Kapitel 3;2 - Wo die Schatten vergessen
Unter den Qualm einer angezündeten Pfeife trat der dampfende Geruch von Kräutern, Ölen und frisch geräucherten Fleischs. Ein Kamin im Hintergrund... Alles roch nach Feuer, als habe Caden direkt die unterste Höllenebene betreten.
Nur hingen hier keine Käfige von der Decke herunter, sondern Tonschüsseln – so karg, wie der restliche Raum.
Die Jahre hatten sich an der Einrichtung genährt, Farbe war abgeblättert und die Reihen enormer Bücher wurden teils von Weinflaschen unterbrochen. Die Sammlung eines belesenen, gefährlichen Mannes: Einige der Wälzer wirkten neu. Edel in feinstem Leder gehüllt, mit Aufschriften, die so zart waren, dass Caden sie nicht von seinem Standort aus lesen konnte. Andere waren gebraucht, abgeliebt und schon alleinig ihr Äußeres verriet, dass sie einmal zu oft aufgehoben wurden.
So in diesem aufgeheizten Raum stehend, fühlte Caden sich wie ein Eindringling, doch musste er Chase Harding über seinen Auftrag informieren... auch wenn er dafür tatsächlich Qualen durchleben würde, die in seinem Nachleben kaum schrecklicher werden könnten.
Nicht nur bereitete es ihm Sorge, dass alles erfolglos ausgegangen war, sondern auch, dass sie auf dem Rückweg in ein Haus stolziert waren, um festzustellen, dass der Eigentümer verloren gegangen war.
Zu viele unpassende Informationen für ein Gespräch. Und er konnte dieses Wissen noch nicht einmal verheimlichen.
Chase würde das alles auch erfahren können, ohne dass man es ihm erzählte. Er war das, was man in der Stadt als Insider bezeichnete. Er wollte alles mitbekommen, hatte auf jede Frage eine Antwort, dachte logisch, plante geschickt, konnte mit seinem Blick ein Kind zum Weinen bringen.
Neben ihm stehend, bemerkte man, dass nur die dunkelsten Viertel Brus' so etwas wie ihn hervorbringen konnten.
»Ich sehe Unzufriedenheit in deinem Blick«, begann er das Gespräch, deutete dann aber auf den Stuhl vor sich.
Caden ließ sich nieder, dabei zu einem Glas greifend und schenkte sich schließlich etwas ein. »Ja, so ziemlich. Das bin ich auch.«
Eine Weile Ruhe. Erdrückende Stille, nur unterbrochen davon, wie Chase mit seinen Ringen auf den Tisch klopfte.
Als würde Caden seine Erklärung herauszögern können, sah er seinen Gegenüber einfach nur an.
Chase war ein schlaksig geratener Mann. So dünn, dass man sich kaum vorstellen konnte, wie er sich in dieser kalten Welt verteidigte. Einige hervorstehende Knochen an den falschen Stellen, wirkte er fast wie ein hungriges Kind auf den Straßen...
Das war er immerhin auch lange genug gewesen.
Nun jedoch hatte er einiges an Narben dazugewonnen. Vor allem eine fiel auf, die von seiner Nase zum Kiefer herunterführte und ihn damit aussehen ließ, als würde er sein Nasenbluten nur halbherzig weggewischt haben. Caden wusste, wovon er diese Narbe hatte. Er wusste, weshalb er vor diesem Mann Respekt hatte. Und er wusste, wieso er sich freiwillig seiner Gruppe angeschlossen hatte – vor Jahren schon.
»Möchtest du mir nicht sagen, was passiert ist?«
»Dolunay wurde mittendrin gestört«, platzte es aus dem jungen Mann heraus, als wolle er sich über sie aufregen. Caden wusste, dass dieser Verlust nicht ihre Schuld war, aber irgendetwas an dieser Situation brachte sein Blut zum Brodeln.
Vielleicht war es auch schlicht sein Gesprächspartner, den Dominanz wie Parfüm umhüllte.
