu erkennen, taumeln und mangels Halt zu Boden stürzen. Schließlich hielt er an, das Zischen eines Untiers ausstoßend.
Irgendjemand stolperte rückwärts, stieg mir dabei unsanft auf die Füße und fand im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder, bevor er auf mich hätte fallen können. Sofort beugte ich mich schützend über Leah. Eine Frau tat es mir bei ihrem Kind gleich.
Das Rucken ließ den sitzenden Mann zur Seite kippen. Doch er verschwand sogleich aus meinem Sichtfeld. Davor schoben sich die anderen, die einander wieder auf die Beine halfen, in einem Gewimmel aus Mänteln, Hüten, Kopftüchern und zerzausten Frisuren. Ich meinte, den dumpfen Aufschlag seines Kopfes auf dem Holz zu hören.
„Sind wir denn schon da?", murmelte Leah leise, die sich noch den Schlaf aus den Augen blinzelte, ohne die Müdigkeit damit vertreiben zu können.
„Ich glaube, ja", krächzte ich rau.
Besorgt runzelte sie die Stirn.
„Die Kälte", antwortete ich auf ihre stumme Frage, hustete wie bestätigend und wandte mich schnell ab.
Vor wem schämst du dich für deine Lüge? Vor mir oder vor dir?, kamen mir Worte meiner Mutter in den Sinn, ohne mich der Umstände zu entsinnen. Ich wusste nicht mehr, womit und wieso ich gelogen hatte. In meiner Erinnerung blieb nur diese Frage. Damals hatte ich mich ihr stellen können.
Wie als Antwort wurden die Türen geöffnet und der kalten Luft, die uns entgegenschlug, erlaubt, den Raum nun vollständig ausfüllen.
„Raus! Raus!"
Meine Beine schmerzten, als ich mich erhob, doch das Gefühl wurde sofort von Schwindel verschluckt. Rache für die hastige Bewegung. Das Innere des Viehwaggons begann bedenklich zu wanken und schließlich von schwarzen Punkten durchlöchert zu werden, die sich wie krabbelnde Ameisen vor mein Sichtfeld schoben.
„Chana!"
Ich spürte einen stützenden Arm um meine Taille, der mich auf den Beinen hielt, bis die Umgebung wieder an Form gewann.
Dennoch meinte ich für einen Moment, dass der magere Mann in gestreifter Kleidung, der sich in den Waggon beugte, nur Einbildung sein konnte. Vor dem fast blendenden Licht, das durch die Tür hereinfiel, erschien er wie ein Geist. Die Haut hing schlaff über seinen eingefallenen Wangen und aus tiefen, schattigen Höhlen sahen Augen stumpf wie zwei Stück Kohle hervor. Es war das Gesicht eines Toten.
Ich schreckte nur innerlich vor dem Anblick zurück, mein Körper verharrte an Ort und Stelle, noch zu schwach, für eine solche Bewegung.
„Wenn sie dich fragen, sag ihnen, du bist gesund", raunte der Mann im Vorbeigehen.
Ehe ich überhaupt daran denken konnte nachzuhaken, was das bedeuten sollte, war er bereits zwischen den anderen verschwunden. Die nagende Angst, die sein Auftreten hinterließ, nahm er jedoch nicht wieder mit.
Im Gegenteil. Mein Verstand begann sich zu klären und zu begreifen, was ich gerade gesehen hatte. Keine geisterhafte Erscheinung, sondern ein halbverhungerter Mensch; ein Blick in unsere Zukunft.
Langsam schob sich die Menge im Waggon vorwärts und hinaus, und schließlich ließen auch wir uns von ihr mittragen – begleitet von den Soldatenstimmen, die mit jedem Wort ungeduldiger wurden.
Die uniformierten Männer waren unser einziger Empfang neben der Kälte und ein paar vereinzelten Regentropfen. Hinter ihnen zeichneten sich die Umrisse einiger, immer gleicher Dächer gegen den bleiernen Himmel ab. Sonst fand ich nichts, das an Zivilisation erinnerte. Kein Bahnhof, keine Läden oder Wohnhäuser, keine gewöhnlichen Menschen.
Aber –
Wachtürme.
War es hier etwa so wie in Łódź?
Ich meinte, das Blut aus meinem Körper weichen zu spüren. Ein Frösteln jagte durch mich hindurch.
