Kapitel 18;2 - Eiskalte Willkür
Eos wippte auf dem Stuhl, betrachtete ihre Tante.
Die Frau hatte das Gesicht zerknautscht, den Kopf in den Nacken gelegt. Einigen zischenden Lauten folgten klarere Worte: »Du hättest mich nicht rausholen sollen.«
»Hättest du dich lieber foltern und abschlachten lassen? Hätten wir das wissentlich gestatten sollen? Zusehen, wie man dich umbringt? Wäre dir das lieber gewesen?«
»Ja, Eos. Was musstest du tun, um mich rauszukriegen? Deine Seele verkaufen?«
»Informationen«, war ihre einzige Antwort. Sie stand auf, um unter der Treppe die Kisten mit Früchten zu durchsuchen. »Ich musste ihnen nur Informationen geben.«
»Du hättest nicht-« Die Nachtschwärmerin kaute auf ihrer Lippe, fasste an ihren abgebrochenen Hörnern entlang, als wolle sie sichergehen, dass alles gleichgeblieben war. »Das war dumm von dir. Überaus dumm.«
»Vielleicht war es dumm, aber menschlich.« Eos griff sich einen Apfel, polierte ihn an ihrer Bluse. Eine Weile starrte sie nur das dunkle Holz der Wand an, überlegte, wir sie ihre nächste Frage stellen sollte. »Haben sie dich wenigstens... Haben sie dich gut behandelt?«
Ihre Tante hatte einige wunde Stellen, war druckempfindlicher als sonst, wirkte verschreckt... Es war eine überflüssige Frage.
Doch Eos musste es wissen.
Wenn man jemanden ihrer Familie verletzte, würde sie nicht nur weinen, sondern gefährlich werden.
»Ich weiß nicht, was du unter gut definierst. Man hat mich weitestgehend allein gelassen, in Ruhe... Sonderlich angenehm war es dennoch nicht.« Ihr Lächeln war abgekämpft, fast schon falsch auf ihrem Gesicht. Sie rieb sich die Augen. »Daher entschuldige, aber ich werde jetzt erstmal schlafen gehen.«
»Vorher beantworte mir noch, wie du auf diese Gruppe überhaupt gestoßen bist. Wie kamst du auf die Idee, dich diesen Leuten anzuschließen? Erzählt hast du's uns bis heute nicht.« Die junge Frau verschwand in der Küche, um sich ein Messer zu holen.
»Eos. Es ist besser, wenn du nichts darüber weißt.«
Diese spannte den Kiefer an. »Verurteilst du mich etwa dafür, dass ich dich vor dem Tod gerettet habe?«
»Verurteilen ist das falsche Wort, Schatz. Ich weiß nur, wie riskant das war. Du hättest nicht-« Sie seufzte, stützte sich auf der Lehne des Stuhls auf. »Du hättest es schlichtweg lassen sollen. Ich wäre nicht der größte Verlust.«
»Eben nicht«, fuhr Eos dazwischen. Erste Tränen ließen ihr Sichtfeld verschwimmen und sie musste sich anstrengen, damit ihre Tante diese Gefühle nicht hören konnte. »Meinst du ernsthaft, dass ich erst Scarlett und dann dich verlieren will?«
Eine Weile Stille.
Dann: »Ich verstehe. Was musstest du genau sagen, damit ich gehen darf? Sie würden mich nicht einfach freilassen, wenn du ihnen keine Hilfe wärst. Sie hatten zwar keine Verwendung für mich, weil ich ohnehin — offensichtlich — blind bin, aber... Sie hätten mich umso schneller loswerden können.«
»Es war eine faire Vereinbarung. Und ich kann mich darauf verlassen. Es ist besser, wenn du nicht mehr weißt.« Sie schluckte ein Wimmern herunter, als ihre Tante die Augenbrauen hob.
Doch die Frau wandte sich schließlich ab, gähnte, bewegte sich die Treppe aufwärts.
Eos rief ihr hinterher: »Sei vorsichtig, Mama hat einen Kaktus in den Flur gestellt.«
»Will deine Mutter mich jetzt auch noch quälen, oder was?«
So sehr die Stimme der Nachtschwärmerin auch im Scherz verzerrt war, war Eos nicht nach Lachen zumute.