»Wir«, fügte er noch heiser hinzu. Er fühlte sich erbärmlich schmächtig, als er an die Wand blickte, wo neben Gewehren auch zahlreiche Messer, oder andere Werkzeuge befestigt waren, die Chase nicht allzu ungern für Folterungen zweckentfremdete. »Wir haben einen weiblichen Schrei gehört. Dolunay wurde wieder aus ihrer Starre rausgeschmissen und hängt jetzt noch halb darin. Wir sind sofort hinausgegangen.«
»Also habt ihr keinen Beweis für die Schuld des Priesters?«
»Das Papier hat sich komplett schwarz verfärbt, aber Dolunay ist in der Lage gewesen, einige Fragmente seines Traumes wahrzunehmen-«
»Das bedeutet nichts«, donnerte Chase und lehnte sich zurück. Seine ausdruckslosen Augen lagen eine Weile auf ihn gerichtet. »Du weißt das doch hoffentlich.«
»Ja, schon, aber-« Caden fügte nichts hinzu. Er legte den Kopf schief und schloss den Mund. »Es tut mir leid.«
»Wir sollten unser Geschäft scheinbar erweitern. Ich habe darüber schon länger nachgedacht. Auf die Aart ist einfach keinen Verlass mehr, als dass man einfach nur von ihren Diensten und gelegentlichen Diebstählen leben könnte. Wir müssen uns mit der Zeit bewegen.« Chase griff neben sich und nippte an der herb riechenden Flüssigkeit.
Ein fast schon ironisches Bild, denn direkt neben dem Glas mit starkem Alkohol lagen einige Pertkerscheiben – eine Süßigkeit, die hierzulande nur unter kleinen Kindern sehr beliebt war.
»Du hast sicherlich schon von dieser Droge gehört, die das Gedächtnis von Menschen auslöschen soll.«
Die Erinnerung an das Gespräch mit Scarlett tauchte in ihm auf. Er musste ein abweisendes Grummeln unterdrücken. »Ja, die Fälle machen die Runde. Es sollen viele Leute in letzter Zeit geistlos durch die Stadt laufen.«
Harding winkte ab. »Kann sein. Wichtig ist, damit lässt sich ein recht gängiges Geschäft aufbauen, wenn man nur die richtigen Leute vergiftet. Damit kann man an einiges Wissen, Persönlichkeiten und Talente gelangen. Es ist zwar unmoralisch, aber profitabel.«
Caden konnte dem Gedanken nicht entfliehen, wie es wäre, wenn er alles vergaß. Alles, was er jemals gelernt hatte: Zu sprechen, zu gehen... Was das Leben in dieser Welt bedeutete.
Ein Gedanke, der so kalt und erbarmungslos war, wie die Existenz selbst.
»Unmoralisch trifft es gut. Vielleicht sollten wir uns erstmal davon distanzieren, bevor wir uns endgültig in Sünden verlaufen.«
»Was?« Aus Chase Mund drang ein Lachen, das fast ehrlich amüsiert klang. »Seit wann geht es denn darum?«
»Ich weiß nicht. Ich fühle mich etwas schuldig. Ich denke nicht, dass die meisten aus unserer Gruppe da mitmachen würden.« Er hielt inne, um sich zu sammeln. »Gibt es nicht außerhalb der Stadt so ein Lager, wo die aufgefangen werden, die ohne Verstand herrenlos herumlaufen?«
Er zeigte auf Caden. Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen – fast schon teuflisch. »Genau das war es, worauf ich hinauswollte. Ich möchte an einige Hintergrundinformationen gelangen. Ich war selbst schon in diesem Lager. Da ich mich auf deinen Rat verlasse, würde ich dich aber um eigene Einschätzungen und Informationen bitten. Du sollst diesen Ort nämlich besuchen.«
Ein hörbares Seufzen kam von dem jungen Mann. Caden schlug seinen Kopf gegen die Holzlehne hinter sich. Der Gedanke verunsicherte ihn so sehr, dass er nicht wusste, ob seine Neugierde groß genug war.
Er wusste nicht einmal, wie viel diese Menschen vergaßen; ob sie sich wirklich an nichts erinnerten. Nicht einmal daran, wie man schrieb, oder was essbar war. All diese Fragen könnte – müsste – er sich selbst beantworten, indem er diesen Ort besuchte.
Dennoch war Caden überzeugt: Chase wollte keine Informationen von ihm. Der Befehl hatte den schlichten Zweck, dass er seine Skepsis verlieren sollte. Als könnte das Lager seine Einstellung zum Gedächtnishandel in Wohlwollen verwandeln.