„Du frierst ja richtig! Komm, ich geb' dir meinen –", setzte Leah an.
„Nein", unterbrach ich sie sofort, „es ist nicht so schlimm."
„Du musst nicht die Starke spielen. Nicht hier." Die Widerworte kamen leise, aber deswegen nicht weniger scharf. Sie trafen mich härter, als sie es vermutlich beabsichtigt hatte. Meine Kopfhaut prickelte vor Scham.
Ich sollte auf Leah aufpassen und ich sollte es sein, die sich um sie sorgte. Nicht umgekehrt.„Lejele –"
„Das Gepäck hier aufreihen! Jeder Koffer muss klar mit einem Namen versehen sein", forderte ein SS-Mann streng, aber gleichmütig, als täte er das den ganzen Tag. Die Nase des Schäferhundes, der zu seinen Füßen ruhte, zuckte schnüffelnd, aber wie sein Besitzer blieb er sonst vollständig ruhig.
Unwillkürlich festigte sich der Griff um meinen Koffer.
In dem Gedränge, das sich vor den Waggons bildete, verschmolz alles zu einer lauten, erdrückenden Kulisse. Gebrüllte Befehle, das Bellen von Hunden, das verunsicherte Murmeln der übrigen Menschen aus dem Zug.
Ohne, dass ich es selbst bemerkte, hatten meine Blicke zwischen den Köpfen zu suchen begonnen, lauschten meine Ohren auf vertraute Stimmen und hofften, in dem Chaos meine Eltern oder Elias wiederzufinden. Erfolglos.
Irgendwo hinter mir zischte eine Frau einen Protest. „Darauf, dass ich denen freiwillig meine letzte Habe gebe, können die lange warten. Noch mehr lass ich mir nicht stehlen."
„Hörst du nicht, wir sollen die Koffer beschriften. Das heißt, sie wollen sie uns zurückgeben können", antwortete eine andere beruhigend, doch ich hörte die Angst in ihrer Stimme mitschwingen. Angst, dass einer der SS-Männer ihren Widerstand gehört hatte.
„Ich will das nicht", flüsterte nun auch Leah.
„Ich bin mir sicher, wir bekommen hier alles, was wir brauchen."
Diesmal wusste ich, dass meine Antwort hohl und lächerlich klingen musste, denn nicht nur, dass ich sie selbst nicht glaubte, in mir kämpften dieselben Gefühle.
Mein Besitz hatte sich auf die Füllmenge eines erschreckend kleinen Koffers reduziert und ohne ihn – was blieb da? Nichts. Außer das, was ich am Körper trug.
Vielleicht.
Aber mir war schon einmal gelungen, Dinge an der SS vorbei zu schmuggeln. Warum nicht dieses Mal wieder? Verstohlen sah ich mich um, ob uns jemand beobachtete, wog ab wie lange meine Hand brauchen würde, von der Seite zum Koffer, zur Schnalle, hinein, wieder hinaus zur Schnalle und schließlich zu meiner Manteltasche.
Kurz blieb mein Blick an einer Frau neben den Soldaten hängen. Wie sie trug sie Feldgrau, bloß statt Reithosen einen Rock und keine Schirmkappe, sondern ein Schiffchen. Gerade beugte sie sich zu einem der SS-Männer, der genauso blond war wie sie, raunte ihm etwas zu und lachte.
Ich wusste nicht, ob ich den Anblick von solcher Fröhlichkeit befremdlich oder ein wenig beruhigend fand. Immerhin wären wir hier nicht alleine unter der Obhut dieser Männer – und wie grausam konnte ein Ort schon sein, an dem eine junge Frau noch so lachte?
Aber keiner von ihnen sah in unsere Richtung.
Jetzt!
„Los! Los! Die Koffer hierher!", brüllte ein Uniformierter, dass man meinen würde, seine Stimme musste gleich brechen, während Hunde mit ihrem Gebell mit einstimmten, und ließ mich zusammenfahren. Nichts an ihm besaß die kühle Blasiertheit seines Kollegen.