Stattdessen lehnte sie sich zurück, rammte ihre Fingernägel in den Apfel und gab ein tiefes Brummen von sich — als könne sie sich somit von ihrem Frust befreien.
Sie hatte nicht falsch gehandelt; das wusste sie.
Sie hatte sich selbst, ihre Familie — ihre Tante — beschützt.
Und die Cruoren wollten nichts von Chase Harding. Sie interessierten sich nicht für ihn. Warum sich daher sorgen?
Je länger Eos an der Wand stand und vor sich in die Leere starrte, desto mehr Fragen jagten durch ihren Kopf. Jedes Wort ihrer Tante hämmerte in ihrem Verstand. Aus dem Stolz, sie gerettet zu haben, war zu schnell Scham und Schuldgefühl geworden.
Eine furchtbare Qual; sie hatte so viel riskiert und niemand wusste zu schätzen, was sie getan hatte. Niemanden außer ihrer Familie konnte sie es erzählen. Ihre Freunde hatte sie verraten.
Was, wenn Harding hörte, dass sie sich als Spion verkauft hatte? Würde er sie umbringen? Was würden die anderen über sie denken?
Nein. Mit solchen Überlegungen durfte sie sich nicht aufhalten.
Eine Notwendigkeit war ihre Tat gewesen. Sie musste ihre Tante retten. Ihre Familie war klein; zu ihrem Vater hatte sie spärlich Kontakt und alle anderen hatte sie längst verloren.
Und Scarlett...
Eos lächelte matt. Sie war nicht tot und doch verkrampfte sich ihr Herz in der Brust. Pure Schmerzen, reine Pein.
Die Stadt war ihrer Familie schon immer ungnädig gewesen.
Vom Untergang des Anwesens ihrer Großeltern, ein Brand in ihrem ersten Haus, die Trennung ihrer Eltern.
Die Stadt Brus war so düster wie ihre Einwohner.
Besonders Hardings Gruppe war ein Beispiel für verlorene Seelen. Eos hatte sich früh zu ihm gesellt, war durch ihren Vater auf ihn gestoßen.
Damals wollte sie Bäcker werden, doch ihre Mutter hatte ihr eingebläut, mehr aus dem Wissen und der Schulbildung zu machen, die sie erhalten hatte. In Hardings Gruppe erhielt sie viel Lohn, doch ebenso war Eos' Moral verdorben.
Und ihre Mutter wusste nichts von alldem.
Harding selbst war ein doppelgesichtiger Mensch. Seine Regale waren gefüllt mit Zähnen, Phiolen mit Blut, Knochen. Eine makabere Angewohnheit, die Überbleibsel seiner Opfer zu sammeln. Und nahezu wahllos erschien es. Er bezeichnete es als Andenken an jene, die wegen ihm sein Leben gelassen hatten.
Er wollte sie nicht vergessen.
Das, was Eos damals abschreckend fand, verstand sie nun.
Dolunay war eine Aart, ohne die Fähigkeiten einer solchen. Sie sang nicht, spielte keine Instrumente, zeichnete nicht. Sie hielt sich selbst für ein Monster, versuchte daher ihre Schuld mit Ritualen aufzuwiegen.
Kenga war Wachmann und Mitglied einer kriminellen Organisation zugleich. In seiner Freizeit half er alten Menschen und sprach ständig darüber. Er war das beste Beispiel für eine gute Person mit düsterer Kehrseite.
Caden hatte nach dem Tod seiner Mutter keine Ruhe gefunden, war in der Stadt herumgelaufen. Die Angestellten hatten mit dem Kind keine ruhige Minute. Er hatte erst seine Mitte wiedergefunden, als er dieses kleine Mädchen im Armenviertel getroffen hatte — seine Schwester. Gerettet hatte er sie — ihre Entführer umgebracht.
Je länger Eos nachdachte, desto weniger fühlte sie sich schuldig.
Sie alle waren gute Wesen mit dunkler Vergangenheit.
Und Eos hatte sich nun von der Dunkelheit abgewandt um den Cruoren zu helfen.
Dabei war sie nur ihren Freunden in den Rücken gefallen...
