Teil 4 - Versprechen
Am folgenden Tag konnte Kelron nicht schlafen. Er hatte sich wie immer nach dem Frühstück in sein Zimmer zurückgezogen, um sich auszuruhen, aber er bekam kein Auge zu. Unablässig kreisten seine Gedanke um Silverian und dessen Worte.
Was, wenn Fürst Valendar ihn wirklich gerettet hatte? Was, wenn die Vampire tatsächlich nur das taten, was jedes Lebewesen tat, und ihre Existenz verteidigten? Was, wenn der Ehrenkodex, dem Kelron sein Leben lang gefolgt war, auf einem Irrtum beruhte?
All diese Überlegungen waren so ketzerisch und schrecklich, dass es ihm selbst Angst machte - aber diese Fragen waren gestellt und verlangten nach Antworten. Wenn er keinen Weg fand, diese furchtbaren Zweifel zu zerstreuen, dann stand sein ganzes Leben in Frage. Und das konnte er nicht dulden.
Doch das war nicht das Einzige, was ihn quälte. Immer wieder sah Kelron vor seinem inneren Auge Silverians Gesicht mit dem verführerischen Lächeln, ohne dass er es hätte aussperren können. Es half auch nichts, sich mit dem Gedanken zu trösten, dass diese Anziehung nicht echt war, sondern nur der Kraft des Vampirs entsprang, denn für Kelron fühlte sie sich eindeutig real an. Den Paladinen der Silbernen Klinge war weder ein Zölibat auferlegt noch war ihnen verboten, zu heiraten, doch in diesen schwierigen Zeiten wollten die Ordensvorsteher keine unnötigen Reibereien herausfordern und hatten die Geschlechter streng getrennt. Auf Burg Nordwall gab es keine einzige Frau; die weiblichen Paladine, von denen es nicht wenige gab, hatten ihre eigene Festung.
Kelron war immer zu sehr mit seinem Training beschäftigt gewesen, um sich in der Hinsicht große Gedanken zu machen. Während seiner Ausbildung im Hauptquartier der Paladine in der Königsstadt hatte er durchaus nähere Bekanntschaft mit Frauen gemacht, doch es war oberflächlich und schal geblieben. Und was Männer betraf... auf Burg Nordwall hatten einige Paladine durchaus Gefallen aneinander gefunden, und dies wurde auch toleriert, solange es die Pflichten nicht behinderte.
Aber Kelron hatten seine Geschlechtsgenossen nie gereizt. Er wollte keine schwieligen Hände, keine rauen Bartstoppeln auf seiner Haut spüren, sondern sanfte, kühle Finger und seidige Haare... weiche, warme Lippen...
Kelron spürte, wie sich erneut unwillkommene Hitze in seinem Körper sammelte, und mit einem unwilligen Knurren setzte er sich auf und versuchte mit aller Macht, die Gedanken an den Vampir zu verscheuchen. Wenn Silverian ein Mensch gewesen wäre, hätte ihn das nicht im Geringsten gestört, aber derart unsittliche Gedanken über einen Blutsauger, ein verdammtes Monster zu haben, war einfach schändlich.
Kelron stieg aus dem Bett und spritzte sich Unmengen eiskalten Wassers ins Gesicht. Gern hätte er ein Bad genommen, aber er hatte auch kein Lust, unten im Baderaum den Blicken der anderen Paladine ausgesetzt zu sein. Kurzerhand entschied er sich dafür, seine Rüstung wieder anzuziehen und sich mit einem vernünftigen Übungskampf abzureagieren.
Im Innenhof fand Kelron Mergil, der wie immer um diese Zeit die jungen Paladine trainierte und einen nach dem anderen gehörig ins Schwitzen brachte. Kelron sah eine Weile zu und beobachtete die Bewegungen und Finten. Der alte Meister war leichtfüßig und flink und verließ sich nicht auf seine Stärke, sondern auf sein Geschick. Er schien die Bewegungen seines Gegners regelrecht vorauszuahnen und konnte entsprechend reagieren.
Unwillkürlich fühlte Kelron sich wieder an den Vampir unten im Kerker erinnert, und er schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu verscheuchen. Natürlich konnte er seinen geliebten und bewunderten Meister nicht mit dem Blutsauger vergleichen! Dennoch hatte die Art und Weise, mit dem Gegner umzugehen, eine gewisse Ähnlichkeit.