Vor einem jungen Mann baute er sich auf und ließ seine Reitgerte warnend gegen den Stiefel knallen. Dass der SS-Soldat dabei von dem anderen deutlich überragt wurde, nahm ihm kein Bisschen seiner Bedrohlichkeit. Seine Brust war aus Stolz über seine Uniform vorgereckt, als würde er gleich dem Stoff, der sich so über seinen massigen Bauch spannte, innerlich davor platzen. Die verdächtige Rötung in seinem formlosen, aufgeschwemmten Gesicht verriet ihn nicht bloß als Choleriker, sondern auch als Trinker.
„Heute noch!", knurrte er. „Und Hut ab, wenn eener von der SS mit dir spricht, Mistkerl."
Bevor der andere ihn, sicherlich eher aus Verängstigung als wahrem Respekt, hätte ziehen können, hatte die Reitgerte ihn vom Kopf gefegt.
Spöttisch wandte der SS-Mann sich seinem blonden Kameraden zu: „Keene Manieren dieses Pack, wa' Wilken?"
„Werden wir denen schon beibringen, Herr Rottenführer", antwortete dieser ernst.
Mein Fahrtgenosse wollte die Gelegenheit nutzen, seinen Hut hochheben und weiterlaufen, doch der glänzend polierte Stiefel des Soldaten schwebte drohend darüber, bereit seine Hand sofort zu zerquetschen.
„Nu' wirds bald, aber ein bisschen plötzlich", zischte der Rottenführer noch, ehe er dem Mann vor die Füße spuckte. „Saujud."
Der Fremde eilte zu den Koffern und die Reitgerte beschrieb eine Geste in seine Richtung, um ihn weiter anzutreiben. Sein Hut blieb vor dem Zug zurück.
Ekel und Rebellion tobten in meinem Inneren, ohne dass davon mehr als ein angewidertes Zusammenpressen meiner Lippen sichtbar wurde. Was hätte ich auch schon unternehmen können? Was mehr als still verachten und hoffen, dass es irgendwann noch Gerechtigkeit für solche Menschen geben würde, die sich dort am wohlsten fühlten, wo andere litten?
Doch ich wollte, ich wollte ...
Dann, als hätte er meine Gedanken gespürt, richtete sich der Blick des Rottenführers auf Leah und mich. Selbst von hier glaubte ich, den Hass in seinen Augen funkeln zu sehen und, noch viel erschreckender, ein kleines Grinsen, das seine Mundwinkel hob.
Der schwelende Zorn in meinem Magen erkaltete augenblicklich. Ich zuckte zusammen und drückte meinen Koffer fester an mich, nur um ihn wenig später wieder loszulassen. Diesmal endgültig. Leah drängte ich, es mir gleich zu tun, um nicht weiter Aufmerksamkeit zu erregen.
„Wir bekommen sie bestimmt zurück, wenn wir wieder gehen dürfen", versicherte ich ihr – oder eher uns. Gehen, wohin? Von wo?
Ich wusste nicht einmal, was für ein Ort das war, und welche Wege aus ihm führten. Doch viel grausamer waren die Zweifel, die an diesem einen, kleinen Wort hingen: wenn.
Aber im Angesicht des beleibten Rottenführers, der uns die Reitgerte in der Hand weiterhin beobachtete, meine Schwester dabei auf widerliche Art musterte, kam mir die Beschwichtigung erschreckend leicht über die Lippen und die Schuld, die sonst gegen meinen Brustkorb drückte, wog nicht so schwer.
Leahs zarte Finger lösten sich schneller vom Griff, als ich erwartet hätte.
„Du hast Recht."
Ich gab den Gedanken, doch noch etwas mitzunehmen auf. Vor diesem stechenden Blick wäre es unmöglich gewesen, das zu verbergen. Also ließ ich Kleidung, Fotos, Kafka und Kaléko, deren Worte mich jetzt in dunklen Nächten nicht mehr trösten konnten, zurück.
„In Fünferreihen! Vorwärts!"
Der SS-Mann mit seinem Hund verfolgte stoisch, wie sich das Chaos zu ordnen und in Bewegung zu setzen begann, während der Blonde und der Rottenführer nur darauf warten zu schienen, ihre Ungeduld an jemandem auslassen zu können.
„Was machen die jetzt mit uns?", vernahm ich Leahs Stimme leise neben mir.