Was hatte sie sich angetan?
Sie öffnete die Haustür, zog sich nur halbherzig an, schloss nicht einmal ihren Mantel.
Sie wollte sich von der Welt schlucken lassen. Die Welt, in der sich der Winter näherte. Frost hing in der Luft; jeder Atemzug wurde sichtbar.
Dieses Jahr war der Herbst kurz. Der Winter würde umso länger werden. Lang und hart, wenn man dem glauben konnte, was Experten angaben.
Das angespannte Kribbeln von Unbehagen hangelte sich an ihrem Rücken aufwärts. Der Wind pfiff um die Ecken und peitschte ihr ins Gesicht.
Brus schien fremd. Die vertrauten Fugen im Gestein wirkten nun, als verurteilten sie sie.
Die Nachtschwärmerin, die ihrer kriminellen Gruppe in den Rücken gefallen war.
War es tatsächlich so schändlich? Harding war ein gefährlicher Mann. Die Cruoren waren jene, die die Stadt vor seinen Machenschaften bewahrten.
Ahnungslos — ob ein Fluchtgefühl, oder Bewegungsdrang sie trieb — begab sie sich auf die offenen Plätze.
Die Menschen waren gesichtlos, hatten alle den selben monotonen Ausdruck auf dem Gesicht. Niemand fühlte, was ihren Körper einnahm. Niemand von ihnen hatte eine solche Schuld und so viel Schmerz, wie Eos.
Eindrücke prallten auf sie; mit jedem wurde sie weniger ansprechbar. Ihr Körper gehorchte weniger ihren Befehlen, als mehr dem stumpfen Impuls steter Beweglichkeit. Mit jeder Person, die ihr begegnete, brodelte ihr Blut.
Nicht einmal die Kälte vermochte sie aufzuwecken.
Der späte Herbst mit seinen schwachen Farben trübte auch das letzte Leben in der plötzlich seelenlos erscheinen Stadt.
Für Scarlett tat sie es. Immerhin wollte ihre Freundin aus Hardings Gruppe aussteigen. Sie wusste, dass Chase aufgehalten werden musste.
Eos sah sich um, als ihr Verstand klarer wurde.
Zugemauerte Hinterausgänge muteten fast schon wie Portale zu einer anderen Welt an und die Luft schmeckte nach feuchtem Laub. Alles war verdorben, wohin man auch blickte. Umgestoßene Holzkarren, Spielzeug in der Ecke, einige verdächtige Regungen hinter einem, die man lieber nicht hintergfragen wollte... Und alle Lebewesen, die sich nach draußen wagten.
Ausgerechnet ein solch trüber Tag sollte es sein, der ihre Schuldgefühle zum Ausbruch brachte.
Ihr Weg war so unsicher, wie zielsrebig. Sie suchte nichts und doch hatte sie direkt die Straße angepeilt.
Sie folgte schlichtweg den Mustern im Gestein, die wie Wegweiser durch die Stadt führten.
Erst nach Minuten wurde sie langsamer, ließ sich schließlich auf einer Bank sinken.
Einige Cruoren liefen durch die Gasse, sie wiesen Wachmänner an, auszuscheren.
Eos sah sich um. Fuhrwagen und Kisten wiesen darauf hin, dass die Menschen sich vorbereiteten, die Stadt zu verlassen, wenn sie es mussten.
Mochte es an der Anwesenheit der Cruoren liegen, doch am heuten Abend wirkte Brus finsterer als sonst. Diese dünnen Gestalten mit den unmenschlichen Gesichtszügen — die wie Masken keinerlei Emotionen entbehrten, sondern eher flache Scheiben mit Augen darstellten... Sie hatten schlichtweg eine Ausstrahlung, die wie lebendige Gefahr war.
Brus würde untergehen. Das waren die Worte des Priesters gewesen. Er schien recht zu behalten.
Die Ausfälle an der Grenze, die man nur mit Kerzen überleben konnte, die Rebellionen in kleineren Gruppen, das Verschwinden der Formwandler...
Eos riss die Augen auf, als ihr einfiel, was der Priester noch gesagt hatte:
Einer ihrer Gruppe war ein Verräter. Und dieser Verräter war sie.
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