Und Beiden war Kelron unterlegen, so ungern er es auch zugab.
"Ah, mein Junge! Wie wäre es mit einem Übungskampf? Ich denke, du könntest wieder etwas Bewegung gebrauchen!" Mergil hatte ihn entdeckt und hielt inne, um ihn herausfordernd anzusehen. "Nimm dir ein Holzschwert und zeig, ob du noch nicht alles verlernt hast."
"Gern, Meister." Ohne langes Zögern nahm Kelron sich ein Übungsschwert vom Ständer an der Mauer und schwang es probeweise, um die Balance zu testen und sich etwas aufzuwärmen. Dann ging er in Kampfstellung.
Die anderen Schüler traten wohlweislich zurück und harrten dem Spektakel, das folgen würde. Mergil war ruhig und konzentriert und blickte Kelron fest in die Augen. Einige Momente standen die beiden Kontrahenten regungslos da, dann schlug der alte Meister zu.
Kelron hatte seine liebe Mühe, die Hiebe zu parieren, und merkte, dass er bereits in der Defensive war, ohne überhaupt eine Chance auf Angriff gehabt zu haben.
'Erbärmlich', hallte Silverians Stimme in seinem Kopf wider.
Kelron biss die Zähne zusammen. Nein, er wollte stärker sein, stärker und geschickter, um seine Feinde besiegen zu können. Eines Tages würde er Fürst Valendar gegenüberstehen und ihm zum Kampf fordern. Und er würde siegen. Er würde die Welt von einem Ungeheuer befreien.
'Fürst Valendar hat dich gerettet.'
Kelron hätte beinahe den nächsten Schlag nicht mehr pariert, als Hass und Ärger in ihm hoch kochten, und er wich zurück. Doch blinde Wut war ein schlechter Kampfgenosse, wenn es darum ging, gegen Mergil die Oberhand zu gewinnen. Kelron zwang sich, tief durchzuatmen und sich ganz auf seinen Gegner zu konzentrieren, auf das Hier und Jetzt.
"Wenn du gegen einen Gegner antrittst, dann darfst du nicht alle Feinde der Welt in ihm sehen", mahnte Mergil, während sie sich erneut umkreisten. "Kämpfe niemals mit dem Herzen, nur mit dem Kopf."
Das war leichter gesagt als getan, und so sehr Kelron sich auch zwang, jegliches Gefühl auszuschalten, es war unmöglich.
'Aber du musst dich nicht darüber ärgern, ein Herz zu haben, Kelron. Die anderen hier mögen kalt und gefühllos sein, aber du bist es nicht.' Erneut hallte Silverians Stimme durch seinen Kopf, und er versuchte vergebens, die Erinnerung zu verdrängen.
Was nützten Gefühle? Sie waren nur im Weg und hinderten ihn daran, besser zu werden. Kelron musste es machen wie seine Meister und jegliche Regung vergessen.
Ohne es verhindern zu können, musste Kelron wieder an Silverians Wunden denken und an Waragus' geradezu sadistisches Lächeln. Nein, das war keine Gleichgültigkeit, kein fehlendes Mitgefühl, sondern Freude darüber, jemanden zu quälen. Es war abscheulich.
Kelron wollte diesem Beispiel ganz sicher nicht nacheifern. Und Mergil... ihm war es wirklich gleichgültig, was dort unten im Kerker geschah. Er glaubte zwar nicht wirklich an einen Erfolg, aber auch er hatte angenommen, dass Hunger und Schmerz Silverian zum Reden bringen würden.
Nicht einmal einem Tier würde man so etwas antun, doch ein Vampir war etwas anderes. Etwas Wertloses, Verabscheuungswürdiges. Unwürdig, zu existieren.
Mit einem Schrei stürmte Kelron vor. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was ihn dazu veranlasste, aber der plötzliche Zorn in seinem Inneren verlieh ihm neue Kraft. Geschickt nutzte er seinen Vorteil an Körpergröße und Kraft, um Mergil einige Schritte zurückzudrängen. Dieser bot zwar keine Angriffsfläche, aber bekam auch keine Chance, Kelron erneut anzugreifen. Die Umstehenden keuchten auf, als die beiden Klingen sich erneut trafen, sich an den Parierstangen verhakten und die beiden Kontrahenten in einem stillen Kräftemessen verharrten. Kelron sah Mergils leicht überraschtes Gesicht ganz nah vor sich, und plötzlich schien alles so einfach. Er wusste genau, was sein Meister tun würde.