In mir kämpften Erkenntnis und Verleugnung um Oberhand. Die Bilder vom November 1938 mischten sich mit der geflüsterten Erzählung einer Kundin meines Vaters, die ich vor Jahren belauscht hatte. Eine Geschichte von der Grausamkeit der Lager, in denen man Regimegegner wie sie und Juden wie uns quälte. Doch es blieb diese Stimme, die sagte, dass das einfach nicht möglich war, dass wir nicht alle in den Tod geschickt werden konnten, und die ganze Welt sah tatenlos zu.
Letztendlich gewann keine von beiden, sondern schlicht die Unentschlossenheit. Ich konnte Leah nicht Leben versprechen, während wir unserem Tod entgegengingen, und noch weniger hätte ich es übers Herz gebracht, ihre Hoffnungen zu zerschlagen. Was war schlimmer: Nichts oder alles zu wissen?
Ich wusste es nicht und wagte es nicht, diese Entscheidung zu fällen. Egoistisch, anders konnte man es nicht nennen, dass ich die Verantwortung, die ich nicht tragen wollte, so von mir schob, oder nicht?
„Ich weiß es nicht", gestand ich leise und versteckte mich hinter dem Gedanken, dass das doch stimmte, in meinem Inneren aber wissend, dass die halbe Wahrheit die Schwester der Lüge war.
Wir passierten zwei kleine, schmucklose Schilder mit der Aufschrift „Konitz" und „Halt!", befremdlich unauffällig im Vergleich zu dem gewaltigen Schriftzug der, der Krümmung des steinernen Torbogens folgend, über unseren Köpfen prangte. Arbeit macht frei.
Konitz. Ich hatte nie von dem Ort gehört, aber das hatte nichts zu bedeuten.
Polen war für mich ja doch nur wie die Großmutter, von der man behauptete, ich käme nach ihr. Und obwohl ihr Blut in meinen Adern floss, ich mit ihren Worten sprach und ihre Traditionen auch mein Leben bestimmten, hatte ich sie nie kennengelernt. Sie lebte in mir und war mir doch ein bisschen fremd.
Vielleicht hätte maminke gewusst, wo wir hier sind.
„Weiter! Weiter!", hörte ich ein Brüllen mit einem fast unmenschlichen metallischen Unterton ganz in meiner Nähe, gefolgt von einem Hundebellen – und dem unvermittelten Donnern von Schuhen auf dem Stein, das aus dem Rhythmus der anderen fiel. Etwas rempelte mich plötzlich an der Schulter an und war ebenso schnell wieder verschwunden.
„He, du da! In die Reihe zurück!"
„Stehen bleiben!", befahl eine andere Stimme, doch die Schritte verstummten nicht.
Die Hunde knurrten.
Ein Knall zerriss die Luft.
Dann Stille.
Eine Frau schrie auf, was nahtlos in ein Schluchzen überging.
„Da seht ihr was passiert, wenn einer abhauen will."
Wer hatte das gesagt? Wo stand er überhaupt? Die Stimme schien von überall und nirgendwo zu kommen, und von weit, weit weg.
Meine Beine bewegten sich einfach vorwärts. Ich spürte es in den taub gewordenen Muskeln nicht, doch dass die Welt sich um mich nicht anhielt, verriet, dass es so sein musste. Willenlos, mehr aus Reflex flatterte mein Blick über die Schulter zurück.
Knapp vor dem Zug lag ein Mann in schönem dunklen Mantel, das Gesicht nach unten in einer rostroten Lache. Der Rottenführer zerrte die Frau, die zitternd an seiner Seite kniete und immer wieder dieselben Worte schluchzte, grob in die Reihe zurück. Als wären zwei völlig unpassende Szenen zusammengefügt, die gar nicht gleichzeitig geschahen, schleifte der Mann in gestreifter Kleidung eine Gestalt aus dem Waggon, der unserer gewesen war, und legte sie wie andere ihren Koffer ab, ehe er erneut im Zug verschwand. Von alledem befremdlich unberührt lag inmitten dieses Bildes der Hut.
Ich sah und blickte doch durch alles hindurch, denn ich begriff es nicht. Eine Wand schob sich zwischen mich und die Welt, trennte, was mich sonst mit ihr verband.
Leah setzte stockend zu sprechen an, brachte aber keinen Ton hervor. Ehe sie selbst zurücksehen konnte, zwang meine Hand ihren Kopf mechanisch in die andere Richtung.
„Sieh nach vorn. Immer nur nach vorn." Meine Lippen bewegten sich nicht, die Stimme war fremd.