Trotzdem der Auftrag auf Lügen aufgebaut war, war Caden gewillt, das Spiel mitzuspielen. »Was willst du genau von mir wissen?«
»Alles, was du herausfinden kannst.«
»Ich werde gleich aufbrechen, dann habe ich es hinter mir.«
Chase nickte. »Dann darfst du jetzt gehen.«
»Nein, nein, es gibt noch etwas.« Der Jugendliche stemmte den Rücken durch und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Wir haben ein wenig die Gegend erkundet und sind der Richtung des Schreis gefolgt. Jeder hat ihn gehört, der sich in unmittelbarer Reichweite befunden hat. Und jeder hat den Schrei so gehört, als wäre er direkt neben ihm erklungen. Wir haben noch nicht herausfinden können, wie das sein kann.« Er hielt inne, als Chase ihn aus desinteressierten Augen heraus anstarrte. »Irgendwann sind wir an einem Wohnhaus vorbeigekommen, in das Scarlett hineingehen wollte. Das Haus gehört ihrer Freundin. Wir haben in der Wohnung aber niemanden gefunden. Die Tür war abgeschlossen, die zum Laden im Erdgeschoss wiederum nicht. Das kuriose war noch dazu, dass vor dem Schlafzimmer ein Türrahmen mit einer Kommode versperrt war.«
»Und diese Frau war nicht mehr im Inneren, stimmt's? Sie war einfach weg.«
»Ja, genau« Caden blinzelte mehrfach, nicht wissend, was er von den faltigen Zügen, die Chase Ausdruck verzerrten, halten sollte. Dann ließ er die Schultern fallen und gestand: »Der Grund, wieso ich dir das erzähle, ist, dass Scarlett mich gebeten hat, dass du dich nach ihrer Freundin erkundigst. Sie ist die ganze Nacht nicht nachhause zurückgekehrt.«
»Wir sind hier nicht beim Verstecken spielen. Wieso soll ich sie denn suchen? Was hab ich denn davon?«
»Ich« Caden hielt inne, rutschte auf dem Stuhl umher, wie ein unruhiges Kind. »Ich weiß es nicht, es tut mir leid«
Ein Seufzen. Chase fuhr sich über das Gesicht. »Ach, Kinder... Das ist doch nicht unser scheiß Problem...« Er wanderte mit seinen Händen an seinem Gesicht herunter, stützte dann sein Kinn darauf ab. »Wie heißt sie denn?«
»Jade. Sie hat einen Papierhandel«
»Von dem Phänomen habe ich schon häufiger gehört. In letzter Zeit gehen einige Formwandler verloren.« Er drehte sich auf dem Stuhl nach hinten, um zum Schürhaken zu greifen.
Diese schlichte Bewegung war genug Anlass dazu, dass Caden den Abstand zwischen ihnen vergrößerte. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand mit diesem Metallstück geschlagen werden würde.
Doch Harding kümmerte sich ausschließlich um das Feuer und fügte verwaschen hinzu: »Ich glaube mich richtig zu erinnern, dass es sich bei dieser Jade auch um eine gehandelt hat, stimmt's?«
»Um eine Formwandlerin? Ja, das war sie. Wir haben auch schon vermutet, dass das jetzt so eine neue Handelsmasche ist.«
»Ob das wirklich Sklaverei ist, mag ich noch zu bezweifeln.« Seine Silhouette tat sich wie ein Schatten vor den Flammen ab. Nur vereinzelt zuckten die Funken an ihm vorbei, dass man einige aschblonde Haarsträhnen erkennen konnte. Der Raum lag fast komplett dunkel.
»Wie?«
»Ich werde mich dazu erstmal noch nicht äußern, bis ich etwas mit Sicherheit weiß.«
Vor den Fenstern pfiff der Wind, rüttelte am Glas und schien sich Zutritt zu ihrem angeregten Gespräch verschaffen zu wollen. Es war eine willkommene Ablenkung zu der sich zuziehenden Gefühlslage.
Caden senkte den Blick, als Chase noch hinzufügte: »Gibt es noch etwas, was du zu erzählen hast, bevor du mir wieder so dazwischengrätscht, wenn ich dich rausschicken will?«
»Wir haben ein Kunstwerk mit Da Chau-Farbe aus dem Haus mitgenommen. Zusätzlich einige Briefe und Bilder... Ich weiß nicht, ob Dolunay noch etwas-«
»Habt ihr gut gemacht. Jetzt lass mich in Ruhe. Verkauft das Bild und schiebt mir zu morgen Früh die Briefe unter der Tür durch.«
Caden erhob sich mit einem Nicken, im selben Moment, als hinter ihm die besagte Tür aufging. Eine junge Frau stand in ihr, begegnete seinem Blick, riss die Lider auf und ließ ein vernehmbares "Oh" entweichen, bevor sie einige Schritte zurückstolperte.
»Schon gut«, murmelte Chase und nickte in die Richtung, wo seine kleine Schlafkammer hinter einem Vorhang verborgen lag. »Du kannst schon vorgehen, ich komme gleich.«
Den schockierten Blick nicht verbergend, kehrte Caden seinem Anführer den Rücken zu... Jedoch nicht, ohne der Frau noch ein höfliches Wort zum angenehmen Schlaf mitzuteilen.
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