Sekunden später geschah es. Mergil drehte sein Schwert, um wieder frei zu kommen und Kelron die Waffe aus der Hand zu schlagen, doch dieser machte einen Schritt zurück und stieß zu. Die stumpfe Klinge traf Mergils Arm.
Der alte Meister hielt inne, dann hob er sein Schwert zum rituellen Gruß. "Gut gemacht, Kelron", erklärte er, während die umstehenden Paladinanwärter applaudierten. "Meine Lehren scheinen endlich zu fruchten. Du hast meinen nächsten Zug vorausgesehen."
Schweratmend nickte Kelron, ebenfalls einigermaßen erstaunt über sich selbst. "Ich hoffe nur, dass mir das auch in einem echten Kampf gelingt."
"Das wird es", versicherte Mergil ihm und gab sein Übungsschwert einem Knappen. "Aber mich würde interessieren, wieso du es gerade jetzt geschafft hast, wo du doch nicht einmal regelmäßig trainierst im Moment."
Kelron zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht. Glück vermutlich. Obwohl..." Er brach ab.
"Obwohl?", hakte Mergil nach.
Kelron verstaute sein Übungsschwert im Waffenständer und trat dann wieder zu seinem Meister, der seinen Schülern die Anweisung gab, mit den vorherigen Übungen weiterzumachen.
"Meister, es gibt da etwas, das ich wissen muss", begann Kelron zögernd. Obwohl er die Antwort fürchtete, musste er Gewissheit haben. "Damals, als Ihr mich fandet nach dem Angriff auf mein Dorf... wo genau war ich?"
Mergil sah ihn stirnrunzelnd an. "In einem der letzten nicht abgebrannten Häuser. Du warst unverletzt, nur ohnmächtig. Wie kommst du jetzt darauf?"
Kelron starrte ihn erschrocken an. "Seid Ihr sicher? Ich lag nicht unter einer eingestürzten Mauer?"
Sein alter Meister schüttelte den Kopf. "Nein. Aber es wirkte fast so, als habe dich jemand in dem Haus in Sicherheit gebracht."
Mit zitternder Hand fuhr Kelron sich über die Augen. "Es ist also wahr..."
"Junge, ist alles in Ordnung mit dir?", fragte Mergil besorgt. "Du bist ganz blass."
"Lasst nur, es geht schon", murmelte Kelron. "Verzeiht, aber ich habe noch etwas zu erledigen."
Kopfschüttelnd sah Mergil seinem ehemaligen Schüler nach, der eilig den Hof überquerte, um wieder ins Innere der Festung zu gelangen. "Wie es aussieht, wird er endlich erwachsen", brummte der alte Meister mit einem fast melancholischen Lächeln, ehe er sich wieder seinen Schützlingen zuwandte.
Kaum, dass Kelron den Hof verlassen hatte, lehnte er sich gegen eine kühle Steinmauer und versuchte, sich mit tiefen Atemzügen wieder zu beruhigen. Doch es gelang nicht. In seinem Kopf drehte sich alles nur um einen einzigen Gedanken: Silverian hatte Recht gehabt. Auch wenn seine Vernunft ihn daran erinnerte, dass es auch Zufall sein könne, dass der Vampir ihn vielleicht damals einfach in jenem Haus hatte liegen sehen und nun diese Geschichte erzählte... doch wer sonst hätte Kelron retten können?
Aber musste Silverian gleich mit Allem Recht haben, was er gesagt hatte? Musste Kelron ihm deswegen blind alles glauben?
Nein, das konnte er nicht. Noch war er nicht bereit, seine ganze Welt auf den Kopf gestellt zu sehen.
Noch immer etwas weich in den Knien stolperte Kelron die Treppen hoch bis zu seiner Kammer. An Schlaf war jetzt sowieso nicht mehr zu denken, aber in seinem aufgewühlten Zustand wollte er auch nicht in Gesellschaft anderer sein. Sie würden nur Fragen stellen, denen er sich im Augenblick nicht aussetzen wollte.