Eine aufkommende Brise, die über das Gelände fegte, ließ meine Finger den Mantel reflexartig enger um den Körper schlingen, obwohl es vollkommen zwecklos war, da ich bereits jetzt heftig vor Kälte zitterte. Der Stoff schien mir kein bisschen Schutz und Wärme zu bieten. Dennoch zog ich immer wieder daran.
„Guter Schuss, alle Achtung!" Das Lachen des Rottenführers dröhnte schmerzhaft laut in meinen Ohren.
„Nur schade um die Kugel", antwortete Wilken schulterzuckend und steckte die Pistole in das lederne Holster zurück.
Sieh immer nur nach vorn, wiederholte ich stumm. So oft, bis es mir gelang.
In fahles Abendlicht getaucht, erstreckte sich vor mir ein großer freier Platz, von Holzbaracken und einem grauen Gebäudekomplex flankiert, der einen alles andere als anheimelnden Eindruck verströmte. Er wirkte trotz seiner Gewöhnlichkeit bedrohlich. Kahl, zweckmäßig, düster.
Dahinter erahnte man in befremdlichem Kontrast die Fassade eines gemeinen Wohnhauses, wie es auch in Berlin hätte stehen können. Mit den frei liegenden Ziegeln unten, der beigegestrichenen Mauer darüber und dem Mittelrisalit sah es beinahe wie das meiner Großeltern aus und weckte damit unvermutete Erinnerungen an gemeinsame Feiertage, kindliches Spielen im Garten und Gespräche über dampfenden Tassen Tee.
Sie rissen mich aus meiner Trance zurück in die Realität.
Doch ich verscheuchte sie mit einem kleinen Kopfschütteln. Nicht bloß, da der Gedanke an etwas so Vertrautes inmitten dieser feindlichen Fremde lächerlich erschien, sondern auch weil ich fürchtete, dass diese schöne Vergangenheit zu lange der Gegenwart ausgesetzt, von ihrer Grausamkeit beschmutzt werden würde. Die Schatten von feldgrauen Uniformen, Angst und Tod durfte sich nicht an sie heften.
Ich wandte meinen Blick von dem Gebäude ab, das so wenig hierherzugehören schien wie die Erinnerungen an ein normales Leben.
Am anderen Ende des Platzes stand ein Galgen.
Der Bewohner dieses Hauses muss eine atemberaubende Aussicht haben. Vom Balkon, wie von einer Loge, könnte er das grausame Schauspiel hier unten beobachten, ohne zu ihm hinabzusteigen. Wie Hitler selbst, der sich von Residenzen daran erfreute, wie seine Diener seinen Willen vollstreckten.
Beinahe erwartete ich, jetzt dort oben jemanden stehen zu sehen, auf uns kleine, besitzlose, ängstliche Menschen in einer eleganten Uniform blickend. Ich sah noch einmal hinauf - und erkannte an eben dieser Stelle wirklich eine Silhouette. Doch sie war so schnell wieder verschwunden, dass ich mich getäuscht haben musste. Es waren nur meine Erwartungen gewesen, die dieses Bild dorthin projiziert hatten.
In der Luft schwang ein merkwürdiger Gestank mit, den ich nicht zuordnen konnte, doch er schien sich nach dem ersten kleinen Atemzug in der Nase festzusetzen und selbst auf die Zunge zu legen. Angewidert vergrub ich mein Gesicht nun noch tiefer im Kragen des Mantels, die ängstliche Stimme im Kopf ignorierend, die sich fragte, was die Ursache dafür sein könnte. Denn nicht mit all meiner Fantasie wäre mir eine beruhigende Erklärung eingefallen.
Allem an diesem Ort haftete eine verstörende Ordnung an. Es war wie eine krude Manifestation der SS eigenen Präzision: die mechanischen Befehle, die Frauen jetzt von Männern trennten und uns in Reihen aufstellen ließen; die exakt ausgerichteten Gebäude; jeder Schritt; jede Bewegung. Eine gut geölte Maschine.
„Stillgestanden!"
Dem Befehl folgte plötzliche Ruhe, die sich sogleich über den Platz legte. Keine einzige Stimme war zu hören, selbst die SS-Männer und -Frauen schwiegen und die Hunde ruhten gehorsam und stumm zu ihren Füßen. Nichts außer dem Wind und dem ein oder anderen unterdrückten Husten durchbrach diese unheimliche Stille, die sich wie eine enger werdende Schlinge um meinen Hals legte.