Als SIlverian am Abend erwachte, hatte Kelron schon eine ganze Weile auf seinem Posten gesessen und vor sich hingestarrt. Der Vampir stand auf und musterte ihn eingehend.
"Du weißt, dass ich nicht gelogen habe." Es war eine Feststellung, keine Frage, aber es klang auch kein Triumph darin mit.
Kelron blickte endlich auf. Silverian sah dank des Blutes noch immer lebendig aus, aber das würde sich nach der nächsten Folter wohl wieder ändern. Dieser Feststellung folgte jedoch der erschreckende Gedanke, dass Meister Waragus den Zustand des Vampirs ja nicht übersehen konnte. Er musste ganz richtig annehmen, dass Kelron ihn mit Blut gefüttert hatte, und das gegen jede Anweisung.
Kelron maß den Vampir mit einem finsteren Blick. "Ich habe noch immer allen Grund, deiner erbärmlichen Existenz ein Ende zu setzen."
"Aber du kannst die Wahrheit nicht töten, Kelron. Sie wird dich irgendwann einholen, ganz gleich, was du mit mir machst", erwiderte Silverian ruhig. "Aber je länger zu zögerst, umso schlimmer wird alles werden."
"Schlimmer? Was könnte denn noch schlimmer werden?", brauste Kelron auf. "Du hast geschafft, was du wolltest und mich so verunsichert, dass ich nicht mehr weiß, was ich denken soll!"
Silverian lächelte leicht. "Niemand kann für dich denken, Kelron. Weder ich noch deine Meister. Was du tust, ist allein deine Entscheidung. Und tief in deinem Inneren weißt du, was richtig und falsch ist, da bin ich mir sicher."
"Hör auf, mir Ratschläge zu geben!", knurrte Kelron. "Wenn ich..." Er brach ab, als er vor der Tür Schritte hörte. Waragus kam zu seinem allabendlichen Besuch.
Kelron sprang auf und griff nach dem Schlüssel, um seinen Meister noch vor der Tür abzufangen.
Dieser sah ihn überrascht an und blieb auf der untersten Treppenstufe stehen. "Kelron, was gibt es?"
Kelron zog die Kerkertür hinter sich zu; wenn Waragus ihn bestrafte, dann wollte er nicht, dass der Vampir das sah, Einen Rest von Würde wollte er sich bewahren. Kelron nahm Haltung an.
"Meister, ich habe die Meldung zu machen, dass ich dem Gefangenen mein Blut gegeben habe."
Waragus' buschige Augenbrauen wanderten in die Höhe. "Dazu hattest du keinen Befehl."
"Ich weiß. Aber ich denke, es war eine gute Möglichkeit, sein Vertrauen zu gewinnen. Außerdem wäre er sonst bald in Starre verfallen."
"Hm, da hast du Recht. Gut, du wirst den Blutsauger auch weiterhin füttern", befahl Waragus. "Er soll sehen, dass der Tod kein Ausweg aus seiner Lage ist."
Kelron zögerte. "Meister, das wird nicht gehen. Er sagte, dass wenn ein Vampir dreimal hintereinander von demselben Menschen trinkt..."
"Dann was? Los, rede!", verlangte der Ordensvorsteher.
"Dann kann der Vampir kein anderes Blut mehr zu sich nehmen", schloss Kelron und wusste im gleichen Moment, dass es ein Fehler gewesen war, etwas davon zu sagen.
"Wirklich? Nun, das werden wir herausfinden. Du fütterst ihn weiter, und wenn wir ihn freilassen, sobald er uns endlich alles gesagt hat, wird er sowieso sterben, wenn er wirklich kein anderes Blut trinken kann." Waragus rieb sich zufrieden die Hände.
"Aber Meister..."
"Keine Widerrede. Und nun mach die Tür auf, es ist Zeit fürs Verhör", befahl Waragus herrisch.
Kelron blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen.
Diesmal dauerte es sehr viel länger, wie Kelron feststellte, obwohl er keine Schreie hörte. Das beunruhigte ihn allerdings nicht weniger, und als die Paladine in Waragus' Begleitung den wieder einmal bewusstlosen Vampir aus der Folterkammer schleiften, konnte er nur das Schlimmste vermuten.
"Ich denke, er ist kurz davor, in Starre zu verfallen", meinte Waragus und drückte Kelron den Zellenschlüssel in die Hand. "Flöße ihm etwas Blut ein, solange er nicht bei Bewusstsein ist. Dann wartest du, was passiert."
"Meister, was...", wandte Kelron ein, wurde aber erneut unterbrochen.
"Ich werde nicht warten und mir das ansehen; es schadet nichts, wenn der Vampir denkt, ich wüsste nichts davon", erklärte der Ordensvorsteher. "Erstatte mir morgen für Bericht." Dann verließ er den Kerker.
Kelron starrte auf den Zellenschlüssel in seiner Hand, dann blickte er zu dem Vampir hinüber. Dessen Atemzüge waren kaum noch sichtbar; was immer Waragus dieses Mal getan hatte, es hatte das frische Blut von Kelron wieder aufgebraucht. Kurz zögerte er noch, dann schloss Kelron die Zelle auf und kniete sich neben den Vampir.
"Silverian?", fragte er leise. Er bekam keine Antwort. Vorsichtig berührte er den Vampir an der Schulter und drehte ihn dann auf den Rücken.
Der Anblick war grauenhaft. Silveriasn Gesicht war aschgrau und so eingefallen wie das eines Totenschädels. Zwar hatte er keine neuen Verletzungen, aber dafür war sein Mund unnatürlich gerötet. Ein ausgekühlter Tropfen Silber klebte am Mundwinkel.
Kelron spürte, wie Übelkeit in ihm hochstieg; für einen Moment musste sich abwenden und eine tiefe Atemzüge schöpfen, um sich wieder zu sammeln.
Waragus hatte Silverian flüssiges Silber zu trinken gegeben! Kein Wunder, dass dieser nicht geschrieen hatte.
Schließlich hatte Kelron sich soweit wieder gefasst, dass er nachdenken konnte. Wenn er jetzt nichts tat, dann verfiel der Vampir auf jeden Fall in Starre oder starb sogar – und dann würde Kelron niemals erfahren, wo Fürst Valendar sich aufhielt. Er musste den Vampir am Leben erhalten um jeden Preis.
Kelron schnallte sich eilig die linke Unterarmschiene ab und zog sein Schwert. Erst kratzte er mit der Spitze ganz vorsichtig das Silber von Silverians Mundwinkel, bevor er sich die Haut an der Innenseite seinem Armes aufritzte. Dann presste er die Wunde gegen Silverians Lippen, damit das Blut in dessen Mund laufen konnte. Es tropfte jedoch nur langsam und begann schließlich zu gerinnen, sodass Kelron sich erneut eine kleine Wunde zufügen musste.
"Los, trink, verdammt", murmelte er. "Ich will dich retten, hörst du? Ich werde dir nichts tun, und ich werde auch nicht zulassen, dass Waragus dich weiter foltert. Du sagst mir, wo Valendar sich aufhält, und dann verschwinden wir gemeinsam von hier. Hörst du mich, Silverian? Ich verspreche es dir. Ich schwöre es dir bei meiner Ehre als Paladin, soviel sie auch wert sein mag."
Erst, als er all dies aussprach, wurde Kelron wirklich bewusst, welchen Entschluss er da gefasst hatte. Er war im Begriff, seinen Orden und seine Meister zu verraten, doch merkwürdigerweise verspürte er keinen wirklichen Widerwillen dagegen. Tief in seinem Inneren wusste er, dass es Unrecht war, was hier geschah und dass er nicht langer zusehen durfte. Außerdem war dies die einzige Möglichkeit, jemals Fürst Valendar zu treffen. Kelron wollte die ganze Wahrheit erfahren, wollte jenem Schreckgespenst, jeder Alptraumgestalt seiner Kindheit gegenübertreten mit hocherhobenem Haupt und ein ehrenhaftes Duell fordern.
Nach einer halben Ewigkeit begann Silverian endlich, an der Wunde zu saugen. Kelrons Arm schmerzte bereits, und er fühlte sich etwas schwindelig, aber er zog seinen Arm nicht weg. Diese kleinen Kratzer waren nichts im Vergleich zu Wunden auf dem Schlachtfeld.
Dafür erfasste ihn unvermittelt eine heiße Woge des Verlangens, die wie starker Wein auf nüchternen Magen augenblicklich sein Denken vernebelte. Das Brennen in seinem Arm zog durch seinen ganzen Körper und ließ ihn aufkeuchen.