Die Welt hielt den Atem an.
Und wir warteten.
Auf den nächsten Befehl. Auf was auch immer jetzt folgen würde. Auf eine Antwort.
Wir warteten und nichts geschah.
Es gibt einen Weg zur Freiheit. Seine Meilensteine heißen: Gehorsam, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterland!, verhöhnte uns ein Schriftzug vom Gebäude gegenüber. Ob und von welchem der höchsten Diener Hitlers – wenn nicht von ihm selbst – die Worte stammten, wusste ich nicht. Sie klangen ohnehin alle gleich.
Eine grausame Ironie bedachte man, wie viele trotz dieser Tugenden hier waren oder perfider – gerade deswegen. Die, die ihre Heimat liebten und für sie kämpften, wurden verhaftet. Denn das Vaterland hatte aufgehört, auch sie zu lieben.
Mit einem Mal zerrissen Lampen das fahle Dämmerlicht und tauchten den Platz in ein kaltes Licht, das in den Augen schmerzte. Wir befanden uns mitten unter Scheinwerfern. Ich senkte den Blick zu Boden.
Auf eine perfide Weise erinnerte es mich an ein Theaterstück, bloß hatten sich die Rollen vertauscht. Ein kleines Publikum sah auf uns, die wir auf ihrer Bühne standen und im Gegensatz zu ihnen keine Ahnung hatten, was heute gespielt wurde. Oder vielleicht war es doch anders und wir für deren Darbietung Zuschauer und Statisten zugleich.
Selbstinszenierung – das war schließlich alles, was sie konnten, oder nicht?
Wenn sie mit brennenden Fackeln im Gleichschritt durch Berlin marschierten und ihre Lieder von großem Kampf in die Nacht schrien.
Wenn sie im Namen deutscher Kultur, deutsche Bücher verbrannten.
Wenn sie sich als die Herrenrasse in ihren braunen, schwarzen und grauen Uniformen präsentierten, während darunter immer noch der gleiche Bäcker, Polizist oder Schneider steckte; nur jetzt mit der Macht über das Schicksal anderer.
Wenn sie eine Nacht rauer Zerstörung nach etwas Raffiniertem wie „Kristall" benannten.
Nichts davon änderte ihre Verbrechen, dass es daran nichts Stolzes, Großartiges und Überlegenes gab.
Was würde es diesmal sein?
Was es auch war, wie immer zeigte es Wirkung. Meine Hände krampften sich fester um den Stoff des Mantels. Selbst, wenn man über ihre Selbstdarstellung und feigen Lügen spotten wollte, begleitete jeden Hohn Furcht. Denn hinter all dem steckte rein gar nichts Lachhaftes.
Und dann durchbrachen Schritte die Stille.
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Ich melde mich schüchtern aus der letzten längeren Updatepause mit diesem Kapitel zurück und hoffe sehr, dass es euch gefallen hat.
Wie der kleine Cliffhanger am Ende schon zeigt, hat nächstes Kapitel ein Charakter seinen ersten Auftritt, den einige von euch schon kennen dürften ;)
Wie, glaube ich, schon im Vorwort erwähnt, ist das erwähnte Lager fiktiv. Ich hab lange überlegt, wie ich das handhabe. Ein echtes zu wählen und damit einen realen Kommandanten zu ersetzen hat sich nicht richtig angefühlt, andererseits auch nicht, ein ganz neues zu erfinden - und deshalb hab ich das auch nicht wirklich. Der Name ist nicht echt, soll auch nicht so wirken, sondern symbolisch sein. Damit ist es eines der wenigen Dinge dieser Geschichte, bei denen ich nicht historisch korrekt in dem Sinne bin und das auch deutlich machen möchte.
Übrigens hab ich bei der grafischen Gestaltung etwas gebastelt und Gifs hinzugefügt :)
Ich weiß, die Updates kommen schleppend und das tut mir leid. Es liegt definitiv nicht daran, dass ich nicht (gerne) an "Blut und Tinte" schreibe. Aber diese Geschichte fordert durch ihre Perspektive eine Nähe zu den Geschehnissen und Hanna, die ganz schön an die Substanz gehen kann.
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