"Verdammt, lass das!", knurrte Kelron mit zusammengebissenen Zähnen, doch er war sich nicht einmal sicher, ob der Vampir das wirklich mit Absicht tat. Alles, was er wusste, war, dass Silverian mit jedem Schluck wieder auflebte und dann auch endlich die Augen aufschlug. Kelron zog seinen Arm weg und sah den Vampir schweratmend an. Das Blut färbte Silverians Lippen dunkel, die sich zu einem leichten, fast träumerischen Lächeln verzogen. Die Augen waren ein wenig verschleiert.
Mit aller Willenskraft hielt Kelron sich davon ab, sich hinunterzubeugen und Silverian zu küssen.
Doch der nebelhafte Augenblick hielt nur kurz an. Silverian blinzelte ein paar Mal verwirrt, dann setzte er sich ruckartig auf und blickte Kelron entsetzt an.
"Du hast mir noch einmal dein Blut gegeben!"
"Das war der einzige Weg, dich zu retten", verteidigte Kelron sich. "Außerdem war keine Zeit, jemand anderen zu fragen, ob er sich ur Verfügung stellt – was ich sowieso bezweifelt hätte."
Der Vampir rieb sich über den Mund und verzog das Gesicht. "Dann hättest du mich sterben lassen sollen."
Kelron schüttelte den Kopf. "Nicht, bevor ich nicht weiß, wo Fürst Valendar ist. Du wirst mich zu ihm führen, und ich werde allein gehen."
"Du versprichst es?", wisperte Silverian.
"Ich verspreche es", wiederholte Kelron seinen Schwur, entschlossener denn je. Dann erhob er sich und streckte dem Vampir die Hand entgegen.
Dieser zögerte einen Moment, dann ließ er sich aufhelfen. Kelron trat aus der Zelle und drückte dem Vampir die frischen Kleider in die Hand, die er zuvor bereitgelegt hatte. "Zieh dich an, ich kümmere mich um die Wache draußen", erklärte er. Er wollte schon zur Tür stürmen, doch dann blickte er den Vampir an. "Bekomme ich auch dein Versprechen, mir nichts zu tun und mich sicher zu Valendar zu führen?"
Silverian nickte. "Das hast du."
Kelron zog sein Schwert, schloss die Tür auf und huschte die Treppen hinauf. Leise öffnete er die Tür zum Innenhof, der leer im Mondlicht da lag. Ein kräftiger Schlag mit dem Schwertknauf schickte die dort stehende Wache ins Reich der Träume.
Silverian war ihm gleich darauf gefolgt, und gemeinsam liefen sie im Schutz der Mauer über den Hof zum Tor.
Nun galt es, die dortigen Wachposten abzulenken, aber Kelron fiel schnell etwas ein. Er schnappte sich einen der herumstehenden Eimer am Ziehbrunnen und warf ihn mit aller Kraft gegen die gegenüberliegende Mauerseite.
Wie erhofft wurden die beiden Paladine am Tor aufmerksam und begannen, sich im Innenhof umzusehen.
Geduckt rannten Kelron und Silverian aus dem Tor und umrundeten die Festungsmauern, bis sie außer Sichtweite aller Wachposten auf den Zinnen waren.
"Und wohin jetzt?", fragte Kelron leise.
Der Vampir deute auf die Bergkette, die sich schemenhaft am Horizont abzeichnete. "Der große Wald am Fuß der Schattenberge. Mit Pferden brauchen wir mindestens eine Woche, zu Fuß weitaus länger."
"Pferde werden wir unterwegs besorgen", erklärte Kelron. "Es gibt einige Bauernhöfe, an denen wir vorbeikommen. Ich habe etwas Geld dabei."
"Man wird dich aber als Paladin erkennen", gab Silverian zu bedenken. "Ich fürchte, du musst deine Rüstung irgendwo zurücklassen."
Dieser Gedanke war alles andere als erfreulich, aber leider hatte der Vampir Recht. Kelron konnte es nicht riskieren, dass man herausfand, wohin er gegangen war. So leise wie möglich begann er, seien Rüstung abzulegen und dann mit Erde und Laub zu bedecken. Nur sein Schwert behielt er.
"Gehen wir", wisperte er.
Fortsetzung folgt...
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